1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

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Fünfundzwanzigster Oktober 1989

Während die Regierung Krenz offiziell eine Politik des „Dialogs“ verkündet, ist hinter den Kulissen die Vorstellung von gewaltsamer Beendigung der Demonstrationen längst nicht ad acta gelegt. Erich Mielke weist erneut die „erhöhte Kampfbereitschaft“ und das Tragen von Waffen an.

Mit der angekündigten „Dialogpolitik“ versucht die Regierung Krenz, dem immer sichtbarer werdenden Volkszorn ein Ventil zu geben. Sie macht allerdings den Fehler, die Bedingungen dieses „Dialoges“ allein festlegen zu wollen. So gingen die Funktionäre nicht in die Kirchen, um mit den Menschen zu sprechen, sondern luden zu Gesprächen in große Säle ein, bei denen viel örtliche Politikprominenz auf dem Podium saß und die Claqueure im Saal verteilt waren. Bestimmte Themen, wie die Notwendigkeit von Reformen innerhalb der Partei oder die Aktivitäten der Staatssicherheit, sollten nicht angesprochen werden. Das Konzept ging nicht auf. Die Menschen kamen zu Tausenden und bestimmten, worüber auf den Veranstaltungen geredet wurde. Vielerorts wurden Rücktrittsforderungen laut.

Selbst die als Claqueure bestellten SED-Mitglieder fielen immer öfter aus der ihnen zugedachten Rolle und stellten kritische Fragen.

Wie machtlos die SED den Ereignissen bereits gegenübersteht, zeigt sich am Abend in Neubrandenburg. Nach einem Friedensgebet in der Johanniskirche ziehen etwa 20.000 Demonstranten in einem „Marsch der Hoffnung“ zum Markt. Dort treffen sie auf eine SED-Gegendemonstration unter Bezirkschef Johannes Chemnitzer. In seiner Rede lässt sich der SED-Funktionär zu dem Satz hinreißen: „Wenn ihr nicht ruhig seid, können wir auch anders.“ Er wird ausgelacht. Niemand lässt sich mehr einschüchtern.

Auch in Jena, Greifswald und Halberstadt gehen die Menschen auf die Straße.

 

In Sofia tritt die im April gegründete Umweltschutzvereinigung Ekoglasnost zum ersten Mal medienwirksam an die Öffentlichkeit. Am Rande des ersten KSZE-Treffens zum Umweltschutz in der bulgarischen Hauptstadt fordern westliche Diplomaten die offizielle Anerkennung der neu gegründeten Organisation. Das nutzen die Aktivisten, indem sie auf einer improvisierten Pressekonferenz vor ausländischen Journalisten erklären, dass sie ihre Tätigkeit als Teil der breiten europäischen Bewegung für Frieden, Menschenrechte, Freiheit und soziale Gerechtigkeit betrachten.

Damit hat sich die Gruppe öffentlich als Opposition bekannt.

 

Sechsundzwanzigster Oktober 1989

Der Dialog zwischen SED-Funktionären und Bürgern in Dresden wird erstmals im DDR-Fernsehen übertragen. Walter Kempowski sitzt in Nartum vor dem Bildschirm und findet die Veranstaltung „saft- und kraftlos“. „Anstatt die Leute nun an der Krawatte zu packen, laufen sie umeinander herum. Nichts Konkretes wird gesagt.“ Damit hat Kempowski

nur zum Teil Recht. Vor den Kameras produzieren sich oft Kirchenvertreter, die es gewohnt sind, vor vielen Leuten zu sprechen. Natürlich formulieren sie vorsichtig, weil sie sich wie auf dünnem Eis fühlen. Außerdem will die Kirchenleitung den Gesprächsfaden zur SED keinesfalls abreißen lassen. Also wird alles vermieden, was „provokativ“ wirken könnte.

Andere sind weniger zurückhaltend. Vertreter der Gruppe der 20 fordern bei ihrem ersten Auftritt vor der Stadtverordnetenversammlung von Dresden freie Wahlen.

 

In Halle, wo keine Fernsehkameras dabei sind, verläuft die Dialog-Veranstaltung ganz und gar nicht nach den Wünschen der SED. Im Saal befinden sich 1.000 Menschen, vor dem Gebäude verfolgen weitere 5.000 die Debatte, die mit Lautsprechern übertragen wird. Die Oppositionelle Kathrin Eigenfeld fordert unter tosendem Beifall der Versammelten rechtliche Rahmenbedingungen für den Dialog, ein Ende der Bespitzelung durch die Staatssicherheit, die Presse-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit sowie einen Gewaltverzicht der Staatsorgane.

 

In Berlin empfängt Bezirksparteichef Günter Schabowski erstmals die Initiatoren des Neuen Forums: Bärbel Bohley, Jens Reich und Sebastian Pflugbeil. Das Gespräch habe in einer „konkreten und entspannten Atmosphäre“ stattgefunden, meldet ADN anschließend. Was „konkret“ besprochen wurde, ließ die Nachrichtenagentur nicht verlauten.

Der Ministerrat glaubt die Lage entschärfen zu können, indem er Sofortmaßnahmen zur besseren Versorgung der Bevölkerung ankündigt. Dafür soll es zusätzliche Importe von Lebensmitteln und Konsumgütern geben.

 

In seinem ersten Telefonat mit Bundeskanzler Helmut Kohl fordert Egon Krenz die „Respektierung der DDR-Staatsbürgerschaft“.

 

Siebenundzwanzigster Oktober 1989

Nachdem bekannt geworden ist, dass Bärbel Bohley den ausgebürgerten Liedermacher Wolf Biermann in die DDR eingeladen hat, startet das Neue Deutschland wieder einmal eine Leserbriefkampagne. „Welches Recht hat Frau Bohley, so etwas in die DDR einzuladen?“, artikuliert sich die Empörung. Biermann, der auf einer für den 4. November geplanten Großdemonstration in Berlin singen soll, revanchiert sich auf seine Weise. Er verspottet in einem Gedicht die„ verdorbenen Greise“, denen „kein Aas“ mehr glaubt. Es zähle nur noch „die gute Tat“ bringt er es treffend auf den Punkt.

 

Zu guten Taten werden die verdorbenen Greise durch die Ereignisse regelrecht gezwungen. Wegen massiver Streikdrohungen werden die am 3. Oktober verhängten Reisebeschränkungen in die Tschechoslowakei aufgehoben. Damit ist die Abriegelung der DDR durchbrochen. Außerdem erreicht der Druck der Straße eine Amnestie für alle wegen Republikflucht Verurteilten und für die verurteilten Demonstranten. Diese Maßnahmen führen zur Verwirrung bei den Sicherheitsorganen. Wozu noch Verhaftungen vornehmen, wenn die Übeltäter so schnell wieder freikommen? Was als Befreiungsschlag gedacht ist, trägt zum massiven Autoritätsverlust der Regierung Krenz bei, vor allem in den eigenen Reihen.

 

Die Demonstrationen haben nun endgültig die Provinz erreicht: Güstrow, Lauchhammer, Saalfeld, Großräschen.

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