1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

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Einundzwanzigster Oktober 1989

Kempowski notiert in seinem Tagebuch: „Krenz benimmt sich wie ein schauspielernder Arzt, der dem Patienten zuredet, es sei doch gar nicht so schlimm.“

Die „Patienten“ gehen im ganzen Land erneut auf die Straße. Allein in Plauen sind es 30.000, die für freie Wahlen, Reise- und Meinungsfreiheit demonstrieren. In der Woche vom 16. bis zum 22. Oktober muss das Ministerium für Staatssicherheit 24 Demonstrationen mit insgesamt 140.000 Teilnehmern registrieren. So etwas hat es bisher in keinem anderen sozialistischen Land gegeben.

In Berlin bildet sich eine Menschenkette vom Palast der Republik bis zum Polizeipräsidium in der Keibelstraße. Die Teilnehmer fordern die Entlassung aller am 7. und 8. Oktober in der DDR Inhaftierten. Wenig beeindruckt zeigen sich die Demonstranten von Politbüromitglied Günter Schabowski und Oberbürgermeister Erhard Krack, die an der Volkskammer versuchen, sich der Diskussion zu stellen. Die Menschen wollen nicht reden, sondern Taten sehen.

Fast alle Demonstrationen des heutigen Tages gingen von einem Friedensgebet oder einer Diskussionsveranstaltung aus. Manchmal aber auch von einem Jugendtanz. Ausnahmslos alle kamen durch sogenannte „Flüsterpropaganda“ zustande. Außerdem muss das MfS feststellen, dass selbst die „gesellschaftlichen Kräfte“, die von der SED geschickt wurden, um auf den Verlauf der Demonstration Einfluss zu nehmen, den oppositionellen Rednern Beifall spenden.

 

In den Westmedien wird berichtet, dass nunmehr 60.000 Flüchtlinge aus der DDR in der BRD angekommen seien.

 

Zweiundzwanzigster Oktober 1989

Es ist Sonntag. Aber die Revolution macht keine Pause. In vielen Städten des Landes wird auch heute demonstriert. In anderen kommen die Menschen zu Gottesdiensten und anschließenden Gesprächen zusammen.

Die Westzeitungen vermelden, dass die Bundesregierung bald mit Krenz sprechen wolle. Auch Michail Gorbatschow hat das Bedürfnis nach persönlichem Austausch. Er lädt Krenz zu einem Gespräch nach Moskau ein.

 

Im Westfernsehen wettert der Schriftsteller Alfred Kuby im Gespräch mit Günter Gaus gegen eine mögliche Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten. Deutschland könne ihm gar nicht genug geteilt sein. Damit meint er aber nicht den Föderalismus, dem Deutschland tatsächlich viel Gutes verdankt. Er will den Status quo zementieren. Die Wünsche der DDR-Bürger interessieren ihn nicht. So wie Kuby denken viele Linksintellektuelle.

 

Der Sprecher der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung Charta 77 bekräftigt in einem Interview mit dem Sender ARD die Forderung nach demokratischen Reformen auch in der ČSSR.

In Ungarn findet die 2. Landeskonferenz des Ungarischen Demokratischen Forums statt, das bereits 20.000 Mitglieder zählt. Die Delegierten beschließen die Umwandlung des Forums in eine parteiähnliche Organisation. Sie fordern Neutralität sowie eine umfangreiche Reprivatisierung von Industrie und Landwirtschaft.

 

Dreiundzwanzigster Oktober 1989

In der beginnenden Woche wird die Staatssicherheit noch beeindruckendere Zahlen verbuchen müssen: 140 Demonstrationen mit etwa 540.000 Teilnehmern.

Für die Demonstranten sind diese Aktivitäten keineswegs gefahrlos. Nach Angaben des Ministeriums für Staatssicherheit waren bis zum 10. Oktober 3.318 Menschen festgenommen worden. Fast alle sind dabei misshandelt worden. Gegen mehr als 600 Personen wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Bis Ende Oktober mussten Demonstrationsteilnehmer mit Festnahmen, Verhören, Schlägen, beruflichen Zurückstufungen und anderen Schikanen rechnen.

Zu Gewalttaten seitens der Demonstranten kam es, trotz der hohen Spannung, unter der alle Demonstrationen stattfanden, kaum. Teilnehmer, die alkoholisiert kamen und durch Flaschenwürfe oder Verbalattacken auffällig wurden, sind oft als Stasimitarbeiter oder „gesellschaftliche Kräfte“ entlarvt worden.

 

In Berlin findet die erste Pressekonferenz der Opposition statt. Bis zum 22. Oktober hatte das Berliner Stadtjugendpfarramt 150 Zeugenaussagen von Opfern der Prügeleien am 7. und 8. Oktober in Berlin gesammelt. Die sollen nun der Presse vorgestellt werden. Bis zum Schluss versuchte Konsistorialpräsident Stolpe, diese Pressekonferenz zu verhindern oder wenigstens um 48 Stunden zu verschieben.

Die bevorstehende Wahl von Egon Krenz zum Staatsoberhaupt sollte nicht beeinträchtigt werden. Aber Stolpes Einfluss auf die Opposition war kaum noch vorhanden. Die Pressekonferenz fand wie vorgesehen statt und wurde zu einem Erfolg. Der 1. Vize-Generalstaatsanwalt von Berlin Klaus Voß sieht sich zu dem Zugeständnis gezwungen, dass alle Vorwürfe „unvoreingenommen und umfassend“ geprüft werden würden.

 

Erstmals berichtet das DDR-Fernsehen von den Massendemonstrationen. Aber als Reaktion auf die Veröffentlichung versuchen die SED-Medien, den Demonstranten Gewalttätigkeiten anzudichten. Leider bekommen sie dabei Hilfe von Kulturschaffenden, wie dem Schriftsteller Christoph Hein. Hein, der einerseits Leipzig zur Heldenstadt erklärt hatte, wendet sich gegen „kriminelle Ausschreitungen“ von Demonstranten und liefert so der SED-Propaganda eine Steilvorlage. Außerdem verlangt der Schriftsteller, dass ehemalige DDR-Ärzte aus ihren West-Praxen entfernt werden sollten, denn sie hätten „keine ethischen Gründe zum Verlassen der DDR“ gehabt. Damit offenbart er ein mangelndes Freiheitsverständnis. Er sieht in den Bürgern immer noch Untertanen ihres Systems, dem sie sich nicht entziehen dürfen.

Walter Kempowski, der Heins Worte in seinem Tagebuch „Alkor“ festgehalten hat, nennt das eine „eigenartige Verbiesterung“. Diese Art der Verbiesterung sollte den Vereinigungsprozess begleiten.

 

Die Ungarn sind da freier. Ungarns Parlamentspräsident erklärt das Land am Jahrestag des Beginns des Volksaufstandes von 1956 zur Republik.

 

Vierundzwanzigster Oktober 1989

Endlich kommt die gesellschaftliche Veränderung der letzten Monate auch in den Medien der DDR an. Das Fernsehen überträgt ein Podiumsgespräch von Künstlern, Bürgerrechtlern und Parteifunktionären über die notwendige Umgestaltung der DDR. Die Meinungen liegen so weit auseinander, dass vor allem die Uneinsichtigkeit der Funktionäre sichtbar wird. Der vielbeschworene Dialog findet nicht statt.

Egon Krenz wird von der Volkskammer, die so häufig zusammentritt wie nie zuvor, zum Staatsratsvorsitzenden gewählt. Im Vorfeld hatte sich Politbüromitglied Schabowski in einer Rede beschwert, dass es seinem Freund Stolpe nicht gelungen war, die Pressekonferenz der Opposition vom Vortag zu verhindern. Ein Techniker schneidet diese Rede heimlich mit und stellt sie der Opposition zur Verfügung. Sie wird in den nächsten Tagen in der Gethsemanekirche immer wieder zu hören sein, als Zeichen, wie wenig man den Dialog-Beteuerungen der Krenz-Truppe glauben kann.

Krenz, der, einmalig in der Geschichte der DDR, 26 Gegenstimmen und ebenso viele Enthaltungen bei seiner Wahl kassiert hatte, wendet sich sofort mit einem Fernschreiben an alle Bezirksparteisekretäre und beschwört sie, alles zu tun, um die Demonstrationen einzudämmen. Im Fernsehen zeigt er sich gern an der Seite von NVA-Generälen. Wenn das eine Drohung sein soll, geht sie weitgehend ins Leere. Während Krenz mit der Armeespitze posiert, bittet ein Soldat an der Gebetswand der Leipziger Thomaskirche um die Gebete der Demonstranten: „Auch wir Soldaten wollen keine Gewalt. Weil auch wir Angst haben.“

In Dresden, Plauen und anderen Orten ist es schon zu Befehlsverweigerungen gekommen.

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