1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

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Achtzehnter Oktober 1989

Die ganze Welt spricht über den Machtwechsel in der DDR. Auch andernorts hat man die zustimmende Reaktion des neuen Generalsekretärs auf das chinesische Massaker noch im Ohr. Die Erwartungen sind dementsprechend niedrig. Die westliche Presse reagiert zurückhaltend bis kritisch. Bundeskanzler Helmut Kohl und Oppositionsführer Hans-Jochen Vogel begrüßen mit eignen Erklärungen die Ablösung Honeckers und fordern schnelle Schritte zur Demokratisierung der DDR. Das will der neue Generalsekretär unter Beweis stellen. Krenz räumt ein, dass es erhebliche Störungen im Verhältnis zwischen Parteiführung und Volk gibt. Er gibt zu, dass die Wirtschaft Mängel aufweist. Er kündigt ein neues Reisegesetz an und einen „Dialog“. Allerdings mit dem Ziel, den „Sozialismus in der DDR weiter auszubauen“. Krenz ist immer noch fest überzeugt: „Der Sozialismus auf deutschem Boden steht nicht zur Disposition.“

Die Opposition kann er nicht überzeugen. Bärbel Bohley als ungekürte Sprecherin hält ihm seine politische Verantwortung für die Diktatur vor. Andere äußern sich ähnlich.

 

Das Neue Deutschland berichtet von einem Besuch einer NVA-Delegation bei den Sandinisten Nicaraguas und von einer „Diskussionsrunde mit Vertrauensleuten des FDGB“. Von dem entscheidenden Vertrauensvotum im Politbüro erfährt die Öffentlichkeit noch nichts.

 

Neunzehnter Oktober 1989

Die Opposition behält mit ihrem Misstrauen gegenüber Egon Krenz recht. Zeitgleich zu seinen salbungsvollen Worten war von der SED ein Papier herausgegeben worden, in dem behauptet wurde, das Neue Forum betriebe das „Geschäft der Feinde des Sozialismus“. Auch die anderen Gruppen wurden als Konterrevolutionäre bezeichnet, die von westlichen Politikern „jede materielle und finanzielle Unterstützung“ bekämen.

Genau das war zum Leidwesen der Opposition aber gar nicht der Fall. Das Pamphlet zeigt nur, wie weit die SED von der Realität entfernt war.

In Halle werden Vertreter des Neuen Forums in Polizeigewahrsam genommen. Bei den Vernehmungen wird ihnen jede Kontaktaufnahme zu den Leipziger Oppositionellen untersagt. Auch das hat sich unter dem neuen Parteichef nicht geändert.

 

In Zittau, einer Kreisstadt im Dreiländereck, in der sich eine Offiziersschule der NVA befindet, nehmen 20.000 Menschen an einer Veranstaltung des Neuen Forums teil. Da sich die Johanniskirche, die als Versammlungsort ausgewählt worden war, als zu klein erwies, um diesen Ansturm zu fassen, weicht man erst auf andere Kirchen aus. Als das auch nicht reicht, genehmigt der Rat der Stadt kurzfristig eine Lautsprecherübertragung der Veranstaltung auf die Straße.

 

Zwanzigster Oktober 1989

Bei den Versuchen, seine frisch erlangte Macht zu festigen, ist Egon Krenz die Leitung der Evangelischen Kirche behilflich. Die DDR-Bürger sehen im Fernsehen, wie die Bischöfe Werner Leich und Christoph Demke, aber auch Konsistorialpräsident Manfred Stolpe, sich im Park des Jagdschlosses Hubertusstock demonstrativ im Gespräch mit dem designierten neuen Staatschef ablichten lassen. Es sieht so aus, als würde die Evangelische Kirche voll hinter Krenz stehen. Dabei war der Termin ursprünglich als Krisentreffen zwischen den Kirchenvertretern und Honecker geplant gewesen. Auch Krenz drängt die Kirchenmänner, auf ein Ende der Demonstrationen hinzuwirken. Die sind nur zu gern bereit. Sie lassen sich von der Presse zitieren mit den Worten, die Bürger sollten den beginnenden Dialog nicht „durch unbedachte Handlungen stören“ und an der „Weiterentwicklung der sozialistischen Demokratie mitwirken“.

Bei den Demonstranten verhallt dieser Appell fast ungehört. Sie haben keine Lust auf eine Demokratisierung „von oben“. Sie haben die Freude entdeckt, die es bereitet, wenn man sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt. Ein westlicher Kirchenvertreter kommt Krenz ebenfalls indirekt zu Hilfe. Bischof Heinrich Albertz diskreditiert DDR-Ausreisewillige arrogant als „angepasste Aufsteiger“. Als wäre es moralisch verwerflich, nicht in Fremdbestimmung verharren zu wollen.

In Gotha zeigen etwa 6.000 Menschen, wie wenig Krenz sie überzeugt. In Dresden sind es 50.000, die unüberhörbar freie Wahlen fordern.

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