1989- Tagebuch der Friedlichen Revolution

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Dreizehnter Oktober 1989

Partei- und Staatschef Erich Honecker gibt noch immer nicht auf. Er trifft sich mit den Chefs der „befreundeten“ Blockparteien, um sie als Verbündete für ein gewaltsames Beenden der Demonstrationen zu gewinnen. Nur einer wagt, ihm zu widersprechen. Der Vorsitzende der Liberalen (LDPD), Manfred Gerlach, hatte den Mut, Honecker ins Gesicht zu sagen, was er an diesem Tag in der LDPD-Zeitung Der Morgen bereits veröffentlicht hatte: Unter Berufung auf den sowjetischen Parteichef Gorbatschow bestritt er, dass eine „Partei im Sozialismus a priori die politische Wahrheit“ für sich reklamieren kann. Deshalb müsse es zum Dialog kommen, in den auch die Bürgerbewegung einzubeziehen sei.

Für diese Worte, die freilich nicht viel mehr bedeuteten, als den Versuch Gerlachs, die Bürgerbewegung durch Integration zu neutralisieren, wurde der LDPD-Chef kurzzeitig zum Hoffnungsträger der Demonstranten.

 

Die Titelzeile des Neuen Deutschland klingt wieder mal wie eine Parodie auf die Aktivitäten des SED-Chefs: „Ideenreich und tatkräftig arbeiten wir für das Wohl des Volkes“.

 

Weniger, weil sie am Wohl des Volkes interessiert, sondern weil sie vom Volk zu diesem Zugeständnis gezwungen worden war, gibt die Generalstaatsanwaltschaft am Nachmittag bekannt, dass bis auf elf Personen, gegen die noch ermittelt werde, alle am 7. Oktober festgenommenen Demonstranten wieder auf freien Fuß gesetzt worden seien.

 

Bundesaußenminister Genscher bekräftigt auf einem Kongress der Europaunion in Hamburg die Bereitschaft der Bundesregierung zu einem Dialog mit allen politischen Kräften in der DDR.

 

Vierzehnter Oktober 1989

Weitere tausend Sicherheitskräfte werden nach Leipzig verlegt. Darunter Spezialisten für den Nahkampf. Politbüromitglied Egon Krenz war am Vortag mit den ranghöchsten Stabschefs der Staatssicherheit, der Armee und der Polizei eigens in die Stadt gekommen, um Maßnahmen gegen die nächsten Demonstrationen festzulegen. Der Einsatzbefehl, der auch von Honecker unterschrieben wurde, legte fest, dass „geplante Demonstrationen im Entstehen zu verhindern“ seien. Allerdings solle der aktive Einsatz polizeilicher Mittel nur bei „Gewaltanwendung der Demonstranten“ erfolgen. Kurios ist, dass dieselben Demonstranten in den SED-Blättern als „Keine-Gewalt-Schreihälse“ bezeichnet wurden. Vielleicht wollte die Staatsmacht dafür sorgen, dass ihre Agenten in der Menge der Demonstranten Gewaltausbrüche provozieren. Honecker hatte sogar gefordert, dass zur Abschreckung Panzer durch die Stadt fahren sollten. Das wurde ihm von seinen Genossen aber ausgeredet.

Westliche Medien sollten in Leipzig jedenfalls wieder nicht arbeiten dürfen.

Trotz der martialischen Vorbereitungen in Leipzig gibt es auch andere Zeichen. Es werden etliche Verhaftete freigelassen. Außerdem werden auf Kreisebene öffentliche Diskussionen angekündigt. In Plauen und in Arnstadt demonstrieren wieder tausende Menschen nach dem Friedensgebet.

 

In Berlin findet die erste Landeskonferenz des Neuen Forums statt. Etwa 120 Mitglieder treffen sich unter konspirativen Bedingungen in den Räumen der „Kirche von Unten“ in der Invalidenstraße. Sie diskutieren die Frage, ob sich die Vereinigung eine Parteistruktur geben soll, und entscheiden sich dagegen. Auch auf ein gemeinsames Reformkonzept kann man sich nicht einigen. Stattdessen soll es einen „Offenen Problemkatalog“ geben, der in einem übergreifenden Diskussionsprozess weiter entwickelt werden kann. Mit diesen Beschlüssen hat sich das Neue Forum, das zu diesem Zeitpunkt bereits von 25.000 Menschen unterstützt wurde, selbst seine Wirkungsmöglichkeiten beschnitten.

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