Amoris Laetitia: Wie man Missverständnisse vorprogrammiert

Das Schlimmste was man über Amoris Laetitia sagen kann ist, dass es zu lang ist. Trotzdem ein Lesebefehl für alle, die ernsthaft mitreden wollen.

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Geht’s nicht weit genug oder geht es viel zu weit? Das ist die Frage, die in der „katholischen Szene“ am Wochenende, nach der Veröffentlichung des postsynodalen Schreibens „Amoris Laetitia“ im Raum stand. Wirft der Papst die kirchliche Lehre zu Ehe und Familie über Bord? Oder erweist er sich jetzt doch als sturer Hardliner, der an alte Doktrinen so wenig rühren will wie sein Vorgänger? Öffnet er die Fenster und Türen des Vatikans – und wenn ja, wie weit? Zu weit? Oder konnte er sich gegen die Beharrungskräfte vielleicht nicht durchsetzen in den (für manche Interessengruppen) wesentlichen Fragen? Ich bin durch das Dokument – das direkt zur Einordnung – noch nicht durch, aber in einem Stadium, in dem ich mir zutraue, ein paar Dinge dazu zu schreiben. Und insbesondere ist mir ein Licht aufgegangen, wieso ich bislang in den gängigen Medien noch keine Interpretation angetroffen habe, die ich mit meinen Eindrücken übereinander bringen könnte.

Dabei geht es um die Frage der Orientierung, die man von einem solchen Dokument erwarten könnte. Egal ob konservativ oder progressiv, viele haben auf ein Machtwort des Papstes gesetzt, der wesentliche Aussagen zur Ehelehre oder zu doktrinären Fragen hätte treffen sollen. Der Papst soll sagen, wo vorn ist, damit man sich an diesen Aussagen orientieren, zur Not auch reiben kann. Ob tatsächlich jemand geglaubt hat, dass der Papst an den Grundfesten der Ehelehre rütteln oder das Ehesakrament für Homosexuelle öffnen würde? Manche Kommentare lesen sich in diese Richtung, und machen direkt die beschriebene Erwartungshaltung deutlich. Offenbar wünschen sich selbst diejenigen, die auf eine stärker dezentralisierte Kirche setzen, einen zentralen Freibrief vom Papst so zu agieren, wie sie es sich schon immer gewünscht hätten.

All diese Erwartungshaltungen hat der Papst mit seinem Schreiben enttäuscht! Kritiker werfen ihm nun vor, im „vagen“ geblieben zu sein, sich nicht festlegen zu wollen. Wiederum abhängig von der eigenen Position argwöhnen die einen, der Papst betreibe die „Öffnung“ der Ehelehre, andere unterstellen, er traue sich nicht, alte Zöpfe abzuschneiden. Auch hier ist es wieder eine Frage der Erwartungshaltung, wie man zu solchen Urteilen kommt. Kurz gesagt: Der Papst soll richten, was die Bischöfe untereinander und in der Welt nicht geklärt bekommen. Wenn ich das so schreibe, bewege ich mich natürlich auch mit meinen Steinen im Glashaus. Denn niemand kann wohl von sich behaupten, er gehe völlig unvoreingenommen an die Lektüre eines solchen Schreibens heran, von dem erwartet oder befürchtet wurde, es würde bahnbrechend Neues enthalten. Meine Prämisse ist die der Papsttreue und die, die ich letztens schon von Kardinal Brandmüller zitiert habe: „Ein Widerspruch zwischen einem päpstlichen Dokument und dem Katechismus der Katholischen Kirche ist nicht vorstellbar!“

Und was soll ich sagen: Ich habe keinen solchen Widerspruch, weder in den allgemeinen Teilen, die ich noch nicht ganz durchgearbeitet habe, noch in den „kritischen“ Teilen, die sich mit dem Thema wiederverheirateter Geschiedener oder der Homosexualität beschäftigen, gefunden. Was ich allerdings gefunden habe ist etwas anderes, wobei ich mich gerne bei der Wortwahl Matthias Matusseks bediene, der auf Facebook von „allerschönster Barmherzigkeitspoesie“ spricht. Es geht dem Papst offenbar darum, die „Doktrin“ (eine Wortwahl, die er öfter benutzt) in Übereinstimmung zu bringen mit der Seelsorge, die vermeiden muss, „moralische Gesetze anzuwenden, als seien es Felsblöcke, die man auf das Leben von Menschen wirft“ (aus Nr. 305 des Dokuments). Dabei macht der Papst deutlich, dass er nicht gedenkt, an der Doktrin Abstriche zu machen, jedoch auch sieht, dass die konkreten Situationen so mannigfaltig sind, dass die einfache Anwendung eines doktrinären Schemas dem Menschen nicht gerecht wird, sich diese Situationen aber auch nicht dazu eignen, eine generelle Doktrin daraus abzuleiten.

Da schimmert er wieder durch, der Spagat zwischen Lehre und Seelsorge, den zu überbrücken sich der Papst auf die Fahnen geschrieben hat. Und es verdeutlicht den Charakter des Dokuments, das man als Seelsorge-Leitfaden lesen kann: Es geht um alle Phasen der Ehe und der Familienentwicklung, die im Licht des Glaubens und im Zusammenspiel mit der Kirche betrachtet werden. Der Papst beschreibt zum Beispiel in den Nrn. 90 ff mit Bezug auf den Hymnus des Apostels Paulus (1 Kor 13,4-7) die Liebe in tatsächlich poetischen Worten, scheut sich aber auch nicht, sich zu Themen der Sexualität in der Ehe zu äußern, wie es vorher in dieser Form wohl zuletzt Papst Johannes Paul II. getan hat. Der Papst beschreibt die Rolle der Eheleute, auch in ihrer Funktion als Eltern, die Rolle des familiären Umfelds bishin zur Priestern, Seelsorgern und der Gemeinde, die ein lebendiges Interesse an guten Familien haben sollten. Die Spezial- und Sonderfälle, die Brüche in dem, was man eine ideale Familie oder eine ideale Ehe nennen könnte, stehen erst im Anschluss im Fokus. Trotzdem macht der Papst immer deutlich, dass das Ideal genau das ist: Ein Ideal, dem man sich nur mit der Gnade Gottes in kleineren und größeren Schritte annähern kann. DIE ideale Familie, wie man sie aus der Bibel und dem Katechismus herauslesen könnte, wird man vermutlich höchstens – wenn schon – in der Heiligen Familie finden.

Wenn man so will enthält „Amoris Laetitia“ also eine Art Anleitung, wie man ein gottgemäßes Ehe- und Familienleben gestalten kann, eingedenk der Tatsache, dass die speziellen Bedingungen nie so sein werden, dass man das erreicht, und unter Ergänzung der Instrumente, mit denen Seelsorger und die Kirche als Ganzes Eheleute und Familien dabei – bei der Lebensgestaltung wie in den besonderen Brüchen, die auftreten – unterstützen können und sollten. Man hört schon die Fragen: Ja, aber muss man denn mit den Homosexuellen nicht barmherzig umgehen? Ja, muss man! Und kann man denn den wiederverheirateten Geschiedenen einfach so die Teilnahme an der Eucharistie verweigern? Nein, kann man nicht „einfach so“! Und genau um dieses „nicht einfach so“ geht es in dem Dokument. Es geht um den Weg zur gottgemäßen Familie: Die „Doktrin“ beschreibt, wie sie aussieht, die Pastoral muss die Wege dahin beschreiben und unterstützen – ohne eine Verurteilung derjenigen, die sich auf diesem Weg noch befinden, und vielleicht – möglicherweise auch nur scheinbar – hinter unseren eigenen Schritte zurück bleiben.

Ich werde in den kommenden Tagen sicher noch etwas zu einzelnen Abschnitten des Dokuments schreiben. Aber ich habe schon mal „gespinxt“ und am Ende ein Fazit gefunden, dass zu meinen bisherigen Schlüssen hervorragend passt:

325. Die Worte des Meisters (vgl. Mt 22,30) und die des heiligen Paulus (vgl. 1 Kor 7,29-31) über die Ehe sind – nicht zufällig – in die letzte und endgültige Dimension unseres Lebens eingefügt, die wir wiedergewinnen müssen. Auf diese Weise werden die Eheleute den Sinn des Weges, den sie gehen, erkennen können. Denn, wie wir mehrere Male in diesem Schreiben in Erinnerung gerufen haben, ist keine Familie eine himmlische Wirklichkeit und ein für alle Mal gestaltet, sondern sie verlangt eine fortschreitende Reifung ihrer Liebesfähigkeit. Es besteht ein ständiger Aufruf, der aus der vollkommenen Communio der Dreifaltigkeit, aus der kostbaren Vereinigung zwischen Christus und seiner Kirche, aus jener so schönen Gemeinschaft der Familie von Nazareth und aus der makellosen Geschwisterlichkeit unter den Heiligen des Himmels hervorgeht. Trotzdem erlaubt uns die Betrachtung der noch nicht erreichten Fülle auch, die geschichtliche Wegstrecke, die wir als Familie zurücklegen, zu relativieren, um aufzuhören, von den zwischenmenschlichen Beziehungen eine Vollkommenheit, eine Reinheit der Absichten und eine Kohärenz zu verlangen, zu der wir nur im endgültigen Reich finden können. Es hält uns auch davon ab, jene hart zu richten, die in Situationen großer Schwachheit leben. Alle sind wir aufgerufen, das Streben nach etwas, das über uns selbst und unsere Grenzen hinausgeht, lebendig zu erhalten, und jede Familie muss in diesem ständigen Anreiz leben. Gehen wir voran als Familien, bleiben wir unterwegs! Was uns verheißen ist, ist immer noch mehr. Verzweifeln wir nicht an unseren Begrenztheiten, doch verzichten wir ebenso wenig darauf, nach der Fülle der Liebe und der Communio zu streben, die uns verheißen ist.
(Hervorhebungen durch mich)

Amoris Laetitia ist eine Fundgrube sowohl für Menschen, die sich auf den Weg in die Ehe machen, für Eheleute und Familien sowie für Seelsorger und Priester. Die enthaltenen Anregungen in den Alltag zu überführen ist eine Aufgabe auch für all diese Zielgruppen. Darum gibt es eigentlich bislang nur einen Kritikpunkt an dem Dokument: Es ist so lang, dass die Hemmschwelle mit dem Lesen zu beginnen, recht hoch liegt. Ich höre von Laien wie von Priestern, dass sie eher auf Sekundärliteratur warten, als sich die – je nach Art des Ausdrucks – 200 bis 300 Seiten selbst anzutun. Das allerdings, davon bin ich überzeugt, ist ein Fehler! Es gehört gelesen von jedem, der sich zum Thema Ehe und Familie in der Kirche ein Urteil erlauben will. Sich auf die Analysen anderer zu verlassen – und sei es auf meine – wird nicht den gleichen motivierenden und vor allem erhellenden Effekt haben. Also – an die Leser des PAPSTTREUENBLOGs, auch wenn’s schwer fällt und die Zeit knapp sein sollte: Lesebefehl!

Beitrag zuerst erschienen auf papsttreuerblog.de

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