Positive und negative Freiheit

Wie frei sind Sie?

Freiheit durch Selbstverantwortung ist eine Seite der Medaille. Freiheit zur Mitgestaltung der Gesellschaft die andere. Während um die erste offen gerungen wird, läuft die andere Gefahr unterzugehen.

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Bei Wahlen gibt es eine Gruppierung, die kontinuierlich hinzugewinnt. Es sind dies die Nichtwähler. Meist handelt es sich um Bürger, die in ihrer demokratischen Wahlfreiheit keinen Sinn mehr erkennen. Egal welche Partei man wählt, so ihr Eindruck, am Ende ändert sich ja doch nichts.

Parallel wächst die politische Lethargie in der Bevölkerung. Selbst die Studierenden – einst die politisch aktivste Gruppe in der Gesellschaft – werden immer unpolitischer. Die Medien und Politik haben keine Antwort darauf gefunden. Wie kann es sein, dass einerseits die Menschen in diesem Lande so frei sind wie selten zuvor, andererseits sich ein Gefühl der Hilflosigkeit und Sinnlosigkeit breit macht?

Das Problem könnte in der einseitigen Definition von Freiheit liegen. Sie wird nur um das Individuum herum konzipiert. Die gestalterische Freiheit, auf den Lauf der Gesellschaft aktiv einwirken zu können, wird dagegen immer mehr eingeschränkt und einer kleinen Elite vorbehalten.

Variationen und Grenzen der Freiheit

Nach der französischen Revolution waren die Menschen mit einem neuartigen Problem konfrontiert. Wo endet die Freiheit des einen Menschen, wenn sie auf die Freiheit des anderen trifft? Was bedeutet überhaupt Freiheit und wie frei kann ein Mensch sein.

Für die Philosophen der Aufklärung waren diese Fragen schon lange ein wichtiges Thema, so für Gottfried Wilhelm Leibniz, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und für viele andere.

Positive und negative Freiheit

Eine für die moderne Gesellschaftsbetrachtung interessante Unterscheidung zwischen „negativer Freiheit“ (im Sinne der Freiheit VON etwas) und „positiver Freiheit“ (im Sinne der Freiheit ZU etwas) geht auf den berühmten britisch-jüdisch-russischen Philosophen und Oxford-Professor Isaiah Berlin (1909-1997) zurück.

Er unterschied – ganz praktisch im Alltag verortet – zwischen der Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen, die das eigene Leben und die eigene Selbstverwirklichung einschränken („negative Liberty“ im Sinne von „lasst mich in Ruhe“), und andererseits der Freiheit, aktiv an der Gestaltung seiner gesellschaftlichen und politischen Umwelt mitwirken zu dürfen und zu können, die Leitgedanken mitzuformulieren und die Regierenden wählen zu dürfen („positive Liberty“ and „self-determination“ im Sinne von „ich will mitmachen, mitreden, mitgestalten, mitbestimmen“).

Wichtig ist hierbei, dass die Begriffe der „positiven“ und „negativen“ Freiheit nichts mit einer Wertung im Sinne von „guter“ oder „schlechter“ Freiheit gemein haben.

Missbrauch der „positiven“ Freiheit

Nach Jahrhunderten der Fronknechtschaft und des Feudalismus hat mit der französischen Revolution und allen darauf folgenden Bewegungen sich der Wunsch nach positiver Freiheit Bahn gebrochen. Endlich konnten die Menschen an der Gestaltung der Gesellschaft aktiv teilhaben, ihre Anführer wählen, an der Ausgestaltung der Verfassung mitwirken.

Ideen schossen aus dem Boden. Vom Anarchismus bis zum Kollektivismus, vom Liberalismus bis zum Kommunismus war ein Garten der Vorstellungen und Gesellschaftskonzepte gewachsen. Doch mit der Vielfalt der Vorstellungen wuchsen die Konflikte. Das 19. und 20. Jahrhundert waren geprägt vom Kampf der Ideologien. Jede Gruppe wollte ihre Vorstellungen von der Gesellschaft verwirklichen und anderen aufzwingen.

Der radikale Missbrauch der „positiven“ Freiheit zur Gestaltung der Gesellschaft endete mehrfach in der Negierung der „negativen“ Freiheit. Die Folge war der Totalitarismus. Seine schlimmsten Auswüchse waren der Nationalsozialismus in Deutschland, der Stalinismus in der Sowjetunion und der Maoismus in China. Die Teilhabe an der Gesellschaft war keine Freiheit mehr, sondern zu einem Zwang geworden.

Gegenreaktion: Betonung der „negativen“ Freiheit

Für Philosophen wie Isaiah Berlin, der die kommunistische Revolution in Russland miterlebt hatte und als Zeitzeuge den Faschismus in Europa beobachten konnte, war das Konzept der „positiven“ Freiheit zur Mitgestaltung der Gesellschaft allzu leicht zu missbrauchen.

Für Isaiah Berlin war deshalb die Betonung der „negativen“ Freiheit ein wichtiger Baustein zu einer wirklich freien Gesellschaft. Die Menschen sind nur wirklich frei, wenn sie frei von Zwängen, frei von staatlicher Bevormundung, frei von gesellschaftlichen Verpflichtungen sind. Diese „negative“ Freiheit, das sei noch einmal betont, beschreibt den individuellen Freiraum, in dem man nicht von anderen eingeschränkt wird.

Wenn die Balance verloren geht

Die Betonung der „negativen“ Freiheit in der westlichen Welt hat zu einem hohen Grad der individuellen Freiheit und des Wohlstandes geführt. Einer der stärksten Faktoren für die Betonung dieser Art der Freiheit ist der Einfluss des freien Unternehmertums auf die Gesellschaft.

Die angelsächsischen Länder, insbesondere die Vereinigten Staaten von Amerika, sind die Vorreiter dieser Ausrichtung. „Negative“ Freiheit geht einher mit Individualismus. Die Amerikaner sind stolz auf ihre Verfassung, die sie vor Übergriffen seitens des Staates schützt. Sie dürfen ihre Meinung frei äußern, mancherorts sogar Waffen tragen, dürfen ihre Kinder zu Hause unterrichten, und sie wehren sich leidenschaftlich gegen „Bevormundungen“ aus Washington.

Die Betonung der „negativen“ Freiheit bestimmt den öffentlichen Diskurs in der ganzen westlichen Welt. Es geht um die Individualrechte, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung, unternehmerische Freiheiten, Freiheit des Glaubens, Freiheit zur Bildung und vieles mehr.

Dabei sind zwei unterschiedliche Tendenzen spürbar. Die einen wollen die Spielregeln des Lebens strenger gestalten – zum Schutz des Individuums. Die anderen wollen die Bevormundung durch den Staat möglichst gering halten.

Die „positive“ Freiheit braucht mehr Basisdemokratie und Subsidiarität

Während die Variationen der „negativen“ Freiheit permanenter Bestandteil des öffentlichen Diskurses und der politischen Auseinandersetzung geblieben sind, wird ganz unbemerkt die „positive“ Freiheit ausgedünnt. Basisdemokratische Entscheidungsfindungen gibt es immer seltener. Basisdemokratische Meinungsbildung wird sogar als „Populismus“ abgetan.

Die Staaten der Europäischen Union haben Teile ihrer Souveränität an übergeordnete Institutionen abgegeben. Die Europäischen Union, internationale Abkommen (z.B. NATO), Finanzabkommen (siehe ESM), geheim verhandelte „Freihandelsabkommen“ (aktuell nun TTIP, TiSA, CETA), Expertenkommissionen, internationaler Konzernlobbyismus und mediale Gleichschaltung haben die gestalterischen, kreativen und zukunftsweisenden Mitgestaltungsmöglichkeiten der Bürger eingeschränkt. Die Menschen sind zur Passivität verdammt. Sie dürfen lediglich am Wahltag ihre Kreuzchen machen.

Die Regionen, Kommunen, lokalen Bevölkerungsgruppen und einzelnen Bürger kämpfen nach wie vor, mehr oder weniger erfolgreich, um ihre individuellen Freiräume im Sinne der „negativen“ Freiheit. Doch – fast unbemerkt – haben sie wichtige Elemente ihrer „positiven“ Freiheit längst verloren. Auf den Lauf der Politik und Gesellschaft können sie kaum noch gestalterischen Einfluss nehmen.

Hier nun ist die Frage angebracht, inwiefern die „negative“ Freiheit im Sinne des individuellen Freiraums langfristig geschützt und erhalten werden kann, wenn die „positive“ Freiheit, nämlich auf die Politik gestaltend einzuwirken zu können, zunehmend eingeschränkt wird?

Welche Freiheit ist gemeint, wenn Politiker von „Freiheit“ sprechen?

Wenn Regierende von Freiheit reden, dann meinen sie meist die „negative“ Freiheit im Sinne eines individuellen Schutzraumes für die einzelnen Bürger. Dies gewährt man ihnen. Doch „positive“ Freiheit im Sinne von Mitbestimmung und Mitgestaltung wird nur bedingt ermöglicht.

Jeder kann für sich selbst den Test machen: Bei welcher wichtigen, richtungweisenden politischen Entscheidung wurde die Bevölkerung zuletzt befragt? Agenda 2010? Euro? ESM? TTIP? EU-Erweiterungen? NATO-Aufrüstung? Bildungspläne? Oder wenigstens die Rechtschreibreform? Wann durften Sie zum letzten Mal über ein konkretes Problem abstimmen?

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