Gesellschaftlicher Wandel

Was sagt uns das Schrumpfen der Mittelschicht?

In den USA und Europa galt lange Zeit die Mittelschicht als Rückgrat der Demokratie. Das hat sich geändert. Die Mittelschicht zerfällt: ein Phänomen, das uns eine Warnung sein sollte.

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In den USA zur Zeit Eisenhowers und in der BRD zur Zeit Konrad Adenauers, Ludwig Erhardts und Willy Brandts schien den verantwortlichen Politikern klar zu sein, dass eine starke Mittelschicht das Rückgrat einer gesunden demokratischen Gesellschaft ist. Der Wohlstand einer möglichst breiten Mittelschicht ermöglicht die starken Schultern, die nötig sind, um arme Minderheiten mitzutragen und reiche Minderheiten zu ertragen.

Doch in den letzten Jahrzehnten scheint die Sorge um die schrumpfende Mittelschicht auf ein Stilmittel der politischen Rhetorik reduziert worden zu sein. Tatsächlich nehmen überall in Europa und Nordamerika die Mittelschichten ab, die Zahl der Armen zu und der Reichtum einer Minderheit ebenfalls zu. Auch in Deutschland schrumpft seit 15 Jahren die Mittelschicht. Das Prekariat hingegen wächst. Hinzu kommt die verbreitete Angst vor dem sozialen Abstieg, welche die Menschen der Mittelschicht zunehmend verunsichert.

In den USA sind die Einkommen der Mittelschicht von durchschnittlich 73.000 US-Dollar im Jahr 2000 auf 70.000 US-Dollar im Jahr 2010 gesunken, bei gleichzeitiger Inflation und höheren Lebenshaltungskosten. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Nachkriegszeit, dass die amerikanische Mittelschicht in einem Jahrzehnt an Einkommen verloren hat.

Gleichzeitig ist die Zahl der Armen gestiegen. Arm sein in den USA bedeutet, von Lebensmittelmarken abhängig zu sein, um über die Runden zu kommen. Rund 47 Millionen US-Amerikaner sind von diesen Lebensmittelmarken abhängig. Außerdem verzeichnen die USA seit einigen Jahren einen Rückgang der durchschnittlichen Lebenserwartung in der Bevölkerung. Das ist ein Novum unter den Industrieländern. Bisher war man davon ausgegangen, dass es mit der durchschnittlichen Lebenserwartung immer weiter bergauf geht.

Parallel zur Aushöhlung der Mittelschicht wächst der Lobbyismus in Washington. Dies lässt sich an der wachsenden Zahl der Lobbygruppen und NGOs ablesen, die in D.C. ein- und ausgehen. Eine weitere Korrelation ist die wachsende Konzentration der Medien- und Informationslandschaft. Immer weniger Medienmagnaten kontrollieren mehr Zeitungen, Fernsehsender und Medienkonzerne.

Was bedeuten diese Korrelationen für die Demokratie? Für die Gesellschaft? Und für die Politik? Auf welche Zukunft steuern wir zu? Ein beklemmendes Bild entsteht, wenn man sich an die Warnungen und Mahnungen vergangener Wissenschaftler- und Politikergenerationen erinnert. Nehmen wir als Beispiel einen in der angelsächsischen Welt verbreiteten Lehrfilm aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und dessen zentrale Botschaften.

Haben wir die alten Lehren und Binsenweisheiten vergessen?

Es knistert. Ein Schwarzweißfilm von 1945 flimmert auf der Leinwand. Titel: „Democracy“. Dann ein weiterer Schwarzweißfilm aus dem Jahre 1946. Titel: „Despotism“. Es handelt sich um politische Lehrfilme der „Ecyclopedia Britannica“. Vor dem Hintergrund des überwundenen Totalitarismus der Nationalsozialisten, Faschisten und Kommunisten war man damals bemüht, die Charakteristika einer funktionierenden Demokratie darzustellen. Denn viele Staaten nannten und nennen sich Demokratien oder Republiken. Doch was offiziell geschrieben steht und in der Praxis umgesetzt wird, sind zwei Paar Schuhe. Woran erkennt man eine funktionierende Demokratie? Woran erkennt man einen Staat auf dem Weg zum Despotismus?

Die Lehrfilme erläutern es. Von den alten Griechen bis in die heutige Zeit habe es Gelehrte gegeben, die die Formen der Demokratie beschrieben haben. Es gebe jedoch keine allgemeingültige feste Definition, die alle Gelehrten gleichermaßen akzeptieren würden. Dennoch gebe es, so erklärt der Lehrfilm der „Encyclopedia Britannica“, Zeichen und Charakteristika einer funktionierenden oder dysfunktionalen Demokratie. Je nachdem, wie diese Charakteristika ausgeprägt seien, könne man erkennen, ob es sich um eine demokratische Gesellschaft handele oder eine Gesellschaft auf dem Wege zur Despotie.

Zwei dieser deutlichen Anzeichen einer funktionierenden Demokratie seien folgende: Gegenseitiger Respekt und geteilte Macht („shared respect and shared power“). Gegenseitiger Respekt bedeute, dass Menschen aller Gesellschaftsschichten, Religionen ungeachtet ihres monetären Reichtums vor dem Gesetz gleich sind und faire gesellschaftliche Chancen haben. Geteilte Macht zeige sich nicht nur, wenn allgemeine Wahlen abgehalten werden, sondern auch darin, dass alle Gesellschaftsschichten in den repräsentativen Organen vertreten sind und sich in den politischen Willensprozess einbringen können.

Dafür bräuchte es gewissen Konditionen. Zwei wichtige Konditionen seien „ökonomische Balance“ („economic balance) und „Aufklärung“ („enlightenment“). Ökonomische Balance bedeutet, dass die Gemeinschaft mehrheitlich aus einer starken mittleren Einkommensgruppe besteht („middle income group“). Schon Aristoteles soll vor zweitausend Jahren festgestellt haben, dass eine Gesellschaft mit einer starken mittleren Einkommensgruppe die besten Chancen hätte, demokratisch zu werden. Und James Madison, einer der Väter der Vereinigten Staaten von Amerika, warnte vor zweihundert Jahren bereits, dass extreme Gegensätze einer in Arm und Reich gespaltenen Gesellschaft Gruppe gegen Gruppe aufbringen würde.

Die historische Betrachtung aller vergangenen Gesellschaften habe gezeigt, so wird erklärt, dass die Entwicklung funktionierender demokratischer Gesellschaften stets Hand in Hand mit der Entwicklung einer starken mittleren Einkommensgruppe einherging.

Aufklärung („enlightenment“) sei ebenso eine wichtige Kondition für eine funktionierende Demokratie. Dazu gehöre eine möglichst gute Schulbildung für die breite Bevölkerung ebenso wie eine faire und ehrliche Berichterstattung in der Presse. Die Medien hätten eine Verantwortung dafür, die Menschen ehrlich aufzuklären, um ihnen die kompetente Teilhabe am demokratischen Prozess zu ermöglichen.

Zusammenfassend stellt der Film dar, dass gegenseitiger Respekt und geteilte Macht von den Faktoren der ökonomischen Balance und der ehrlichen Aufklärung abhängig seien. Je stärker die Mittelschicht in der Gesellschaft sei und je aufgeklärter die Bevölkerung, desto mehr würde man sich gegenseitig respektieren und bereit sein, die Macht zu teilen. Je weniger jedoch diese Konditionen erfüllt seien, desto weniger gäbe es gegenseitigen Respekt und geteilte Macht.

Tendenzen zum Despotismus, heißt es im Ergänzungsfilm, würden sich ebenfalls an klaren Zeichen erkennen lassen: „The test of despotic power is, that it can disregard the will of the people. It rules without the consent of the governed.“ – Das bedeutet sinngemäß: Wenn eine Regierung gegen den Willen des Volkes Beschlüsse verfassen kann, ist dies ein Zeichen für eine Tendenz zum Despotismus. Je mehr Macht in den Händen kleiner Interessensgruppen konzentriert sei und der Bevölkerung die Mitwirkung und Einflussnahme erschwere, so wird erklärt, desto mehr würde man diese Gesellschaft auf einer Demokratieskala in den Bereich des Despotismus einordnen.

Auch hier wird wieder hervorgehoben: Die ökonomische Verteilung („economic distribution“) und die Informationspolitik (Medien) können die Tendenz zum Despotismus oder zur Demokratie anzeigen. Die Konzentration des Reichtums auf eine kleine Minderheit bei gleichzeitigem Schrumpfen der Mittelschicht sei ein Zeichen für die Hegemonie einer bestimmten Gruppe auf dem Weg zum Despotismus.

Diese Skala ließe sich, so erklärt die „Encyclopedia Britannica“ in ihrem Lehrfilm, auf die Welt der Medien übertragen. Je konzentrierter die Medienlandschaft in den Händen von wenigen Interessensgruppen sei, desto mehr könne die Informationsflut einseitig in eine Richtung gelenkt werden. Solche Entwicklungen seien Zeichen eines aufkommenden Despotismus. Je vielfältiger die Medienlandschaft und je freier der Ausdruck der Meinungsfreiheit sei, desto mehr sei dies ein Zeichen für eine gelungene Demokratie.

Was bedeutet dies für unsere Zukunft?

Folgt man den Definitionen und Erklärungen der Wissenschaftler und Autoren, die in den späten 1940er Jahren in den Lehrfilmen der „Ecyclopedia Britannica“ zum Ausdruck kamen, dann befinden sich Europa und die USA auf einem schleichenden Weg in den Despotismus. Ist es das, was kritische Wirtschaftswissenschaftler als Oligarchie, Neufeudalismus oder Finanzfeudalismus bezeichnen? Hat die derzeitige Monopolisierung der Wirtschaft und des Finanzsektors noch etwas mit freier Marktwirtschaft und fairen Chancen zu tun?

Tatsache ist: Die Kondition der „ökonomischen Balance“ (d.h. starke, breite Mittelschicht als Rückgrat der Gesellschaft) nimmt eindeutig ab. Die Kondition der „Aufklärung“ (d.h. eine möglichst breitgefächerte Medien- und Informationslandschaft) nimmt im Bereich der Medienkonzerne, im Rundfunk und in den großen Verlagshäusern durch die Konzentration und Monopolbildung ab, wird jedoch noch durch alternative Medien im Internet aufgefangen (wie lange noch?).

Die Durchsetzung von politischen Zielen ohne den Bedürfnissen und Wünschen der breiten Bevölkerung zu folgen ist dagegen offensichtlich geworden. Große Entscheidungen werden zunehmend gegen die öffentliche Meinung getroffen oder die öffentliche Meinung durch gezielte Medienkampagnen beeinflusst. Wer all diese Aspekte nach den obig beschriebenen Kriterien durchdenkt, wird erkennen, dass unserer Gesellschaft auf der Demokratieskala Schritt für Schritt ins Despotische absinkt. Meinungsfreiheit und die Entwicklung der Mittelschicht sind die Politikbarometer, die wir im Auge behalten sollten.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: K.Becker

Merkel hat ein Diplom, welches sie als Physikerin bezeichnet.
Kenne einige Privilegierte aus der Ehemaligen, mit häufigem Diplom, Schall und Rauch.
Aber die kommunizierenden Röhren von Merke,
bestätigen den Verlust der Mittelschicht:
Nehmen die Millionäre zu, muss auch die arme Seite zunehmen, sonst sind die kommunizierenden Röhren von Merkel gestört.

Gravatar: Klartexter

Wenn die Mittelschicht zerfällt, bildet sich eine revolutionäre Unterschicht, was sonst. Diese Unterschicht wird dann hoffentlich im Wege einer gesellschaftlichen Revolution das Land mit Hilfe einer neu gewählten Regierung vom Kopf wieder auf die Füße stellen. Das wäre der gesetzmäßige Gang der Geschichte.

Gravatar: Jürg Rückert

Auf dem Weg zu einer unipolaren neuen Weltordnung ist eine selbstbewusste Bevölkerung, die zusätzlich wirtschaftlich vom Staat unabhängig ist, ein Hindernis.
Dort will man nur kleine Ferkel, die voll von den Zitzen des Staates abhängig sind.
Da entwicklungsbedingt immer mehr Menschen in einer immer verschränkteren, komplexeren und geradezu virtuellen Welt aufwachsen, entfremden sich die Teilnehmer am großen Spiel. Außerdem wächst wie im Monopolyspiel die Macht der Machthaber allein aufgrund deren Macht auf Kosten der Kleineren.

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