Globalisierte Wertefreiheit

Vielfalt oder Monokultur?

Genießen die Menschen heutzutage mehr Freiheiten und Individualität als früher? Oder wird die Gesellschaft nur in nur in Einzelsubjekte gespalten, die sich in Beliebigkeit und Isolation verlieren?

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Alles im Leben hat seinen Preis. Wer Freiheit sucht, findet Beliebigkeit. Wenn die Balance aus individueller Freiheit und gemeinschaftlicher Sinnstiftung verloren geht, verlieren viele Menschen ihren Halt. Sie suchen verzweifelt nach Werten und Richtungsanweisungen, um ihrem Leben Sinn und Ziel zu geben. Das macht sie manipulierbar. Wer kann schon seinen Selbstwert aufrecht halten, ohne sich im Spiegel der anderen bestätigt zu sehen?

Verschiedene Intellektuelle, wie zum Beispiel Noam Chomsky, haben immer wieder darauf hingewiesen, dass wir auf eine Art Atomisierung der Gesellschaft hinsteuern. Anstatt dass die Menschen sich zusammenfinden, um sich zu organisieren und gemeinsam für ihre unmittelbaren Interessen einzutreten, werden sie in unzählige Einzelgruppen und Nischeninteressen gespalten, um so gegeneinander ausspielbar und damit regierbar zu sein. Die Menschen sitzen einsam vor dem Fernseher oder surfen im Internet, anstatt sich mit Gleichgesinnten realweltlich zu treffen und auszutauschen.

Es finden sich zwar über das Internet immer wieder neue Bewegungen, doch deren Lebensdauer wird immer kürzer. Unter unendlichen vielen Aspekten, Visionen, Ideen und Ideologien können Menschen sich zusammenfinden und ein gemeinsames Ziel ansteuern. Doch die Auswahl ist groß und der Tag hat nur 24 Stunden. Heute ist Umweltschutz wichtig, morgen die Gewerkschaft, übermorgen die Gemeinde, jeden Tag etwas anderes.

Das einzige, was die meisten Menschen eint, ist eine Art „common sense“ und „political correctness“. Sie spielen die Rolle des Konsumenten. Ansonsten gibt es keine erstrebenswerten Tugenden mehr. Wir produzieren und konsumieren, ohne dass der Gesellschaft ein konkretes Ziel vorschwebt, wo wir eigentlich hinwollen.

Dabei zeigt sich ein interessantes Phänomen. Statt mehr Freiheit zu erfahren, entsteht ein Vakuum, eine Welt voller Beliebigkeit, in der der Einzelne an Wert verliert, weil er austauschbar ist. Das Ergebnis ist ein Individualismus, der in Wirklichkeit Konformität hervorruft.

Hipster sind das moderne Beispiel des angepassten Unangepassten

Ein aktuelles Beispiel ist die Modewelle der Hipster. Das sind junge Leute mit genderneutral gestaltetem Äußeren, mit Mütze, enger Jeans, 80er-T-Shirt, Tattoos, schwarzumrandeter Brille, mit iPhone, iPod, iMac oder einem sonstigen Apple-Produkt, die „irgendwas mit Medien“ machen. Sie sind ständig online, „posten“ und „liken“ auf Facebook und stellen jedes Smartphone-Foto auf Instagramm zur Schau. Sie pflegen das Alternativ-Image und kaufen trotzdem die teuersten Markenklamotten. Sie sitzen im Starbucks-Café und quatschen permanent mit ihrem Handy.

Hipster tun alles, um individuell zu wirken. Doch auf Außenstehende wirken sie alle gleich, fast uniformiert. Das ist der Widerspruch unserer Zeit. Uniformität durch Individualität. Es zeigt uns, wie sehr wir noch dem Herdeninstinkt verhaftet sind.

Das Phänomen der angepassten Unangepassten erfasst die jungen Menschen in aller Welt. Dabei ist es egal, ob sich die Hipster in New York, Berlin, Buenos Aires, Paris oder Shanghai befinden: Sie hocken im Starbucks und benutzen ihr Smartphone. Es ist, als ob ein unsichtbarer Marionettenspieler die Menschen steuert und im Gleichschritt marschieren lässt, ihnen dabei jedoch das subjektive Gefühl vermittelt, individuell zu sein, anders zu sein.

Sehen bald alle Städte gleich aus?

Wie der Mensch, so seine Stadt. Abgesehen davon, dass sich alle Millionenstädte außerhalb Europas dem Bau von Hochhäusern verschrieben haben und die Skylines von Singapur und Hongkong mehr und mehr denen von New York und Chicago gleichen, so ist noch etwas anderes überall sichtbar, dass die unangepasste Angepasstheit der Stadtkulturen offensichtlich macht.

Die Geschäftskultur hat sich durch die fortschreitende Bedeutung der internationalen Konzerne in eine überschaubare Reihe von Geschäftsketten entwickelt, die weltweit alle Städte erfasst. Dieses Phänomen erleben wir, wenn wir in jeder Großstadt, in jedem „City Center“, in jeder Einkaufspassage und „Shopping Mall“ die gleichen Geschäfte vorfinden. In den 1980er Jahren beschränkte sich dieses Phänomen auf Supermärkte, Kaufhäuser und McDonalds-Filialen. Doch heute scheint fast alles per Franchise organisiert zu sein, vom Mode-Geschäft bis zum Café an der Ecke. Da spielt es beinahe keine Rolle mehr, in welcher Stadt man lebt.

Beispiel Berlin: Wenn Touristen am Flughafen Tegel landen, können sie dort bei Starbucks ihren ersten Kaffee trinken. Wer am Hauptbahnhof ankommt, wird ebenfalls von Starbucks begrüßt. Desgleichen kann der Tourist gleich mehrfach bei Starbucks einkehren: egal ob am Brandenburger Tor oder gleich mehrfach in der Friedrichsstraße und am Kurfürstendamm. Starbucks ist einfach überall. Amerikanische oder asiatische Touristen können kreuz und quer durch Berlin Sightseeing machen und ständig Kaffee im Starbucks trinken, ohne jemals ein authentisches deutsches Café mit „German Schwarzwaldtorte“ und Apfelstrudel besucht zu haben. Was für Berlin gilt, gilt weltweit: bei den Pyramiden, am Eifelturm, an der chinesischen Mauer oder sogar inmitten der „Verbotenen Stadt“ von Peking. Die internationalen Caféketten sind überall.

Westliche Werte, östliche Werte, globale Werte

Statt also die Werte einer traditionsreichen Kultur zu verkörpern, sollen wir international taugliche und global tätige Konsumenten sein. Wir sollen durch digitale Bankdaten, Internet und Online-Einkäufe global durchleuchtet und ausgenutzt werden können.

In manchen Ländern ist dies als Problem erkannt worden. Konsumenten zu sein, reicht nicht aus. In China versucht man die Individualisierung der Gesellschaft mit den Werten des Konfuzius in den Griff zu bekommen. Mao zieht nicht mehr. Der Neo-Konfuzianismus soll die Richtschnur des neuen China sein, um der Gesellschaft ein Leitbild für die Zukunft an die Hand zu geben.

In Russland hat man, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem chaotischen Werteverfall und Ausverkauf des Landes in den 1990er Jahren, der orthodoxen Kirche wieder die Rolle zurückgegeben, die sie einst im Zarenreich hatte, damit sie das Wertevakuum füllt und der Gesellschaft Halt gibt.

Radikaler Islam als Antwort auf den westlichen Individualismus

Dass die Menschen ein Bedürfnis nach Werten und Ordnungsrichtlinien haben, zeigt sich in der Reaktion vieler Muslime auf die moderne Welt. Die islamischen Bewegungen der letzten 30 Jahre sind Antworten auf die vom Westen aufgedrängten Lebensweisen, die offenbar nicht von allen als „befreiend“ empfunden werden.

Interessant ist beispielsweise, dass türkische Musliminnen in Europa ihr Kopftuchgebot neu entdeckt haben, währen es in der Türkei selbst wesentlich weniger züchtig aussieht. Ihr Kopftuch gibt den Türkinnen in Deutschland Identität. Sie suchen nach Aufnahme in eine Wertegemeinschaft in einer Umwelt, in der es keine Werte mehr gibt.

Beliebigkeit ist keine Freiheit

Beliebigkeit der Werte und Normen führt dazu, dass die Menschen zunehmend Schwierigkeiten haben, gleichgesinnte zu treffen, um gemeinsame Ziele zu verfolgen. Sie sind in der Beliebigkeit isoliert. In dieser Isolation können sie medial manipuliert, gesteuert und zum Konsumieren angeleitet werden.

Das ist eine Gefahr. Denn die Menschen werden immer größere Schwierigkeiten bekommen, ihr Schicksaal in die eigene Hand zu nehmen und für einen Gesellschaftswandel einzutreten. Das Ergebnis zeigt sich in der Politik. Die Menschen haben das Gefühl, dass es egal ist, welche Partei sie wählen, weil am Ende doch nur am Bürger vorbeiregiert werde. Sie verlieren das Gefühl, gemeinsam stark zu sein, um den Problemen der Zukunft entgegenzutreten. Was bleibt, sind Resignation und Hoffnungslosigkeit.

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Gravatar: Ralle

Schon mein Geschichtslehrer auf dem Gymnasium sprach von der Atomisierung der Gesellschaft. Und das war Anfang der 1980er

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