Dritte Welt kommt zu uns

USA und Europa: Ausverkauf unseres Lebensstandards

Statt Wohlstand für die Mittelschicht kommt das Massenprekariat. Europa und die USA werden für kurzfristige Finanzinteressen auf Dritte-Welt-Verhältnisse herabgewirtschaftet. Armut wird globalisiert.

Foto: Dan Cox / flickr.com / CC BY-ND 2.0
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Wohlstand für alle? So jedenfalls lautete das Motto des deutschen Wirtschaftswunders unter Ludwig Erhardt. Vorbild waren die USA, die in den 1950er Jahren ein einmaliges Wirtschaftswachstum hinlegten und Millionen Menschen den „American Dream“ erfüllten. Endlich gab es in Amerika und bald in Europa die ersehnte wohlhabende Mittelschicht mit Vorstadthäuschen, Auto und Garten. Armut und Reichtum waren überschaubar. Die Mittelschicht war das zahlenmäßige Rückgrat der Gesellschaft. Die Wohlfahrt bescherte dem Volke Wohnraum, Schwimmbäder, Schulbildung für alle, ein modernes Verkehrsnetz, ein gutes Gesundheitssystem und vor allem eine nie zuvor dagewesene Sicherheit. Das Lebensgefühl war von einem „Es geht immer aufwärts!“ geprägt.

Das ist alles passé. Spätestens seitdem das Finanzsystem aus dem Ruder gelaufen ist, steht nicht mehr die Wohlfahrt der Bevölkerung und das Interesse der Gesellschaft im Mittelpunkt, auch nicht die langfristige wirtschaftliche Planung. Vielmehr wird versucht, Europa und Nordamerika stromlinienförmig für Investitionsinteressen der Finanzwirtschaft zurechtzustutzen. TTIP, CETA, EU, Zuwanderung, Liberalisierung der Arbeitsmärkte, Senkung der Sozialstandards, Konzentration auf den Export, Vernachlässigung der Binnenwirtschaft, Bevorteilung der internationalen Konzerne, Benachteiligung der kleinen und mittelständischen Betriebe – all das höhlt den Wohlstand der Mittelschicht aus und schafft ein wachsendes Prekariat.

Globalisierung von Arm und Reich

Der ehemalige Wirtschaftsprofessor, Mitherausgeber des Wall-Street-Journals, Regierungsberater und stellvertretende US-Finanzminister (unter Ronald Reagan) Paul Craig Roberts sieht die USA im Abwärtstrend. Geschönte Statistiken würden dies nur verschleiern. Weite Gebiete des Landes werden deindustrialisiert. Das Wirtschaftswachstum in den USA sorge real nur bei dem obersten 1 % der Gesellschaft für Vermögenswachstum. Die Partizipationsrate der Erwerbsbevölkerung schrumpfe erheblich. Die realen Haushaltseinkommen seien am Sinken. Hierzu fügt Roberts ein wichtiges Faktum an: „Am 3. April 2015 verkündete das U.S. Bureau of Labor Statistics (BLS), dass 93,175 Millionen Amerikaner im erwerbsfähigen Alter zurzeit nicht zur Erwerbsbevölkerung gezählt werden, was einem historischen Rekord entspricht.“ Fast die Hälfte der über 25-jährigen Bevölkerung lebe noch bei den Eltern, weil sie finanziell nicht dazu in der Lage sind, ihren eigenen Haushalt zu gründen. Für Roberts sind die USA auf dem Weg zum Drittweltland.

Doch die Finanzwirtschaft wende sich von den Problemen ab. Dramatische Entwicklungen werden schöngeredet. Roberts hierzu an anderer Stelle (Original-Artikel): „Wirtschaftswissenschaftler und andere Wall Street-Lockvögel werden das Sinken der Industrieproduktion nicht ernst nehmen, da Amerika jetzt eine Dienstleistungswirtschaft ist. Wirtschaftswissenschaftler geben vor, dass es sich um high-tech-Serviceleistungen der New Economy handelt, in Wirklichkeit haben Kellnerinnen, Barkeeper, Teilzeitverkäuferinnen und ambulante Pflegeservices die Arbeitsplätze in der Produktion und Konstruktion ersetzt, zu einem Bruchteil der Bezahlung, wodurch die kumulierte Nachfrage in den Vereinigten Staaten von Amerika zusammengebrochen ist. Wenn neoliberale Wirtschaftswissenschaftler gelegentlich Probleme wahrnehmen, dann geben sie China die Schuld daran.“

Armut in den USA: Dritte Welt in der Ersten Welt

Fassen wir die Entwicklung zusammen: Seit den 1990er Jahren nimmt die Spaltung der US-Gesellschaft in Arm und Reich immer mehr zu. Die Finanzkrise von 2008 hat diesen Prozess beschleunigt. Die Zahlen und Bilanzen sind schockierend und widersprüchlich zugleich. Denn obwohl die US-Wirtschaft wächst, hat der Großteil der Bevölkerung nichts davon. Er partizipiert nicht mehr am Gesamtwachstum. Rund 50 Millionen Menschen sind völlig abgeschrieben.

Die Situation ist für viele katastrophal. Immer mehr Amerikaner leben von Lebensmittelmarken. 2014 waren in den USA rund 47 Millionen Menschen von der Ausgabe solcher Essensmarken abhängig. Das ist die unterste Stufe der Sozialhilfe für Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Rund 13,8 Millionen Amerikaner leben in Gegenden mit sozialer Not, in Ghettos und Slums. Zeit-Online schreibt: „In den USA leben so viele arme Menschen wie noch nie.“ Rund 15 Millionen Kinder wachsen in sozialer und finanzieller Not auf. Mehr als 30 Millionen Menschen haben keine Krankenversicherung.

Die Wohlhabenden schotten sich ab, um sich vor der wachsenden Kriminalität zu schützen. Die unterschiedlichen sozialen Milieus haben immer weniger miteinander zu tun. Amerika ist nur oberflächlich eine Gemeinschaft. Im Alltag ist das Land in soziale, kulturelle und teilweise noch ethnische Milieus gespalten. Es ist eine Welt voller Parallelgesellschaften, die nur oberflächlich miteinander zu tun haben. Die Eliten von Long Island und die Reichen vom Silicon Valley haben immer weniger Überschneidung mit der Lebenswelt der Durchschnittsamerikaner, geschweige mit den Slums in den Vororten.

Hinzu kommt die astronomische Verschuldung. Abgesehen von der Staatsverschuldung sind auch die amerikanischen Haushalte stark verschuldet. Diese Finanzierung des Lebens auf Pump wird zum Problem. Im Durchschnitt haben die US-Haushalte 6 Kreditkarten und mehr als 8.000 Dollar Kreditkartenschulden. Die Schuldenfalle schnappt immer häufiger zu.

Dann gibt es noch die zunehmenden Bildungsschulden: Immer mehr junge Amerikaner sind nach dem Besuch des Colleges oder der Universität exorbitant verschuldet, teilweise mit mehreren hunderttausend Dollar. Wer nicht aus einem gutbetuchten Elternhaus kommt, riskiert mit seinem Studium ein Leben in ewiger Schuldknechtschaft. Viele Jugendliche aus sozial schwierigen Milieus versuchen es erst gar nicht, es sei denn, sie erhalten eines der begehrten Stipendien.

Gleichzeitig wächst die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen den Hoffnungen des „American way of life“ und der bitteren Realität. Jeder kann es schaffen in Amerika, aber nicht alle. Gerade die Mittelschicht kämpft verzweifelt gegen den sozialen Abstieg. Die Folge: Immer mehr Menschen müssen Überstunden und zwei oder drei Job parallel machen, um ihren Lebensstandard zu halten. Das schafft Verzweiflung, denn sie spüren, dass sie einen aussichtslosen Kampf führen.

Die Folge dieser Entwicklungen: Anstieg der Kriminalität. Immer mehr Menschen werden inhaftiert. Kein Land der Erde hat mehr Gefängnisse und Gefängnisinsassen als die USA. Es ist geradezu absurd, wie sich eine Gesellschaft als Erfolg feiern kann, wenn es hinsichtlich der Strafgefangenen alle Rekorde bricht. Dies müsste doch als Signal dafür erkannt werden, dass etwas Entscheidendes in der Gesellschaft und Wirtschaft nicht funktioniert.

In der Zeitung „Die Welt“ heißt es dazu: „Der Unmut über das so drakonische Rechtssystem in den USA wächst – es füllt die Knäste und belastet den Steuerzahler mit unvorstellbaren 80 Milliarden Dollar jährlich. Denn die Amerikaner stellen nur rund fünf Prozent der Weltbevölkerung, aber zugleich 25 Prozent aller Gefängnisinsassen. 2,4 Millionen Amerikaner saßen Ende 2011 nach Berechnungen der Organisation Prison Policy Initative hinter Gittern. Das als repressiv bekannte China, das viermal so viele Einwohner wie die USA zählt, folgt mit 1,5 Millionen Strafgefangenen deutlich abgeschlagen.“

Deutschland auf Abstiegskurs

Auch in Deutschland erodiert die Mittelschicht. Die Spaltung der Gesellschaft nimmt zu. Immer mehr Menschen fürchten sich vor dem sozialen Abstieg. Die öffentliche Infrastruktur ist marode. Immer mehr Kommunen sind verschuldet. Schwimmbäder verwahrlosen oder werden geschlossen. Schulgebäude sind immer häufiger baufällig.

Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden teilte unlängst mit (siehe Berichte in Zeit, Focus, FAZ), dass die Anzahl der Bürger, die von Sozialleistungen wie Hartz IV /ALG II, Sozialrente, Hilfe zum Lebensunterhalt oder sonstigen öffentlichen Sozialleistungen abhängig sind, weiterhin steigt und steigt. Mittlerweile sind rund 7,5 Millionen Menschen in Deutschland betroffen. Es läuft etwas falsch im Staate Deutschland.

Hart geht der (aktuell in den Ruhestand getretene) langjährige Leiter des Ifo-Institut, Professor Hans-Werner Sinn, mit deutschen Politikern ins Gericht. In einem Interview mit der Wirtschaftswoche kritisierte er die Grundlinien deutscher Politik: „Wir machen eine Energiewende, die über eine Billion Euro kostet. Wir machen eine Euro-Rettungspolitik, die uns hunderte von Milliarden Euro an Haftungsrisiken beschert. Wir machen eine Flüchtlingspolitik, deren Kosten nach seriösen Schätzungen in ähnlicher Größenordnung liegen.“ Außerdem sieht er durch die EZB-Strategie, die Inflationsrate zu erhöhen, die deutschen Sparer heimlich enteignet: „Da die Schuldner in Südeuropa ihre Verbindlichkeiten so oder so nicht zurückzahlen werden, sehen viele diese heimliche Enteignung durch Inflation als den sozialverträglichsten Weg, den Euro, Südeuropa und Frankreich zu retten.“

Hans-Werner Sinn kritisiert die deutsche Flüchtlingspolitik

Was die Flüchtlingspolitik angeht, kritisierte Sinn in der Wirtschaftswoche, dass die Bundesregierung dies alles geschehen lasse, ohne wirklich gestaltend einzugreifen. Dabei sei es eine fundamentale Weichenstellung, die besonderer Legitimation bedürfe. Zwar seien die Flüchtlinge ursprünglich Kriegsflüchtlinge, doch sobald sie in sicheren Drittstaaten seien, würde sich die Bewertung der Lage ändern: „Die Wanderung aus den Bürgerkriegsgebieten in die Flüchtlingslager der Türkei ist eine Flucht vor Unterdrückung. Wenn aber jemand von dort weiter wandert, ist das eine ökonomische Entscheidung. Setzt sich die Zuwanderung ungebremst fort, erodieren die Sozialstaaten. Am Ende wird es eine Mischung aus Steuererhöhungen und Kürzungen von Sozialleistungen geben.“

Nach Sinn dürfe man keine Einwanderung in den Sozialstaat zulassen. Dann würden sich die Zuwanderer den großzügigsten Sozialstaat aussuchen. Man könne den Sozialstaat nicht aus purer Gesinnungsethik für die ganze Welt öffnen, argumentiert Sinn. Und weiter: „Daher wäre es vernünftig, eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen festzulegen, damit es am Ende nicht zur Erosion des Sozialstaates kommt. Denn ein funktionierender Sozialstaat ist unerlässlich für die Stabilität der Gesellschaft.“ Die Vorstellung, es kämen hauptsächlich Hochqualifizierte zu uns, bezeichnet Sinn als absurd. Er befürchte vielmehr die Entstehung eines Migrantenprekariats.

Aus der Perspektive von Großinvestoren scheint die Entwicklung Sinn zu ergeben. Einerseits hat die Industrie jahrelang Arbeitsplätze ins Ausland verlagert, um Lohnkosten zu sparen. Andererseits hatte man in den Ländern der Dritten Welt mit mangelnder Infrastruktur und Sicherheit zu kämpfen. Was läge näher, als die billigen Arbeitskräfte nach Europa zu holen und die europäischen Standards zu senken?

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: p.feldmann

Serh guter Artikel!Danke!

Wenn man die seit 25 Jahren tobende Globalisierung des Neoliberalismus betrachtet, so hat man vor sich ein riesiges Propaganda-Imperium: "Liberalisierung und Liberalismus" meinen hier weder "Freiheit" noch irgendeine Nähe zum Liberalismus klassischer Prägung. Es geht, wie in sogen.euroKrise und in der EU zu sehen, weder um eine Schaffung eines kleinen aber starken Staates, sondern um eine Ausbeutung der sozialen Systeme.

Wenn man sagt, dass die "USA" hier in unseeliger Weise Triebkraft u.-täter sind, so müsste man eigentl. immer differenzieren, denn auch die USA sind von nur wenigen Interessengruppen als Gesellschaft gekapert.

Merkels gesamte Politik dient dem Interesse dieser Gruppierungen, die ideologische materialistische Extremisten sind: "euro-Rettung", "EU-Zentralisierung"- hin auf ein dem Neoliberalismus dienstbares Verwaltungsinstrument, "Flüchtlingskrise"- als intendierte Umvolkung, Verelendung und Destabilisierung widerständig stabiler Sozialstaaten... usf.(die vom Zaun gebrochene "Ukraine-Krise" gehört mit in diese Reihe) Unter der Baldachin amerikanischer Hegemoniestrebens bereichern sich einige Hundert in den USA und weltweit. Eine Renationalisierung ist diesen Teufeln ihr Weihwasser, denn sie entzieht die Staaten partiell ihrer Kontrolle.
Merkel und ihr Regime(!) ist nichts als Marionette und Handlanger.

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