Russland, Ukraine und die Krim

Rückfall in den Nationalismus

In der derzeitigen Krise zwischen Rußland und der Ukraine appelliert die Propaganda beiderseits an simple Weltbilder. Doch darf man in nationalistische Denkschemata zurückfallen? In der Ukraine und auf der Krim gibt es eine historisch gewachsene Bevölkerungsvielfalt.

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Nikita Chruschtschow würde sich im Grabe umdrehen. Weil er 1954 in Form eines pragmatischen Verwaltungsaktes die Krim der Ukrainischen SSR angliederte, stehen sich sechzig Jahre später Russland und die Ukraine als souveräne Staaten in der Krimkrise gegenüber.

Hätte Chruschtschow damals ahnen können, dass die Sowjetunion noch innerhalb des 20. Jahrhunderts zerbrechen würde? Er selbst war ein gebürtiger Russe, dessen Familie in die Ukraine übergesiedelt war. Dort hatte er seine Jugend verbracht und für die kommunistische Revolution gekämpft. Für Chruschtschow war die UdSSR eine Einheit aus vielen Völkern.

Die Ukraine war schon immer eine Vielvölkerregion

Selbst die Ukraine war Heimat vieler Völker. Die weiten Steppenlandschaften waren vom Altertum bis ins Mittelalter Durchzugsgebiet der Skythen, Goten, Awaren, Chasaren, Bulgaren, Magyaren, Kumanen, Mongolen und Tataren. Sie alle haben ihre Spuren hinterlassen.

Die fruchtbaren Böden lockten seit dem Spätmittelalter Siedler aus dem Westen. Deutsche und Polen ließen sich in Podolien, Wolhynien und Galizien nieder. Juden gründeten ihre Schtetl. Vor dem Holocaust war fast ein Fünftel der westukrainische Bevölkerung Jüdisch. In der ganzen ostpolnischen, weißrussischen und ukrainischen Region blühte ein multikulturelles Völkergemisch. Bis heute leben in der Ukraine neben den Ukrainern und Russen Hunderttausende Weißrussen, Polen, Moldawier, Krimtataren, Bulgaren, Magyaren, Aschkenasim und Armenier.

War das Zarenreich ein Hort friedlicher Koexistenz?

Nach dem gescheiterten Russlandfeldzug Napoleons von 1812 und dem Wiener Kongress von 1814/15 war die politische Lage im Osteuropa stabil. Das Zarenreich erreichte im 19. Jahrhundert eine Ausdehnung von Polen bis Alaska.

Damals wurden oftmals die ostslawischen Völker unter der Bezeichnung Russen subsumiert. Das entsprach auch dem Zeitgeist in Russland und der Ukraine, die Kleinrussland genannt wurde. Es gab die Idee einer Dreieinigkeit der russischen Identität in Form der Großrussen, Weißrussen und Kleinrussen, die alle dem mittelalterlichen Kiewer Rus entstammten. Unter Berufung auf dieses gemeinsame Erbe hatten sich die Ukrainer 1654 unter dem Kosakenführer Bohdan Chmelnyzkyj dem Zaren angeschlossen. Damit wollte man gegen die verhasste Grundherrschaft des polnischen Adels rebellieren, denn weite Teile der Ukraine gehörten damals zum Königreich Polen-Litauen. Das dreihundertjährige Jubiläum dieses Ereignisses war übrigens der Anlass für Chruschtschow, die Krim der Ukrainischen SSR zu unterstellen.

Im späten 19. Jahrhundert verbreitete sich lokalpatriotisches Gedankengut. Kleinrussland klang zu provinziell. Die ukrainischen Patrioten wollten kein Anhängsel des großen Brudervolkes sein. Die Bezeichnung Ukrainer wurde bevorzugt, um sich von den Russen abzugrenzen. Es entwickelte sich ein Disput um die Frage, ob Ukrainisch ein russischer Dialekt sei oder eine eigene Sprache.

Dem Zaren war der ukrainische Separatismus ein Dorn im Auge. Alexander II. erließ ein Verbot ukrainischsprachiger Publikationen. Russisch blieb alleinige Bildungs- und Verwaltungssprache. Ukrainisch sollte ein Volksdialekt bleiben.

In der Gegenwart haben die Ukrainer den Spieß umgedreht: ukrainische Russen sollen Ukrainisch sprechen. Das zumindest fordern die nationalistischen Parteien. Die Partei vom gestürzten Präsidenten Janukowytsch fordert dagegen eine stärkere Gleichberechtigung des Russischen und anderer Minderheitensprachen. Innerhalb der ukrainischen Gesellschaft gibt es darüber heftige Debatten, denn Sprache ist ein Teil der Identität.

Der Nationalismus bricht sich Bahn

Der Albtraum begann mit dem Ersten Weltkrieg. Die deutsch-russischen Frontlinien brachten Tod und Verwüstung. Dann kam die Revolution von 1917. Alte Gesellschaftsformen zerbrachen. Die neuen aber noch unabhängigen Sowjetrepubliken bekämpften Konterrevolutionäre und die Weiße Armee.

1917 wurde in Kiew die bürgerliche ukrainische Volksrepublik ausgerufen. Dagegen formierte sich in der östlichen Stadt Charkow eine bolschewistische Gegenregierung. Die Ukraine wurde in den russischen Bürgerkrieg und in den polnisch-sowjetischen Krieg hineingezogen. Schließlich wurde 1922 die Gesamtukraine eine Sozialistische Sowjetrepublik innerhalb der UdSSR.

In den Jahren 1929-1933 bekam die Ukraine die Härte Stalins zu spüren. Enteignungen, Zwangskollektivierungen und Steuern belasteten die Landbevölkerung schwer. Widerstände wurden niedergeschlagen. 1932-1933 kam es zum Holodomor, dem Hungerholocaust. Millionen Ukrainer starben an Unterernährung, während die UdSSR Getreide exportierte.

In der Hölle des Zweiten Weltkriegs litt die Ukraine besonders

Als 1941 die deutschen Truppen in die Ukraine vorstießen, verfolgte Stalin die Politik der verbrannten Erde. Den Deutschen sollten möglichst keine industriellen und landwirtschaftlichen Maschinen in die Hände fallen. Ausgerechnet Chruschtschow war als Offizier der Roten Armee für die Demontage und den Abtransport verantwortlich. Die Deutschen gingen nicht weniger zimperlich vor. Im Reichkommissariat Ukraine wurde das Land bis auf die letzten Ressourcen ausgeplündert. Ethnische Säuberungen der Waffen-SS erreichten ihren perversen Höhepunkt. Millionen ukrainische Juden endeten in Ghettos und Konzentrationslagern.

Die meisten Ukrainer kämpften in der Roten Armee. Doch gab es auch ukrainische Verbände an der Seite der Wehrmacht. Schließlich zogen noch die Partisanen durchs Land. Sie kämpften für eine unabhängige Ukraine und schossen auf Rotarmisten und Wehrmachtssoldaten gleichermaßen. Dabei gingen sie auch brutal gegen polnische Kämpfer und Zivilisten vor.

Mehr als zehn Millionen Bewohner der Ukraine kamen im Zweiten Weltkrieg ums Leben. Nach dem Krieg war die Hölle noch nicht überstanden. Stalin ließ massenhaft mutmaßliche Verräter und Kollaborateure hinrichten und deportieren.

Besondere Situation der Krim

Die Entwicklung der Krim war anders. 1474 wurde die Halbinsel Teil des Osmanischen Reiches. In der Folge des Russisch-Osmanischen Krieges von 1768 bis 1778 konnte Katharina II. die Krim ans Zarenreich anschließen. Und dort blieb sie. Auch der Krimkrieg (1853-1856) änderte langfristig nichts am Status Quo der Halbinsel.

Wenn heute aus Ankara harte antirussische Töne klingen, ist das Tradition. Es gab in den letzten 500 Jahren elf blutige russisch-türkische Kriege rund ums Schwarze Meer. Auch im Ersten Weltkrieg standen sich Russland und das Osmanische Reich unversöhnlich gegenüber.

Die Krimtataren haben ein gespaltenes Verhältnis zu Moskau. Sie hatten im Schatten der Revolution von 1917 einen eigenen Staat namens Taurien ausgerufen, der jedoch nach nur wenigen Wochen von den Bolschewiki zerschlagen wurde. Unter Stalin wurden die Krimtataren nach Zentralasien deportiert. Erst seit Gorbatschows Glasnostpolitik und dem anschließenden Zusammenbruch der Sowjetunion durften die Tataren auf die Krim zurückkehren.

Die Krim stellt in der Ukraine eine demographische Ausnahme dar, weil sie das einzige Verwaltungsgebiet der Ukraine ist, in dem die Ukrainer eine Minderheit sind. Sie stellen nur knapp ein Viertel der Bevölkerung. Die Mehrheit der Bewohner sind Russen. In Sewastopol liegt zudem die russische Schwarzmeerflotte vor Anker. Für Russland ist die Krim geostrategisch von höchster Bedeutung.

Ethnische Differenzen dürfen kein Grund mehr für Kriege sein

Die nationalistische Vorstellung, dass in einem Land ein Volk, eine Sprache, eine Kultur zu herrschen habe, hat das 20. Jahrhundert zur Epoche der Weltkriege und Genozide werden lassen. Für die Krim, die Ukraine und Russland lässt sich nur hoffen, dass man aus der Geschichte gelernt hat und es nicht zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: H.R.Vogt

Auch das heutige Rußland ist wie die UdSSR noch immer ein Vielvölkerstaat mit unterschiedlichen einander bekämpfenden Religionen und sehr unterschiedlichem Bildungsniveau der einfachen, kleinen Leute. (Atheisten sind mit Verlaub doch schließlich auch mehr oder minder fanatische Gläubige Gläubige! )
Da Putin kein Idiot ist, wird er hoffentlich auch wissen, welchen Tiger er reitet, wenn er die nationalen und religiösen Unterschiede in seinem Neo- Zarenreich zur sehr strapaziert.
Sehr leicht könnte er damit den weiteren Zerfall des Landes provozieren.

BTW
Gab es im Zarenreich nicht auch schon vor dem 20 ten Jahrhundert Pogrome, ethnische Säuberungen und Massenhinrichtungen?
Die Menschenrechte sind eine relativ neue Errungenschaft der Menschheit!

Gravatar: Voltaire

"..Ethnische Säuberungen der Waffen-SS erreichten ihren perversen Höhepunkt...."
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Sie haben sicher nicht die " Waffen-SS", sondern vorwiegend die "Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD" gemeint.

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