Perspektivwechsel in der Familienpolitik

Familienpolitik hat Konjunktur. In Zeiten des Wahlkampfes gilt es vor allem für die Christdemokraten, sich der  Stimmen der Familien zu versichern. Foto: FreieWelt.net, EU-Parlamentspräsident Hans-Gerd Pöttering, CDU, als Schirmherr auf dem IDAF-Symposium "Bindung, Bildung, Innovation"

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Im Wahlprogramm der Union liegt - laut Spiegel online - angeblich sogar ein Schwerpunkt auf der Familienpolitik. Wie ernst es CDU-Politikern tatsächlich mit der Familie ist, konnte man am 29. Juni nachmessen. Während Merkel und Seehofer in der Kongresshalle am Berliner Alexanderplatz das Wahlprogramm der Union vorstellten, sprach nur  wenige Minuten davon entfernt in der Landesvertretung NRW die versammelte familienpolitische Kompetenz der Republik.

Über ein Dutzend renommierte Wissenschaftler und Experten präsentierten auf einem Symposium die einschlägigen, maßgeblichen Erkenntnisse aus Forschung und Praxis zur Bedeutung der Familie für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft. Von den eingeladenen Bundestagsabgeordneten erschien dagegen keiner! Daran wird ersichtlich, welche Bedeutung die familienfreundlichen Floskeln im Wahlprogramm für die familienpolitische Praxis der Union nach der Wahl haben werden: vermutlich keine.

Ein CDU-Parlamentarier war dennoch anwesend, wenn auch kein Bundestagsabgeordneter. Hans-Gerd Pöttering, CDU-Europaabgeordneter und Präsident des EU-Parlaments, hatte die Schirmherrschaft über die vom Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie (IDAF) organisierte Tagung übernommen. In seinem Beitrag zur Tagung konzentrierte sich der hochrangige Christdemokrat allerdings mehr auf aktuelle europapolitische Themen wie Klimaschutz und Lissabonvertrag. Immerhin bezeichnete Pöttering die EU als eine „Wertegemeinschaft“, die sich auf Werte stütze, zu denen auch die Familie gehöre, als „die kleinste und wichtigste Gemeinschaft in unserem Leben“.

Die Tagung stand unter dem Motto „Bindung, Bildung, Innovation“, wobei „Bindung“ der entscheidende Begriff ist. Gemeint ist die frühkindliche Bindung zwischen Baby und Mutter bzw. Eltern. Es geht um die Frage, wie die Grundlagen für Bildungserfolg und Innovationskraft eines Menschen in seiner frühkindlichen Hirnentwicklung gelegt werden.

Bei vielen Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Politik fehlt bisher die Sensibilität dafür, daß die Zukunftschancen eines Landes auch vom Umgang mit den kleinsten Mitgliedern der Gesellschaft, den Babys und Kleinkindern, abhängen. Dies zeigte sich beispielhaft an den Tagungsbeiträgen des ehemaligen Ministers und jetzigen Vorsitzenden der Telekom-Stiftung, Dr. Klaus Kinkel, und des Geschäftsführers der Telekom-Tochter T-Systems, Reinhard Clemens.

Kinkel und Clemens klagten einmal mehr über den absehbaren Ingenieurs- und Akademikermangel und plädierten für mehr Investitionen in die Bildung des Humankapitals als wichtigster Ressource für den Standort Deutschland. Clemens forderte mehr Bildungswettbewerb, Vereinheitlichung von Bildungsstandards, Förderung der „digitalen Kompetenz“, effizientere Verwaltungsstrukturen und Verbesserung der Lehrer- und Erzieherausbildung. Kinkel plädierte darüber hinaus besonders für den Ausbau der „frühkindlichen Bildung“, nicht zuletzt um die Chancengleichheit von Migranten- und Unterschichtskindern zu gewährleisten. Dafür seien mehr Kita- und Krippenplätze bereitzustellen, am besten kostenlos, und die Ausbildung der Erzieherinnen zu verbessern, am besten an Fachhochschulen. Zudem befürwortete er eine Umstellung von Halbtags- auf Ganztagsschule sowie eine stärkere Abschöpfung der Innovationskraft von Frauen am Arbeitsmarkt. Man spiele hinsichtlich der Frauenerwerbstätigkeit "mit der Hälfte der Mannschaft auf der Reservebank". Den Aspekt der frühen Eltern-Kind-Bindung blendeten Kinkel und Clemens in ihren Lösungsvorschlägen konsequent aus, also gerade den entscheidenden Ansatz für einen Perspektivwechsel in der Familien- und Bildungspolitik.

Wie notwendig ein solcher Perspektivwechsel wäre, läßt sich anhand einschlägiger Forschungsergebnisse aus Hirn- und Bindungsforschung, Entwicklungspsychologie, Medizin und empirischer Sozialforschung sehr gut zeigen. Genau zu diesem Zwecke waren ja zahlreiche Wissenschaftler und Fachleute zu der internationalen Tagung erscheinen, darunter der in Toronto, Kanada lehrende Psychologe Stuart Shanker, der Kinder- und Jugendpsychologe Wolfgang Bergmann, der Psychoanalytiker Ludwig Janus, der Präventivmediziner Roland Grossarth-Maticek, die Tel Aviver Psychotherapeutin Carmelite Avraham-Krehwinkel, der US-Soziologie F. Patrick Fagan, der Präsident des Deutschen Lehrervebandes Josef Kraus, der Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Düsseldorf Thomas Köster, der Präsident des Deutschen Familienverbandes Albin Nees und viele andere.

Einige besonders wichtige Erkenntnisse seien hier kurz herausgegriffen: Stuart Shanker, ein Schüler des berühmten Kinderpsychologen Stanley Greenspan, erläuterte dessen Kernthese, daß die Emotionen die "Architekten des Gehirns" sind. Die Fähigkeit zur Selbstregulation emotionaler Prozesse im Gehirn entscheide letztlich über Persönlichkeit und Lernerfolg des Menschen. Babys und Kleinkinder erlernen Selbstregulation durch „emotionale Interaktion“ mit einer engen Bezugsperson, meist der Mutter. Dieser Prozeß erfordert viel Zeit und Zuwendung, wenn er gelingen soll. Eine Erzieherin, sei sie auch noch so gut, könne schon angesichts der Vielzahl der zu betreuenden Kinder diese Zeit und Zuwendung kaum in ähnlich optimaler Weise aufbringen wie die eigene Mutter, so Shanker.

Diese Erkenntnisse aus Psychologie und Hirnforschung finden eine wichtige Bestätigung in den Ergebnissen empirischer Langzeitstudien. Roland Grossarth-Maticek präsentierte eine sehr differenzierte, seit 1971 bis in die späten 90er Jahre hinein gelaufene Untersuchung, die eindrucksvoll aufzeigt, wie nicht nur die Persönlichkeitsbildung, sondern auch die spätere gesundheitliche Verfassung des Menschen von der frühkindlichen Mutter-Kind-Bindung abhängen.

Eine weitere aufschlußreiche Gegenüberstellung der empirisch fassbaren Auswirkungen von „Bindungsmangel“ und "Bindungsfülle" in der frühkindlichen Sozialisation gelang in zwei direkt aufeinanderfolgenden Kurzreferaten von Dr. Avraham-Krehwinkel und Dr. F. Patrick Fagan. Avraham-Krehwinkel referierte über die statistisch ausgewiesenen niedrigen Erfolgsquoten der zweiten Kibbuzgeneration in Israel. Die Kibbuzkinder, bewußt elternfern in Gleichaltrigengruppen aufgezogen, mit dem offen propagierten Ziel, den von Traditionen und Familienzwängen befreiten „Neuen Menschen“ zu schaffen, haben heute in statistisch signifikanter Weise mit Identitäts- und Persönlichkeitsproblemen zu kämpfen. Dem stellte Fagan die statistisch nachweisbaren Erfolgsquoten der „Homeschool“-Kinder in den USA gegenüber, die in allen Bildungbereichen signifikant bessere Ergebnisse erzielen, als die gleichaltrige Vergleichsgruppe.

Trotz der Fülle der präsentierten wissenschaftlichen Ergebnisse zeigte sich Uta Rasche von der politischen Redaktion der FAZ in der Diskussion immer noch nicht überzeugt. Sie glaube nicht, so Frau Rasche, daß es sich irgendwie nachweisen lasse, daß aus „zu Hause erzogenen Kindern eines Tages die besseren Manager“ werden. Sie kenne keine Studie, die das belege. Tatsächlich wurde eine Studie mit exakt dieser Fragestellung bisher wohl nicht durchgeführt. Man betrete in vieler Hinsicht Neuland, räumte der Tagungsleiter Jürgen Liminski ein. Doch wurde mancher durch die Tagung bereits nachdenklicher gestimmt. Klaus Kinkel berichtete in der Diskussion kurz aus seiner 5 1/2 jährigen Erfahrung in der Telekomstiftung. Dort sei vor allem im absoluten Exzellenzbereich fast in jedem Fall die Elternhausvorprägung erkennbar gewesen. Der Weg in die Exzellenzsphäre führe oftmals tatsächlich über eine eingebettete Kindheit. Warum die Telekomstiftung ihre Gelder dann nicht, statt in Kindertagesstätten, mehr in die Kompetenzen der Familie, und in die Bestärkung der Familie, ihre Kinder selbst zu fördern, investiere, wollte die Psychologin Consuelo von Ballestrem von Kinkel wissen. Eine Stiftung allein könne das nicht leisten, obwohl es wünschenswert wäre, entgegnete der ehemalige Minister.

In der Tat läßt sich der Perspektivenwechsel in der Familienpolitik nur als gesamtgesellschaftliche Herausforderung begreifen. Bisher ist in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft noch viel zu wenig getan worden, um die Erkenntnisse der Wissenschaft zur Bedeutung der frühkindlichen Bindung in der Breite zu verankern und das familienpolitische Handeln entsprechend anzupassen. Ein schweres Versäumnis, angesichts der großen strategischen Bedeutung dieser Frage für die Zukunft des Landes. Eine Fortsetzung und Intensivierung des wichtigen und notwendigen Dialoges zwischen Wissenschaftlern, Familien und den Verantwortungsträgern in der Gesellschaft ist daher dringend angezeigt.

Ein Band mit den Tagungsbeiträgen ist in Vorbereitung.

FreieWelt.net will zu einem Perspektivwechsel in der Familienpolitik beitragen. Eine Serie von Gesprächen mit Wissenschaftlern, familienpolitischen Experten und Familienpolitikern soll diesen Perspektivwechsel bis zur Bundestagswahl auf allen Seiten befördern.

Eine Bildergalerie der Tagung finden Sie hier

Lesen Sie auch den Kommentar von Jürgen Liminski und das Interview mit Josef Kraus

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