Ukrainekrise

Osteuropa im Misstrauensdilemma

Die Länder Osteuropas trauen sich nicht über den Weg. Polen, das Baltikum und die Ukraine fürchten Russlands Dominanz. Doch es steckt mehr dahinter als die Erinnerung an die Sowjetherrschaft.

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Osteuropa steckt im Dilemma. Russland befürchtet ein weiteres Vorrücken der NATO. Polen, die baltischen Länder, die Ukraine und Moldawien wollen sich dagegen vor der Dominanz Moskaus schützen. Eine diplomatische Lösung der Ukrainekrise ist nicht in Sicht, solange dieses Mistrauensdilemma ungelöst bleibt.

Es gibt Ereignisse, die sich tief ins kollektive Gedächtnis der Völker eingebrannt haben. In Israel ist es beispielsweise die Erinnerung an den Exodus, die Diaspora und den Holocaust. Ohne ihre Kenntnis ist ein Verständnis der Kultur, Gesellschaft und Politik des Landes nicht möglich.

In Deutschland dominiert die kollektive Erinnerung an die beiden Weltkriege und an die Teilung Europas während des Kalten Krieges. Viele osteuropäische Tragödien dagegen sind den Menschen im Westen nicht mehr bekannt, im öffentlichen Diskurs nicht mehr präsent. Doch im Osten bleibt die Erinnerung an sie lebendig.

Diese Erinnerungen schwingen mit, wenn Polen, Balten, Ukrainer und Russen politisch verhandeln. Sie sind Grund für tiefes gegenseitiges Misstrauen.

Die Kriege des 20. Jahrhunderts haben in Osteuropa hohen Blutzoll gefordert, besonders der Zweite Weltkrieg. Der Unterschied zwischen Ostfront und Westfront während des Zweiten Weltkrieges wird deutlich, wenn man sich eine Linie durch Europa von Norden nach Süden denkt, die mitten durch Berlin führt. Zählt man die Verluste an Menschenleben westlich dieser Linie, kommt man insgesamt auf etwa 3 Millionen. Zählt man die Verluste an Menschenleben östlich dieser gedachten Linie, kommt man auf eine Zahl zwischen 30 und 35 Millionen. Diese Zahl veranschaulicht schlagartig den Horror der Ostfront. Sie war die Hölle des totalen Krieges, der Partisanenkämpfe, der verbrannten Erde, der Massaker, Deportationen, Vernichtungslager und Ghettos.

Doch der Horror des Zweiten Weltkrieges steht nicht isoliert im Raum. Für viele Osteuropäer war die Geschichte vor und nach dieser Zeit nicht weniger bitter und grausam. Sie ist geprägt von Bürgerkriegen, politischen Verfolgungen, Arbeitslagern und Massendeportationen. Die Erfahrungen lassen noch heute die Gemüter erhitzen. Hier einige Beispiele:

Russische Revolution und russischer Bürgerkrieg

Im Ersten Weltkrieg hatte das russische Zarenreich große Verluste im Kampf gegen das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn hinnehmen müssen. Von insgesamt 12 Millionen mobilisierten russischen Soldaten kehrten fast zwei Millionen nicht aus dem Krieg zurück.

Doch das war nur der Auftakt. Mit der Februarrevolution 1917 wurde Zar Nikolaus II. gestürzt. Dann folgte die kommunistische Oktoberrevolution und mit ihr der russische Bürgerkrieg der Roten Armee gegen die Weiße Armee, Demokraten, Anarchisten, Freisozialisten und Separatisten. Bis zur Vollendung der Sowjetunion im Sommer 1923 waren bei diesem Bürgerkrieg fast 2 Millionen Soldaten und 10 Millionen Zivilisten ums Leben gekommen.

Ukrainische Unabhängigkeit und ukrainischer Bürgerkrieg

Unmittelbar nach der Oktoberrevolution 1917 wurde die Ukrainische Volkrepublik ausgerufen, die bis 1920 faktisch unabhängig war. Nach dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk zwischen den Mittelmächten und Sowjetrussland im April 1918 wurde mit deutscher Unterstützung der unabhängige »Ukrainische Staat« gegründet, der als Monarchie und somit als Gegenprojekt zur Ukrainischen Volksrepublik gedacht war. Prompt folgte ein Volksaufstand und Bürgerkrieg. Im Dezember 1918 wurde Kiew von der ukrainischen Volksarmee zurückerobert, die Ukrainische Volksrepublik wieder hergestellt.

Parallel wurde nach dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Donaumonarchie in Galizien die Westukrainische Volkrepublik gegründet. Kaum unabhängig, wurde die Westukraine in den russisch-polnischen Krieg hineingezogen. Polen beanspruchte bei seiner Ostausdehnung die Herrschaft über Ostgalizien und Wolhynien, einem Gebiet mit polnisch-ukrainischer Mischbevölkerung. Am Ende fiel dieses Gebiet Polen zu. Der Rest der Westukrainischen Volkrepublik wurde 1919 mit der Ukrainischen Volksrepublik vereinigt.

Die anarchistische Tradition der Ostukraine

Heutzutage bestimmen die Separatisten der Ostukraine die Presseschlagzeilen. Das hat Tradition. Von 1917 bis 1922 war die Region das Reich der Anarchisten. Das ist nicht im negativen Sinne als Chaos zu verstehen. Im Schatten der russischen Revolution konnte der Anarchist Nestor Machno mit seiner Partisanenbewegung die ostukrainischen Bauern von der Grundherrschaft und Leibeigenschaft befreien.

Die basisdemokratischen Ideen der rebellischen Bauern ähnelten jenen der Bauernaufstände im frühneuzeitlichen Mitteleuropa. Ideologischer Hintergrund in der Ukraine war der Anarchokommunismus der russischen Vordenker Michail Bakunin, dem Gegenspieler Marxens bei der ersten Internationalen, und Fürst Pjotr Kropotkin.

Auf ihrem Höhepunkt versammelten sich mehr als hunderttausend anarchistische Partisanen hinter Machno. Sie kontrollierten ein Gebiet mit einer Bevölkerung von mehr als 7 Millionen Ostukrainern. Anfangs Verbündete der Kommunisten, wurden die Anarchisten schließlich von den Bolschewisten unter Leo Trotzki blutig niedergeschlagen.

Das polnisch-russische Trauma

Noch im 18. Jahrhundert dominierte Polen große Teile Osteuropas. Dann wurde es aufgeteilt wie ein Kuchen: 1772, 1793 und 1795 nahmen sich Russland, Preußen und Österreich jeweils ein Stück, bis Polen als Staat von der Landkarte verschwunden war. Nach dem Ersten Weltkrieg sorgten die Westmächte für ein Wiederauferstehen Polens. Doch mit dem Grenzverlauf waren die Polen nicht zufrieden. Sie wollten die Grenzen von 1772 wieder herstellen. Das gefiel Sowjetrussland nicht.

So kam es zum polnisch-sowjetischen Krieg von 1919-1920. Der wechselnde Frontverlauf forderte mehr als hunderttausend Menschenleben. Am Ende konnte Polen mit dem Frieden von Riga rund 250 Kilometer Gebietsgewinn nach Osten verzeichnen.

1939 war mit dem Hitler-Stalin-Pakt das Staatsgebiet perdu. Es kam zur vierten polnischen Teilung. Die Sowjets waren bei ihrer Annektierung Ostpolens nicht zimperlich. Das Massaker von Katyn, bei dem im Frühjahr 1940 rund 4.400 polnische Offiziere ermordet wurden, war nur Teil einer größeren Kampagne, der 25.000 polnische Offiziere, Lehrer, Intellektuelle und Staatsbeamte zum Opfer fielen.

Nach dem für Polen verlustreichen Zweiten Weltkrieg wurde das Land um hunderte Kilometer nach Westen verrückt, eine Gebietsverzerrung zugunsten der Sowjetunion. Die anschließende Zeit des Warschauer Paktes war geprägt von erzwungener Freundschaft sozialistischer Bruderstaaten, die eine freie Entwicklung Polens verhinderte.

Polen wird diese Lektionen niemals vergessen. Wer kann es ihnen verübeln, wenn sie heute als »neues Europa« den Schutz an der Seite der USA suchen?

Der Holodomor 1932-1933

Stalin und Hitler könnten sich die Hände reichen, wenn es darum geht, als schlimmste Schreckensherrscher in die Geschichte einzugehen. Der Holodomor in der Ukraine war ein Tiefpunkt des Stalinismus. Zwangskollektivierungen und Nahrungsmittelrequirierungen führten bei gleichzeitiger Misswirtschaft zur größten Hungerkatastrophe Europas.

»Holodomor« bedeutet »Hungertod«. 3-8 Millionen Ukrainer starben 1932-1933 an Hunger. Die genaue Zahl kennt niemand. Entsetzliche Szenen von ausgemergelten Kindern, Blätter und Gräser essenden Menschen und Fälle von Kannibalismus brannten sich in das Gedächtnis der Ukrainer ein. Sie geben Stalin die Hauptschuld für diese Tragödie, denn die Unterlassene Hilfeleistung war Teil einer politischen Strafkampagne gegen die aufsässige Bevölkerung. Russische Historiker versuchen die Ereignisse zu relativieren. Noch heute spaltet die Kontroverse darüber Russland und die Ukraine. Seit ihrer Unabhängigkeit 1991 bemüht sich die Ukraine um die internationale Anerkennung des Holodomors als Völkermord.

Die Ukrainische Aufständische Armee (UPA) im Zweiten Weltkrieg

Während in der Ostukraine die Rotarmisten und Partisanen gegen die Wehrmacht kämpften, kollaborierte im Westen des Landes die ukrainische UPA anfangs mit den Deutschen. Schließlich jedoch kämpfte sie gegen alles und jeden: gegen Deutsche, gegen die polnischen Befreiungstruppen und gegen die Rote Armee. Ziel war eine unabhängige und ethnisch-reine Ukraine.

Die UPA war radikal in ihrer Ideologie und brutal in ihrem Vorgehen. In Ostgalizien und Wolhynien wurden bis zu 100.000 ethnische Polen massakriert. Nach Abzug der Wehrmacht konzentrierte die UPA ihren Kampf gegen die Rote Armee und ging nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in den Untergrund, wo sie noch fünf Jahre gegen die Sowjetherrschaft kämpfte. Heute ist es vor allem die faschistische Svoboda-Partei, die die Erinnerung an die UPA hochhält.

Was ist heute zu tun?

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Paktes war der Weg für Demokratie und Freiheit geebnet. Doch mit dieser Öffnung kehrte auch der Nationalismus zurück. Die Erinnerungen an die Kriege und Revolutionen, an die Unterdrückungen und nationalen Befreiungen leben wieder auf.

Nun gilt es, die alten Wunden zu heilen. Nur eine sensible Diplomatie und die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Bündnissystems als politisches Sicherheitskonzept können den Rahmen dafür geben. Ansonsten werden die alten Wunden wieder aufgerissen.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Stephan Achner

Die alten Wunden in der Ukraine sind schon längst wieder aufgerissen - mit kräftiger Unterstützung durch die historisch ahnungslosen EU-Funktionäre! Ansonsten gäbe es den nur ethnisch zu begründenden Bürgerkrieg in der Ost-und Süd-Ukraine nicht.

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