Heiraten oder brennen, Teil III
Der Staatsrechtslehrer Hans Kelsen vertrat in seinem Aufsatz »Die platonische Liebe« aus dem Jahre 1933 die heute überraschende Ansicht, dass sich aus dem homosexuellen Eros »eine ausgesprochen aristokratisch-konservative, antidemokratische Grundeinstellung« ergebe. Weil die Eigenart des Homosexuellen immer Ausnahme bleibe, müsse ein soziales Schema postuliert werden, »das nicht den Grundsatz des gleichen, sondern des ungleichen Rechts darstellt; es muß ein Sonderrecht, eine Sonderstellung für die wenigen geben, die anders sind als die Vielen und die, sofern sie ihr Minderwertigkeitsgefühl überwinden und sich überhaupt positiv zur Gesellschaft einstellen, dies nur in der Weise tun können, daß sie sich besser als die anderen dünken, sich für wertvoller als die große Menge halten. Dem homosexuellen Eros kann, angesichts der fundamentalen Ungleichheit, die er mit seiner Existenz beweist, nichts verhaßter, nichts widernatürlicher, nichts ungerechter erscheinen als die Gleichheit der Demokratie.« Zwar ist die demokratische Gleichheit nach wie vor in aller Munde, aber eine Vielzahl von Vorkommnissen zeigt, dass diesem Lippenbekenntnis zum Trotz all das als Homophobie aus dem demokratischen Wettbewerb der Meinungen ausgeschlossen wird, was der Durchsetzung zu erobernder Rechte als kritische Frage oder ernsthaftes Bedenken in die Quere kommt; die Forderung ist berechtigt, weil sie erhoben wird.
Das mag sein Gutes haben. Möglicherweise waren tyrannische und totalitäre Verhältnisse der Liebe stets förderlicher als demokratische oder liberale, aber diese Liebe war dann die Nische, die vor den Zumutungen der Staates oder der Gesellschaft schützte, und deshalb war sie auch so kostbar. Dass aber jenes schweizerische Gesetz die Liebe fördert, mag glauben wer will; es wird nicht passieren. Um zu verdeutlichen, welche Art von menschlichen Verhältnissen damit auf uns zukommen, übersetze ich probeweise die Stellungnahme der oben zitierten Berliner Gender-Fachschaft: »Eine LGBT-Person [für »lesbisch«, »gay«, »bi« und »trans«] braucht weder die Erlaubnis einer heterosexuellen Person, um gegen Homophobie zu intervenieren, noch ist sie ihr Rechenschaft oder Auskunft schuldig. Deswegen sind die tatsächlichen Gender-Positionierungen an dieser Stelle auch irrelevant. Das Nachfragen an sich, als auch der Glaube, ein Recht auf eine Antwort zu haben, sind in diesem Zusammenhang homo- bzw. transphob.«
Wenn schon Nachfragen nicht mehr erlaubt sind, bricht zuerst das Gespräch ab und dann der Kontakt. Bestenfalls passiert gar nichts mehr. Das muss man sich leisten können. Die meisten Menschen sind auf Kontakt angewiesen, auch auf Kontakt zu jenen Menschen, die eine andere Meinung haben als sie selbst. Manchmal hat sogar der eigene Lebenspartner eine andere Meinung, was dann? Wer daraufhin nicht nur den Kontakt abbricht, sondern außerdem die Erfüllung seiner Forderungen an den Staat delegiert, agiert unmenschlich. Er regt eine totalitäre Politik an, weil der Staat plötzlich etwas leisten soll, was bislang Privatsache war, die Schlichtung von Streit oder die Zeugung von Kindern. Er setzt den Staat an die Stelle seiner persönlichen Verantwortung. Fortan muss der Staat Entscheidungen über knappe Reproduktionsressourcen treffen und zum Beispiel entscheiden, wer wie viele Kinder bekommen darf und wer nicht. Das bedeutet über kurz oder lang, dass dem Staat eine Neuauflage der Eugenik angedient wird, weil er Kriterien für Entscheidungen über die Weitergabe des Lebens ausbilden muss, nach denen bislang niemand gefragt hat, weil die Fortpflanzung mehr oder weniger Privatsache war. Statt der Familie näher zu kommen, haben wir uns ziemlich weit von ihr entfernt.
Wer das natürliche Defizit der Homosexualität künstlich lösen will, indem er die Staatsaufgaben ausweitet, bemüht auf diesem Umweg die funktionierende Natur der heterosexuellen Bevölkerung. Wenn die gleichgeschlechtliche Neigung, mit Goethe gesprochen, Teil der Natur und zugleich gegen sie ist, dann zeigt sich auch hier wieder, dass der Konflikt mit der Natur nicht verschwindet, sondern dass er sich nur auf eine andere Ebene verlagert, wenn er unbedingt verschwinden soll. Offenkundig kann das Problem der Homosexualität auf der Ebene der Homosexualität nicht gelöst werden. Es könnte aber in seinen eigenen Grenzen anerkannt und bedauert werden, es könnten diejenigen, die unter ihm zu leiden haben, klagen und trauern. Und sie könnten für ihr Leid bemitleidet werden, statt es bei anderen abzuladen wie es die Mutter tut, die ein anderes Kind stiehlt, nachdem ihr eigenes verstorben ist.
Die Selbstverwirklichung, wenn es sie überhaupt gibt, war andererseits schon immer auf »Fremdverwirklichung« angewiesen. Die Selbstverwirklichung bedarf sowohl der Mitwirkung »Fremder« als auch der Modellierung anderer nach dem Vorbild des eigenen Selbst, ob die anderen das wollen oder nicht. Deshalb ist die Geschichte der Emanzipationsbewegungen leider auch eine Geschichte entrechtender Übergriffe. Schon die frühe Feministin Margaret Sanger (1879‒1966) war eine Anhängerin von Geburtenkontrolle und Eugenik. Wer den Frauen ein Recht auf Abtreibung konzedieren will, muss die Mitspracherechte des Vaters leugnen. Er muss dessen Autorität durch eine andere ersetzen. In der Regel ist das die des Staates, der schließlich die Gesetze macht, die das Mitspracherecht des Vaters ausschalten.
Der Ausgangspunkt einer geschlechts- oder neigungsspezifischen Emanzipation ist naturgemäß und verständlicherweise nicht das Wohl der anderen, auch nicht das Wohl der Gemeinschaft, sondern das des eigenen Begehrens und der eigenen Community. Das ist nicht verboten, aber es ist auch nicht gerade sozial. Vorkämpfer des Feminismus und der Homosexualität sagen regelmäßig, woran es ihnen fehlt, aber nicht, was sie zu bieten haben. Sie erinnern an Leute, die unbedingt eingeladen werden wollen und niemals auf die Idee kommen, selber eine Party zu veranstalten. Ihre Ansprüche sind die eines Bettlers, der, wenn er nicht sofort eine Münze in die Hand gedrückt bekommt, lauthals »Diebstahl!« ruft.
Diese verbreitete Ignoranz gegenüber den Wünschen der anderen, diese Verweigerung des Kontakts, dieser völlige Verzicht auf Gespräch und Verhandlung, auf Diskussion und Diplomatie, auf Werbung und Gegenleistung würde in jeder alltäglichen zwischenmenschlichen Situation als manifest verrückt gelten. Die resultierenden Fehlschaltungen sind denn auch ohne Zahl: Selbstverwirklichung wird mit Fremdverwirklichung verwechselt, Geben mit Nehmen, Wohlfahrt mit Selbstverantwortung, Erotik mit Liebe, Liebe mit Sexualität, Sexualität mit Identität, Vater mit Mutter und Vermehrung mit Fortpflanzung: »Am Ende des Schwundes der alten Werte, die nicht mehr transzendiert, sondern unterdrückt werden, nähert man sich einem Zustand wechselseitiger Neutralisierung.« (Denis de Rougemont) Nun soll die Politik es richten. »Ein neues, noch nicht vorherzusehendes Abendland wird in den Laboratorien entstehen«, prophezeite erstaunlicherweise schon Rougemont. Die Politik muss früher oder später die entsprechenden Genehmigungen dafür erteilen und wird dabei von jenen glücklichen Exemplaren der Menschheit unterstützt, die selbst gar nicht betroffen sind, die aber aus lauter Schuldgefühl den kaukasischen Kreidekreis nicht erkennen und jedem alles ermöglichen wollen. In Wahrheit bedienen sie, ohne es zu merken, eine tyrannische Struktur. Vielleicht tun sie es aus Heuchelei, vielleicht aber auch aus Liebe zur Liebe. Um des Lebens willen!
Aber es ist nicht das Leben. Dieselben Leute, die im Namen von Liebe und Leben alles begrüßen, verweigern plötzlich die Antwort, wenn die Frage lautet, ob in Deutschland die Leihmutterschaft erlaubt werden soll. Wer weiß schon, was sich hinter dem harmlosen Wort verbirgt? Eva Maria Bachinger schreibt, für die Leihmutterschaft sei »alles zusammen nötig: Samenspende, Eizellspende und IVF [In-vitro-Fertilisation]. Der Zyklus von zwei Frauen wird überwacht, mit Hormonen ausgeschaltet, die eine muss Hormone nehmen, damit sie genügend Eizellen produziert, die ihr narkotisiert entnommen werden, die andere, damit sich ihr Körper auf eine Schwangerschaft vorbereitet. Sie muss den Transfer erdulden sowie ein engmaschiges Kontrollsystem, in der Schwangerschaft.« Ein schwules Paar benötigte zwei Leihmütter, weil die Einnistung mehrmals scheiterte, und einer der beiden Männer sagt: »Es gibt dazwischen jeweils einen Monat Pause, bis die Mutter wieder fit ist. Wir haben nach höchstens drei Versuchen die Frau gewechselt, weil wir sie nicht belasten wollten.«
Die Leihmutterschaft hat eben nichts mehr mit Liebe zu tun und nichts mehr mit persönlichen Gefühlen, wie es auch nichts mit persönlichen Gefühlen zu tun hat, den Gegenstand des Begehrens, den heißesten »Typ«, weit im voraus einer Begegnung zu definieren. Viel eher ist es der Modus der äußersten Entpersönlichung, die sich denken lässt, ganz gleich, ob es sich um eine Vorliebe für Männer oder Frauen, für lange Beine, starke Muskeln oder große Busen handelt: »Während sich das Begehren immer [!] ein wenig fetischistisch auf Partialobjekte im Anderen wie die Brüste, den Hintern oder den Penis richtet, ist die Liebe gerade an das Sein des anderen gerichtet, an den anderen, wie er mit seinem Sein bewaffnet in mein Leben getreten ist und es damit zerbrochen und neu zusammengesetzt hat.« (Badiou) Mit einem abstrakten, von der anderen Person abgelösten Einzeleindruck beginnt keine Beziehung, noch weniger eine Ehe, und zuallerletzt kann der Fetisch der Anfang einer gelingenden Familiengründung sein. Und trotzdem reicht die jeweilige Gruppenzugehörigkeit der Anspruchsteller anscheinend völlig aus, um ihre Forderungen für gerechtfertigt auszugeben.
Das ist ein epochaler Vorgang. Nachdem die Politik im 20. Jahrhundert die individuellen Leidenschaften auf die Ebene erst des nationalen, dann des globalen Kollektivs übertragen hat, um Massenwirtschaft, Massenpolitik und Massenkriege zu ermöglichen, scheint es immer schwieriger zu werden, die Leidenschaften zu reprivatisieren und, zum Beispiel, ohne Hilfe aus der Politik »Familie zu leben«. Die Leidenschaft des kleinen Mannes wurde von der Politik aber noch nie befriedigt, sondern immer nur enttäuscht. Enttäuschte Leidenschaft tobt sich aus im Bedürfnis nach Revanche. Der Vergewaltiger bezwingt die Frau, die sich ihm entzieht, und der schwule »Familienvater« erzwingt über künstliche Befruchtung und Leihmutterschaft das Kind, das er anders nicht bekommen kann oder will. Dazu kommen mörderische Exzesse: Die ziellos umherirrende Libido mündet immer öfter in Amokläufe. Sie kommt den Terroristen des Djihad genauso zugute, wie sie in den Freikorps des frühen 20. Jahrhunderts ein willkommenes Ventil fand. Keineswegs lassen die neuen Möglichkeiten den persönlichen Antrieben der Leidenschaft freien Lauf. Die Leidenschaft wird zwar gesteigert, aber sie wird gesteigert, bis die Steigerung in ihre Leugnung kippt, in das Ende aller Leidenschaft. Der Tod eines Drogensüchtigen oder eines Selbstmordattentäters ist der Kreuzungspunkt von höchstem Begehren und endgültigem Nichtbegehren. An diesem Punkt ist die Person ein für allemal verschwunden.
Aus »Homosexualität gibt es nicht« von Andreas Lombard, Berlin (Edition Sonderwege) 2015
Der erste Teil erschien auf »Freie Welt« am 17.03. (Do), der zweite Teil am Freitag. Die vierte Folge kommt am 23.03. (Mi).
Kommentare zum Artikel
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Bisher hab ich ja dem berühmten Satz von Pobereit-sorry, ich meinte Wowereit :...und das ist gut so! zugestimmt, er vermehrt sich zum Glück nicht. Aber so geht das ja doch! Warum wird denn in diesen Fällen,ebenso wie bei dem Thema Adoption , nicht an das Kindeswohl gedacht??? Da werden doch psychologische Krüppel erzeugt ,die wahrscheinlich unheilbar sind.