Migration und soziale Spannungen

Grenzen des Multikulti

Europa wird multikultureller. Wie weit dieser Weg beschritten werden kann, hängt von der Akzeptanz der Bevölkerung und von sozialen Unterschieden ab. Doch die Politik hat dafür kaum Gespür.

Foto: Metropolico/ flickr.com/ CC BY-SA 2.0
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Bald steht der EU-Gipfel zur Migrationskrise an. Angela Merkel hat Deutschland politisch isoliert. Doch nicht nur die aktuelle Bewältigung der Einwanderung aus dem Nahen Osten und Nordafrika wird das Thema sein. Die Staaten werden sich zwangsläufig auch mit grundsätzlichen Fragen der Einwanderungspolitik beschäftigen müssen. Denn wenn man diesbezüglich keinen gemeinsamen Nenner findet, ist der Zusammenhalt in der EU ernsthaft gefährdet.

Das Problem ist, dass die meisten europäischen Länder kein modernes Einwanderungsrecht haben. Es wurde zu wenig darauf geachtet, wie sich bestimmte Formen der Immigration auf die Gesellschaft langfristig auswirken und wie die Reaktionen der Bevölkerungen ausfallen könnten. Stattdessen wurden Migrationsfragen nach ideologischen und kurzfristig renditeträchtigen (Stichwort: „Gastarbeiter“) Beweggründen entschieden. Über die Auswirkungen auf die Zukunft wurde zu wenig nachgedacht.

Die am meisten unterschätze Herausforderung: Wenn kulturelle Unterschiede mit sozialen zusammenfallen, kann es zu gesellschaftlichen Verwerfungen führen. Denn ob und wie eine Gesellschaft kulturelle Diversität verträgt, hängt unter anderem davon ab, wie sich die kulturellen Unterschiede mit den sozialen Unterschieden überschneiden.

Menschen aus ähnlichen sozialen Verhältnissen kommen leichter miteinander zurecht, selbst wenn sie aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen kommen. Wenn kulturelle Unterschiede mit sozialen Unterschieden zusammenkommen und aufgrund der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage zu einer Konkurrenzsituation führen, sieht die Sache ganz anders aus. Dann können soziale Spannungen auf kulturelle und konfessionelle Unterschiede übertragen werden.

Wo Multikulti leicht funktioniert

Wenn Austauschstudenten in der Universität auf Kommilitonen aus anderen Ländern treffen und sich austauschen, wird dies fast immer als Bereicherung empfunden. Auch in High-Tech-Unternehmen freut man sich über den regen Gedankenaustausch unter den hochqualifizierten Mitarbeitern aus aller Welt. Ebenso in der High Society: Die Wohlhabenden sind gern unter ihresgleichen, wobei hier die Kapazität des Portemonnaies ausschlaggebend ist und nicht das Herkunftsland.

Doch all diese Gruppen haben zweierlei gemeinsam: Erstens sind sie privilegiert und zweitens haben sie gemeinsame Interessen. Selbst Studenten sind privilegiert: Sie haben Abitur und können höhere Erwartungen an ihr späteres Berufsleben stellen. Die meisten Menschen auf diesem Planeten haben diese Chance nicht. Studenten und ausgebildete Akademiker sprechen in der Regel ein oder mehrere Fremdsprachen und haben einen gemeinsamen Interessensnenner mit Kommilitonen oder Kollegen aus anderen Ländern. Mathematikstudenten und Mathematiker sprechen über Mathematik, Physiker über Physik, etc. Sie haben bereits eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsames Interessensfeld gefunden, bevor sie aufeinander treffen.

Das gleiche gilt für die High-Tech-Unternehmen. Wenn in Kalifornien auf dem Firmencampus von Google oder Facebook die Top-Informatiker aus San Francisco, Los Angeles, Mumbai, Shanghai, Hongkong, Oxford oder Paris zusammenkommen, sind sie bereits Teil einer gemeinsamen Interessenswelt. Sie haben eine Art suprakulturelles Verständigungsfeld geschaffen, das über alle herkömmlichen Sprach- und Kulturgrenzen hinweggeht. Ebenso verhält es sich in der Kulturszene, Musikindustrie oder Modewelt.

Staaten, die ihre Einwanderung nach strengen Regeln organisieren, wie etwa Kanada oder Australien, haben diese Vorteile und Chancen erkannt. Sie wissen, dass in bestimmten Milieus und Berufszweigen ein internationaler und multikultureller Austausch bereichernd ist. Hinzu kommt die Tatsache, dass insbesondere wohlhabende Menschen generell überall auf der Welt willkommen sind, weil man auf ihre Kaufkraft und Investitionsbereitschaft hofft. Die Vereinigten Arabischen Emirate sind beispielsweise ein kulturell sehr festgefügtes Gesellschaftsgebilde. Dennoch will man die Reichen aus aller Welt anlocken, damit diese sich in Dubai oder Abu Dhabi niederlassen und dort wirtschaftlich aktiv werden.

Wo Multikulti zu Spannungen führt

In den meisten deutschen Städten spielt im heutigen Alltag keine Rolle mehr, ob jemand katholisch ist oder evangelisch. Doch in Nordirland konnte bis vor nicht allzu langer Zeit die Frage, ob man anglikanisch oder katholisch sei, zu einem Konflikt führen. Denn mit der Konfession verbanden sich soziale Fragen. Die konfessionelle Zugehörigkeit konnte gesellschaftliche Lebenschancen eröffnen oder verhindern.

Kleinste Variationen in der Politik können dazu führen, dass in einer friedlichen und integrativen Gesellschaft Chaos und Bürgerkrieg entstehen. Wer kann sich heute noch vorstellen, dass vor nicht allzu langer Zeit im Irak und in Syrien Kurden, Schiiten, Sunniten, Alawiten, Drusen, Jesiden und Christen friedlich mit- und nebeneinander lebten? Vor dem Irakkrieg gab es in Bagdad unzählige sunnitisch-schiitische Mischfamilien, denen die Konfession ihrer Mitglieder egal war, da man sich als Muslime und Araber begriff.

Es ist die Bevorzugung einer Gruppe und die oppositionelle Auflehnung der anderen, die die Balance der Gesellschaft kippen können. In Syrien hat der Alawit Baschar al-Assad die Alawiten, Schiiten und Drusen auf seiner Seite gehabt. Diese Konfessionen wurden bevorzugt, obwohl sie eine Minderheit sind. Die sunnitischen Araber fühlten sich benachteiligt. Im Irak unter Saddam Hussein war es umgekehrt. Obwohl es mehr Schiiten als Sunniten im Irak gibt, hat Hussein die Sunniten bevorzugt, weil er selbst einem sunnitischen Stamm angehörte.

Die Amerikaner haben nach ihrer Invasion des Iraks die Situation ins Gegenteil gekippt: Schiiten übernahmen die Macht, Sunniten wurden gleichsam über Nacht all ihrer gesellschaftlichen Chancen beraubt. Das Potential für den „Islamischen Staat“ (IS) war geschaffen. So wurden aus Nachbarschaft der Konfessionen Feindschaft. Religiöse Fragen wurden mit gesellschaftlichen Fragen verknüpft. Das Soziale wurde religiös.

In Europa befinden sich die meisten Menschen mit Migrationshintergrund in einem sozialen Spannungsfeld. Nur eine Minderheit hat den Aufstieg in die obere Mittelschicht oder in den Wohlstand geschafft. Die meisten von ihnen sind Teil der unteren Mittelschicht und der prekären Milieus geworden, wo sie mit anderen Menschen um knappe Chancen konkurrieren müssen. Das schafft Spannungen. Denn je mehr die Menschen um ihre eigene Existenz besorgt sind, desto weniger sind sie fähig, Zeit und Raum für Solidarität aufzubringen. Wer nicht weiß, wie er das Essen für die Familie auf den Tisch bringt, der kann sich nicht um gesamtgesellschaftliche Fragen kümmern.

Während Staaten wie Kanada und Australien versuchen, die erfolgreichen Milieus ihrer Gesellschaft zu stärken und somit zum Motor der Gesellschaft zu machen, befinden sich viele europäische Staaten in der Situation, dass hauptsächlich Menschen aus wirtschaftlicher Not immigrieren. Die Kosten hierfür tragen die steuerzahlende Mittelschicht und indirekt das Prekariat, dessen Chancen zusätzlich beschränkt werden.

Parallelgesellschaften

Gleichheit erleichtert Solidarität. Menschen gleicher Herkunft, Ideologie, Konfession und Mentalität können sich leichter miteinander arrangieren. Für relativ homogene und bevölkerungsarme Staaten wie Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland war es in den 1950er bis 1990er Jahren leicht, ein vorbildliches Sozialsystem aufzubauen. Dieses Sozialsystem ist mittlerweile durch die massive Zuwanderung der letzten beiden Jahrzehnte in Frage gestellt. Im Zuge der Flüchtlingskrise hat Skandinavien die Notbremse gezogen. Selbst Schweden hat die Grenzen der Aufnahmefähigkeit erkannt und fürchtet nun um die Errungenschaften des einst vorbildlichen Sozialstaates.

Für heterogene Gesellschaften wie die USA galt dagegen schon immer, dass jede Gruppe und jedes Individuum für sich selber sorgen muss. Die unterschiedlichen Einwanderergruppen hatten sich mittels spezifischer Gruppensolidarität am Leben erhalten. Das Ergebnis ist eine pseudo-multikulturelle Gesellschaft, die in Wirklichkeit ein Flickenteppich unterschiedlichster Parallelgesellschaften ist. Eine oberflächliche Patriotismus- und Entertainment-Kultur hält den Flickenteppich grob zusammen. Doch in Wirklichkeit trennen Welten die Parallelgesellschaften: Das alte englische Establishment von Long Island hat mit der Lebenswelt der Afroamerikaner in den Vorstadtghettos nichts gemein.

Frankreich und Deutschland haben ihre Zuwanderung der letzten Jahrzehnte ebenfalls in Parallelgesellschaften gelenkt. Die Banlieues in der Umgebung von Paris oder Marseille sind mittlerweile nordafrikanisch geprägt. Hier haben sich soziale Brennpunkte entwickelt. 2005 war es in vielen französischen Banlieues zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen gekommen. Auch in deutschen Städten gibt es Viertel mit Parallelgesellschaften, die für die Polizei und Bürger zu No-Go-Areas geworden sind.

Im Zuge der aktuellen Zuwanderung werden die Parallelgesellschaften in Europa und insbesondere in Deutschland anwachsen. Auch wenn die Politik zunächst die Menschen geografisch gleichmäßig verteilen möchte, um einzelne Kommunen und Gemeinden nicht zu überlasten, werden mittelfristig die Zuwanderer zu ihren Bekannten und Familienangehörigen oder zumindest zu konfessionell oder kulturell Gleichgesinnten in die Städte ziehen wollen. Nicht zuletzt, weil sie auf die dortige Binnensolidarität angewiesen sind, um über die Runden zu kommen.

So zeigt sich, dass die unglückliche Korrelation aus sozialen und kulturellen Unterschieden weiter wachsen wird und die Parallelgesellschaften größer werden. Damit sind Probleme vorprogrammiert. Die Politik darf hier nicht wegschauen, sondern muss einen Plan vorlegen. Ein „Wir schaffen das!“ reicht als Plan nicht aus. Die Bürger wollen wissen, WIE wir das schaffen sollen.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Hans von Atzigen

Dem Artikel ist nicht alluviel beizufügen.
Interessant ist der Schlussatz das WIE.
Das wissen die Protagonisten der laufenden Entwicklungsrichtung auch nicht.
Na ja was da so an Vorschlägen präsentiert wird, hat nicht
so selten, spassigen bis peinlichen Unterhaltungswert.
Mit irgenwelchem Verantwortungsbewusstsein hat
das so gut wie nix mehr am Hut.

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