Gesine Palmer im Hayek-Club Berlin

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Die Schnittstelle zwischen Religion und Politik war Thema des Hayek-Clubabends am 9. Juli 2013 im Hayek-Club Berlin. Der Abend stand für die Religionsphilosophin Dr. Gesine Palmer in einer Reihe mit Versuchen, wesentliche Einsichten der universitären Forschung in die politisch und wirtschaftlich aktive Öffentlichkeit zu bringen und innerhalb wie außerhalb der universitären Welt Wissensbarrieren und Selbstbeschränkungen von Debatten zu überwinden. Der nachfolgende Veranstaltungsbericht baut wesentlich auf den Aufzeichnungen der Referentin auf, die sie uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.

Das Buch „Religion und Politik. Das Messianische in Theologien, Philosophien und Religionswissenschaften des 20. Jahrhunderts“, gemeinsam mit PD Dr. Thomas Brose herausgegeben und 2013 bei Mohr Siebeck erschienen, ist das Ergebnis einer interdisziplinären Konferenz an der FEST. Der erste Leiter dieses think tanks der EKD, Georg Picht, hatte 1982 festgestellt:

… die so genannte Universitätsreform hat … nicht etwa Freiräume für Elastizität geschaffen, die uns ermöglichen würde, dem rapiden und unkalkulierbaren Wandel der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, beruflichen Verhältnisse uns flexibel anzupassen, sondern sie hat stattdessen eine starre Reglementierung sämtlicher Studiengänge durchgeführt, und das hat zur Folge, dass Hunderttausende einem Drill unterworfen werden, der für ihr späteres Leben völlig nutzlos ist und sie nicht berufsfähig, sondern berufsunfähig macht.

Genau um das Thema der Flexibilität im Umgang mit gesellschaftlichen Entwicklungen ging es letztlich auch bei der von FEST, KAS und Towae-Stiftung großzügig unterstützten Konferenz 2005 – und bei der Zusammenstellung der Texte in dem Buch.

Die Ausgangsfrage war, was eigentlich die lebendigere Weise, eine Gesellschaft zu organisieren, ist: diejenige, die Gesetze erlässt, interpretiert, erarbeitet, bearbeitet, anwendet, neu prüft und weiter bearbeitet – oder diejenige, die sich ganz vom Gesetz verabschiedet und Freiheit mehr in einem Innerlichen oder einem Absoluten oder dem absolut Offenen sucht. Diese Frage hatte Palmer bereits bei Verfertigung ihrer Doktorarbeit – und später auch in Arbeiten über die apokalyptische oder messianische Müdigkeit beschäftigt.

In den alten apokalyptischen Texten der Spätantike geht es zumeist darum, dass diejenigen, die in Treue zu einem alten Gesetz gelebt haben, von siegreichen Eroberern gefoltert und getötet werden, wenn sie sich weigern, ihr Gesetz zu brechen. Dementsprechend träumen die Unterdrückten im besetzten Juda davon, dass ein Messias – ein Gesalbter, also etwas wie ein König – kommen wird, der sie erlöst und die alte Ordnung wieder herstellt. Je weniger wahrscheinlich das ist, je mehr die Hoffnung auf weltliche Wiederherstellung schwindet, desto öfter werden auch Träume von einer Auferstehung der Toten und einem jüngsten Gericht in diese Texte eingebaut. Diesem wird die vorhandene Welt, in der für die Leidenden ohnehin nichts mehr zu gewinnen ist, in Gedanken recht leichthändig geopfert. Solche Gedanken breiteten sich in der Spätantike im gesamten Mittelmeerraum aus, und nicht nur das paulinische Christentum, das nach der konstantinischen Wende für das Abendland die entscheidenden Religion wurde, bewegte die apokalyptischen Gedanken und die in ihnen sich aussprechenden Freiheitsschreie weiter.

Die Apokalypse des 4. Esra etwa führt die Frage des jüngsten Gerichts an ihr natürliches Ende: wenn im jüngsten Gericht alle endgültig nach ihren Taten gerichtet werden, wenn es keine Fürbitte und keine Stellvertretung geben kann, wenn auch die kleinen Sünden der im Großen Gerechten geahndet werden, dann wäre es eigentlich besser, es gäbe keine Welt, in der man sündigen kann. Insofern darf die apokalyptische Haltung zur Welt als eine Haltung der Müdigkeit bezeichnet werden, und messianische Gestalten, die mit ihr verbunden werden, schillern durchaus von Anfang an. Sie changieren nämlich zwischen den erlösenden Aspekten von charismatischen Führern oder rein überweltlichen Lichtgestalten, die aus solchen Dilemmata herausführen einerseits, und schrecklichen Rächergestalten, die alles ihrem abschließenden Urteil unterwerfen und die ganze Welt zum Teufel schicken, andererseits.

Der Apostel Paulus schien das Dilemma für die Christenheit zu lösen, indem er sagte, dass Jesus durch seinen Kreuzestod das Ende des Gesetzes und des Richtens für alle erreicht habe. Aus diesem Grunde hat sich – spätestens seit Luther den Völkerapostel und seine Glaubenslehre als Lösung seines (von dem Esras nicht sehr unterschiedenen) Ringens mit der Frage nach dem jüngsten Gericht entdeckt und gepredigt hatte – eine Lehre in der Geisteswelt etabliert, die wie selbstverständlich alles Beengende und Lebensfeindliche dem Gesetz, alles Freie den messianischen Gestalten, die vom Gesetz erlösen, zuordnete. Dabei scheiden sich an der Frage des Messias nach geläufiger Auffassung Judentum und Christentum:

Während das Christentum glaube, der Messias sei schon gekommen, erwarte das Judentum, da es in Jesus von Nazareth nicht den Messias erkenne, dessen Ankunft für eine unbestimmte Zukunft. Mit dem Vorherrschen der christlichen Auffassung im Abendland verbinden sich aber weitreichende Probleme, die auch den Begriff der Freiheit selbst betreffen. Die Haltung zum Gesetz hat in diesem Kontext nicht nur Folgen für das wirkliche Leben der als gesetzlich und unerlöst und zurückgeblieben geltenden Juden in Europa gehabt – sie reicht als Muster bis in die Debatten unserer Tage. Wer heute philosophisch auf Paulus zurückgreift, sieht in ihm jemanden, der das Problem der totalen Gerechtigkeit als ein Problem der Gesetzlichkeit erkannte und einen Ausweg in der Kritik des Gesetzes als solchem suchte. Und die Idee, dass das Christentum dank seines geistigen Messias als universalistische Religion der „partikularistischen Gesetzesreligion“ des Judentums eine Entwicklungsstufe voraus sei, galt in der angeblich rein deskriptiven Religionswissenschaft bis ins letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hinein als eine ponderable Aussage.

Nun ist aber gerade die Frage der Entwicklung in den Geisteswissenschaften sehr viel prekärer als etwa in der Biologie. Denn das, was man vor Abschluss einer bestimmten Entwicklung über deren Ausgang wissen kann, ist sehr viel weniger bekannt als bei der berühmten Entwicklung des Engerlings zum Maikäfer, und die Vorbereitung signifikanter Entwicklungssprünge ist noch schwerer absehbar als in der belebten Natur. Was in einem Jahr aussah wie eine vorwärtsstürmende Weiterentwicklung, kann sich im nächsten Jahr als Vorzeichen eines barbarischen Rückschrittes erweisen. Hinzu kommt, dass sich die großen Ideen im Prozess ihrer Kulturwerdung als eigentümlichen Dialektiken unterworfen erweisen. Bezogen auf die Lehre von der Überwindung des Gesetzes durch den Christus lässt sich etwa konstatieren, dass die ihrem eigenen Glauben nach vom Gesetz befreiten Protestanten den Buchstaben ihrer jeweiligen Landes- und Kirchengesetze sehr ernst anhingen – während die von ihnen der äußerlichen Gesetzlichkeit bezichtigten Juden in ihren Lehren auf oftmals erfrischend offene Weise vielerlei Wege besprachen, auf denen das heilige Gesetz in Geltung bleiben, aber nuancenreich umgangen werden konnte.

Die Aufklärung begann in den europäischen Ländern mit dem Versuch, Freiheit und Gesetz zusammen zu denken und als eine menschenrechtlich orientierte Ordnung politisch umzusetzen. Nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts aber – und eigentlich bis in die Sozialstaatsdebatten unserer Tage – sieht es so aus, als führte sie immer wieder in eine Sackgasse totaler Gesetzlichkeit, wodurch ebenso immer wieder die Sehnsucht nach messianischen Befreiungsgestalten oder – für die postmoderne Philosophie – einer ins Offene führenden Denkfigur des Messianismus ohne Messias geweckt wird.

Ein in dem Buch verhandeltes Nebenphänomen ist, dass die Philosophen, als sie sich des Themas des Messianischen annahmen, die selbstkritische Aufarbeitungsleistung der protestantischen Theologen seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts übergingen und mit ihrer Einschätzung des Judentums weitermachten, wo zumindest ein Teil der Theologie innegehalten hatte. Das hat natürlich damit zu tun, dass die Wissenschaften – und auch die Philosophie – mittlerweile so hochspezialisierte Angelegenheiten sind, dass man ihre formalen Anforderungen eigentlich nur dann zu erfüllen wenigstens prätendieren kann, wenn man sich innerhalb der engen Grenzen nicht nur einer Disziplin, sondern auch einer Schule bewegt: Als neutestamentlicher Theologie ist man dann eben Mitglied beispielsweise der Sanders-Raisänen-Schule und liest alle relevanten Veröffentlichungen aus dieser Umgebung und die schärfsten ihrer Kritiker usw. Es existieren insofern viele Schulen und Disziplinen nebeneinander, die immer noch nur vergleichsweise selten auch für die Nebenaspekte ihrer neueren Ideen einen Blick in fremde Reviere riskieren und nur ausnahmsweise zusammen kommen. Gleichwohl gibt es auch das Mittel der interdisziplinären Konferenz – und die Konferenz über das Messianische verfolgte eben das Ziel, hier die verschiedenen Forschungsrichtungen und Denkbewegungen miteinander ins Gespräch zu bringen.

Im Hayek-Club wurde die Teilnehmerrunde dann sozusagen ausgeweitet. Auf besonderes Interesse traf die Frage nach der Entwicklung, denn sie wurde im Gespräch auch auf die Haltung westlicher Religionspolitiker gegenüber dem Islam bezogen. Wer immer wieder sagt, dass der Islam erst noch eine Reformation oder eine Aufklärung durchlaufen müsse, übergeht wichtige Aspekte der islamischen Geschichte und missachtet ferner die Koordinaten, innerhalb derer solche Sätze behauptet werden.

Dr. Vazrik Bazil, Präsident des Verband der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS), resümiert die Veranstaltung:

Die Überlegungen von Frau Palmer waren aus zwei Gründen von Bedeutung: Erstens, um gewisse Urteile, beispielsweise gegenüber dem Judentum als einer Gesetzesreligion, als Vorurteile zu erkennen und sie zu überdenken und zweitens, um eine Zeitdiagnose erstellen zu können, die einerseits das Messianische als Endzeitbezogenes und das Gesetzgeberische als Diesseitsbezogenes herausarbeitet. In welcher Form wir diese beiden Tendenzen oder Latenzen heute wiederentdecken können und ob sie, wie früher, ineinander münden werden, ist eine spannende Frage, der nachgehen soll, wer den flüchtigen Tages- und Zeitgeist zu fassen bekommen will."

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