„In der Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“
Dieser Ausspruch stammt von Egon Bahr. Anlass war ein Gespräch mit einer Gruppe von Schülern. Egon Bahr, der Wegbereiter der deutschen Ostpolitik unter Willy Brandt, verweist mit dieser Aussage auf die Realpolitik, der sich jeder Politiker und Diplomat stellen muss.
Politiker, Staatsmänner und Diplomaten sind von Beratern umgeben. Zu diesen Beratern gehören neben den Wirtschaftsexperten auch Politikwissenschaftler, Historiker und Geostrategen. Berühmte Beispiele sind Henry Kissinger und Zbigniew Brzezinski. Kissinger war Berater der US-Präsidenten John F. Kennedy, Lyndon B. Johnson und Richard Nixon. Brzezinski war Berater von Lyndon B. Johnson, Jimmy Carter und ist heute enger Vertrauter von Barack Obama.
Manchmal werden solche Berater selbst Politiker. So wurde Kissinger US-Außenminister unter Nixon und Gerald Ford. Auf jeden Fall ist ihre Bedeutung als graue Eminenzen in den politischen Zentren der Macht nicht zu unterschätzen. Sie haben großen Einfluss auf die Gestaltung der geostrategischen Entwürfe einer Nation.
„Von Lissabon bis Wladiwostok“
Nicht nur im Weißen Haus, auch im Kreml sind die geostrategischen Entwürfe von Brzezinski bekannt. In seinem 1997 erschienen Buch „The Grand Chessboard“ (deutsche Ausgabe: „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“, Fischer: Frankfurt a. M. 1999) lässt er sich über die Bedeutung von Eurasien aus. Es sei im Interesse der USA, so Brzezinski, keinen eurasischen Herausforderer aufkommen zu lassen.
Die Seemacht USA könnte in eine geostrategische Abseitsposition geraten und an Einfluss verlieren, wenn auf dem eurasischen Kontinent eine Hegemonialmacht entstünde. In Eurasien leben fast 5 Milliarden Menschen, mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung. Außerdem befindet sich dort der Großteil der natürlichen Ressourcen. Ein eurasisches Bündnis von Lissabon bis Wladiwostok und Schanghai würde demnach das Ende der USA als Weltmacht bedeuten.
Diese Thesen dienen der Konterrhetorik von Wladimir Putin als Steilvorlage, wenn er die USA mit einer ebensolchen Idee der eurasischen Wirtschaftsunion von Lissabon bis Wladiwostok provoziert und vom kontinentalen Binnenhandel spricht. Gerade der Waren- und Rohstoffhandel zwischen Europa, Russland und Ostasien – zudem in Euro, Yuan und Rubel und nicht in Petrodollars durchgeführt – würde die Position Amerikas schwächen.
Eine Möglichkeit dies zu verhindern, ist die ehemaligen Sowjetrepubliken an den Westen zu binden. Wenn die Ukraine sich der EU und NATO anschließt, wird Russland isoliert und auf den Status einer östlichen Regionalmacht beschränkt.
Nach Brzezinski ist die Ukraine diesbezüglich ein „geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“
Strategien der Thalassokratie
Brzezinskis Thesen waren weder neu noch aus der Luft gegriffen. Sie stehen in der langen Tradition der strategischen Konzepte einer „Thalassokratie“. Dies ist der altgriechische Begriff für „Seemacht“. Althistoriker kennen eine Menge Beispiele solcher Thalassokratien. Phönizien, Athen und Karthago waren See- und Handelsmächte. Ihre Stärke war ihre Kriegs- und Handelsflotte. Und sie hatten im ganzen Mittelmeer Kolonien und Handelsstützpunkte.
Pikant war das Zusammentreffen dieser Seemächte mit den Landmächten. Klassiker solcher Auseinandersetzungen waren Griechenland gegen Persien, Athen gegen Sparta, Karthago gegen Rom.
Im Mittelalter waren Genua, Venedig und die Hanse typische Beispiele für Thalassokratien, in der Neuzeit vor allem Spanien, Portugal, die Niederlande, Großbritannien und schließlich die USA. Typische Beispiele für kontinentale Landmächte sind dagegen Russland und China. Damit sind wir beim Kern der ganzen Problematik angelangt.
Großbritanniens Strategie der „Balance of Power“
Im 18. Jahrhundert wurde Großbritannien führende Seemacht. Zu jener Zeit erprobten die Briten erfolgreich die Doktrin der „Balance of Power“. Damit war die Politik des internationalen Kräfteausgleichs gemeint. Um in Europa keinen gleichrangigen Gegner aufkommen zu lassen, stellte sich Großbritannien bei jedem Konflikt auf die unterlegene Seite.
Diese Politik bewährte sich beim Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714) ebenso wie beim Siebenjährigen Krieg (1756-1763). Beim letztgenannten Beispiel schlug sich Großbritannien auf die Seite Preußens, das zunächst einen scheinbar ausweglosen Kampf gegen Russland, Österreich und Frankreich führte. Belohnt wurde England mit Kolonialgewinn in Nordamerika und einer Schwächung Frankreichs.
Britanniens erster Schock: Napoleons Kontinentalsperre
Nach der französischen Revolution und mit der Machtergreifung Napoleon Bonapartes geriet Großbritannien als See- und Handelsmacht in Gefahr. Denn Großbritanniens Stärke ruhte auf einem klaren Wirtschaftsprinzip: Einfuhr von Rohstoffen aus den Kolonien, Ausfuhr von Fertigprodukten nach Europa.
Weil sich Großbritannien dem französischen Hegemoniestreben militärisch entgegenstellte, konterte Napoleon Bonaparte mit einer Kontinentalsperre. Um den britischen Handel mit Kontinentaleuropa zu schwächen, wurde ein komplettes Handelsembargo gegen England verhängt. Da Napoleon bereits große Teile Europas von Spanien bis Polen kontrollierte, konnte dieses Handelsembargo tatsächlich Wirkung entfalten.
Britische Lehre aus Napoleons Kontinentalsperre: Niemals wieder eine kontinentale Hegemonialmacht zulassen
Die Erfahrungen mit Napoleons Kontinentalsperre haben die britische Ansicht bestärkt, die Politik der „Balance of Power“ fortzuführen. In Europa durfte unter keinen Umständen eine kontinentale Hegemonialmacht entstehen. Dies bekam Russland im Krimkrieg (1853-1856) zu spüren, Deutschland während des Krieges gegen Frankreich (1870/71) und in den beiden Weltkriegen.
Halford Mackinder und die These der eurasischen Bedrohung
Was Europa für das britische Mutterland, war Eurasien für das Britische Weltreich. Der englische Geograph und Geostratege Halford Mackinder verwies in seiner 1904 erschienenen Abhandlung „The Geographical Pivot of History“ auf die angebliche Gefahr, dass die Entstehung einer großflächigen eurasischen Macht Großbritannien isolieren könnte. Ein wirtschaftliches Zusammenwachsen Eurasiens auf dem Landwege würde die britische Rolle als Seehandelsmacht marginalisieren und das Empire gefährden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Führung der angelsächsischen Welt den Vereinigten Staaten von Amerika anheim gefallen. Während der Frühphase des Kalten Krieges, als sich die Sowjetunion und die Volksrepublik China noch als Verbündete betrachteten, war der transatlantischen See-Allianz NATO ein eurasisches Bündnis als Gegner entstanden. Abgesehen von der unterschiedlichen Ideologie, war dies auch ein klassischer Gegensatz von Thalassokratie und kontinentaler Landmacht.
George Orwells berühmter Roman „1984“ stammt aus dieser Frühphase des Kalten Krieges. In seiner düsteren Utopie stehen sich die Weltmächte Ozeanien und Eurasien feindlich gegenüber. Ozeanien, das war für Orwell Großbritannien und Amerika. Eurasien stand für Kontinentaleuropa und Russland.
Alter Wein in neuen Schläuchen: Die Seemacht USA fürchtet ein Zusammenwachsen Eurasiens
Die USA sehen sich lieber im Zentrum des Weltgeschehens als an dessen Peripherie. Doch um als weltgrößte See- und Handelsmacht im Zentrum zu stehen, müssen beiderseits der Ozeane die Einflusssphären gesichert werden. Auf transatlantischer Ebene streben die USA eine Ausweitung der NATO an. Auf transpazifischer Ebene stehen die Bündnisse mit Japan, Südkorea, Taiwan, Indonesien, den Philippinen, Australien und Neuseeland. Wirtschaftlich wird Europa durch transatlantische Freihandelsabkommen wie TTIP an Amerika gebunden. Das transpazifische Pendant ist das TPP („Trans-Pacific Partnership“).
Auch Eurasien wächst zusammen. 2002 wurde die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) gegründet. Neben China und Russland sind ihr die zentralasiatischen Länder Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan und Usbekistan beigetreten. Zahlreiche andere asiatische Länder, wie Indien oder der Iran, haben ebenfalls Interesse angemeldet. Außerdem liegen drei der fünf BRICS-Staaten in Eurasien: China, Indien und Russland.
Der Westen antwortet mit dem alten Konzept der Eindämmungspolitik („Containment Policy“). Russland wird isoliert. Die Ukraine ist hierbei die Sollbruchstelle, um einen Keil zwischen Europa und Russland zu treiben. Da die Türkei, die den Bosporus kontrolliert, NATO-Mitglied ist, und fast alle Ostseeanrainerstaaten ebenso NATO-Mitglieder sind, Schweden und Finnland dies zumindest anstreben, könnte Russland im Westen vom Zugang zum offenen Meer abgeschnitten werden.
Welche Auswirkungen hat der Gegensatz auf Deutschland und Europa?
Wird die neue Weltordnung unipolar bleiben, mit der globalen See- und Handelsmacht USA als Zentrum? Oder wird es zu einer neuen bipolaren Weltordnung kommen, bei der ein eurasisches Bündnis und Landhandelnetz dem transozeanischen System gegenübersteht?
Der Wunsch vieler Europäer nach beiderseitigem Interessensausgleich steht den realen politischen Entwicklungen gegenüber. Einerseits ruft die Wirtschaft nach Kooperation mit Russland. Andererseits gibt es eine offensichtlich größere Kraft, die Europa fest an die westliche NATO-Thalassokratie bindet und von Russland loslöst.
Kommentare zum Artikel
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Und nota bene der wahrscheinlich BESTE lebende Geopolitiker und Geostratege "auf Gottes Erdboden". Bevor Sie Gift und Galle spucken, sollten Sie mal das Werk "Die einzige Weltmacht" vielleicht mal LESEN. Eine bessere und klarere geopolitische Analyse werden Sie kaum finden, es sei denn Sie erinnern sich noch an Bismarcks "10-Punkte-Liste".
Im Übrigen geht Brzezinsky in "Die einzige Weltmacht" auch mit den Vereinigten Staaten nicht gerade zimperlich um. Es wäre also vollkommen falsch, ihm irgendwelche politischen Einseitigkeiten vorzuwerfen.
Ich denke auch, das hat damit zu tun. Das wird den Amerikanern schon Kopfzerbrechen bereiten.
Büso , das Schillerinstitut und Lyndon Larouche sind sicher nicht alles, aber die sind eine vernünftige Stimme im Einheitsbrei der antirussischen Propaganda. Leider werden solche Stimmen zu wenig gehört bzw. verschwiegen. Deren weltweite Aufklärungskampagnen und ihr politisches Engagement gegen Krieg und für mehr fortschrittliche, wirtschaftliche und weltweite Zusammenarbeit ist schon bemerkenswert.
BüSo? Die schreiben und werben auch für das Projekt "Neue Seidenstraße" von Peking bis Berlin. Das klingt nach genau dem, was die USA wohl verhindern wollen. Stellen Sie sich vor: Mit der Magnetschwebebahn durch Eurasien ;-) Okay, ein bisschen utopisch. Aber Güterzüge rollen schon. Auch wenn die Waren zwischendurch umgeladen werden müssen, weil manche Trassen andere Schienenbreiten haben.
An die geschätzte Redaktion, des ebenso geschätzten Blogs
Danke. Vielleicht war es doch ein Schnellschuss von mir. Wenn das so ist, bitte ich um Entschuldigung für die Unterstellung.
Nochmals Grüsse,
Mathias B.
Liebe Redaktion,
es ist sehr interessant zu sehen, dass ich nun auch in eurem Blog offenbar die Grenzen der Meinungsfreiheit erreicht habe. Der unbequemen Wahrheiten, zugegeben subjektivem Empfinden geschuldet, waren es wohl dann doch zu viele. Nun, ich nehme das zur Kenntnis, mehr aber auch nicht. Vielleicht hat ja der Verfasser des Artikels ein wenig Angst vor der eigenen Courage bekommen?
Beste Grüsse, Mathias B.
Super Antwort, da weiß ich ja jetzt bescheid!
Danke.
@ Keule
Den sollte man kennen, wenn man über Geo-Politik mitreden will!
Die "Transatlantiker" (Diekmann, Frankenberger, Oppermann) stehen mit ihren Zielvorstellungen den Anhängern von Europa diametral gegwnüber.
Das ist eben der Herr Brzezinsky, der Verfasser des Erwähnten Buches. Ein Falke, politischer Scharfmacher und Russenfeind par excellence.