Türkei und Naher Osten

Erdogans gefährliches Kalkül

Erdogan geht gleichermaßen hart gegen IS und Kurden vor. Damit hilft er nicht, die Probleme der Region zu lösen, sondern er verschärft sie. Er opfert die Sicherheit für innenpolitisches Kalkül.

Foto: AMISOM Public Information/flickr.com/CC 1.0
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Wer an der Macht ist, muss um selbige fürchten. Alle Regime des Nahen Ostens handeln ohne Weitblick. Sie haben den Autopiloten eingeschaltet. Ziel: Machterhaltung. Anders lässt sich das verantwortungslose Handeln der Regierungen im Nahen Osten nicht erklären. Das Chaos ist längst zu unübersichtlich geworden, um einer klaren politischen und gesellschaftlichen Linie zu folgen, die den Menschen der Region ein besseres und vor allem friedlicheres Leben verspricht.

Bitter ist, dass die Türkei nach wie vor als Demokratie und EU-Beitrittskandidat gehandelt wird. Doch Demokratien zeichnen sich nicht nur durch Wahlen aus. In Demokratien werden auch Minderheiten geschützt. Das ist in der Türkei nicht der Fall. Seit dem Ersten Weltkrieg hat die Türkei nicht den entscheidenden Schritt vollzogen, sich als Mehrvölkerstaat zu begreifen. Ein Vielvölkerstaat? Das war doch das Osmanische Reich! Doch die türkische Republik, die Mustafa Kemal Atatürk geschaffen hat, sollte ein Nationalstaat nach europäischen Vorbild werden. Daher mussten viele Griechen und Armenier das Land verlassen. Die Kurden wurden zu „Bergtürken“ erklärt. Und das, obwohl Kurdisch und Türkisch nicht einmal zur selben Sprachfamilien gehören. Die Umwandlung des Staates in eine lockere Föderation mit weitgehender Autonomie für die Kurdengebiete kam für die türkische Regierung niemals in Frage. Daher sind die Fronten verhärtet.

Wie Innenpolitik gegen Außenpolitik ausgespielt wird

 

Die regierende AKP-Partei von Recep Tayyib Erdogan will an der Macht bleiben. Doch ihr Versagen in Hinblick auf die Unterstützung der Kurden in Syrien und im Irak bei deren Kampf gegen den selbsternannten „Islamischen Staat“ (IS) hat viele kurdische Wähler und ihre türkischen Sympathisanten abgeschreckt. Die kurdische Partei HDP hatte bei den letzten Parlamentswahlen die 10-Prozent-Hürde genommen. Damit war die absolute Mehrheit der AKP perdu.

Selbstverständlich hat Erdogan Recht, wenn er behauptet, die kurdische PKK und ihre Ableger seien terroristische Gruppen. Tatsächlich sind ihre Methoden teilweise als Terrorismus zu bezeichnen, besonders aus der Sicht des Staates Türkei. Doch welch ein schräger Vergleich, wenn man sie mit dem IS in eine Schublade steckt. Der IS hat jedes menschliche Antlitz verloren und eine pure Kultur des Terrors und Schreckens verbreitet. Dagegen benehmen sich die kurdischen Kampfeinheiten geradezu zivilisiert.

Die Kurden sind mit rund 25 Millionen die größte staatenlose Ethnie. Sie leben in der Südosttürkei, in Nordostsyrien, im Nordostirak und im Nordwestiran, zusammengenommen ein großes Gebiet mit einer hohen Einwohnerzahl. Kein Wunder, dass sich die Idee eines kurdischen Nationalstaates nicht aus der Welt schaffen lässt.

Im Nordosten des Irak haben die kurdischen Peschmerga sich ein weitgehend autonomes Gebiet gesichert, das zunehmend internationale Anerkennung findet, nicht als Staat, aber als Regionalmacht, mit der man politisch und wirtschaftlich verhandeln kann. In Irakisch-Kurdistan ist die Sicherheit der Bürger weitaus effektiver gewährleistet als in den restlichen Gebieten des Irak. Die Peschmerga konnten sich gegen die Angriffe des IS erfolgreich zur Wehr setzen.

Der Türkei ist diese Region ein Dorn in Auge, weil sie befürchtet, dass sie als Rückzugsgebiet der PKK genutzt wird. Auch die autonomen Kurdenregionen Syriens, die sich im Zuge des Bürgerkrieges selbst verwalten, sind aus türkischer Sich eine Bedrohung.

Kurden genießen heldenhaftes Image, die Türkei ist blamiert

 

Aus der Perspektive der Public Relations hat die Türkei einen erheblichen Imageschaden erlitten. Während die kurdischen Kämpfer allein, fast heldenmutig sich gemeinsam mit den Yesiden und syrischen Christen in den Kampf gegen die radikal-islamischen Terror-Milizen des IS warfen, hat die Türkei passiv zugesehen und zugelassen, dass der IS via türkische Grenze mit neuen Kriegern und Waffen versorgt wird.

Besonders augenfällig wurde die türkische Position bei der Schlacht um Kobane. Während die Kurden um Leib und Leben kämpften, standen die türkischen Panzer an der Grenze – und taten nichts. Natürlich könnte man hier argumentieren, dass Syrien ein souveräner Staat sei und ein türkischer Einsatz die Grenzen Syriens verletzen würde. Doch welcher klar denkende Mensch erkennt in dem Bürgerkriegsland Syrien noch einen funktionierenden Staat, den man als solchen bezeichnen kann? Assad hat die Kontrolle über einen Großteil seines Landes verloren. Und wenn Assad nicht fähig ist, die Menschen vor dem Terror der Fundamentalisten zu schützen, ja sogar selbst das Land mit Terror überzieht, wer soll dann den verfolgten und vertriebenen Zivilisten in den Kriegsregionen zur Hilfe kommen?

Die Kurden haben in Kobane verzweifelt gekämpft und wurden von vielen internationalen Medien als Märtyrer inszeniert. Ob diese Darstellung in den Medien gerechtfertigt war oder nicht, sei dahingestellt. Auf jeden Fall ist für jeden sichtbar geworden, dass die Kurden ein Volk sind, das vollkommen auf sich allein gestellt ist. Es ist niemand da, auf den sie sich verlassen können. Da helfen auch keine Waffenlieferungen aus Deutschland oder Deals mit den USA. Am Ende werden sie allein dastehen. Dieses Wissen scheint ihnen Stärke zu geben. Denn keine Ethnie behauptet sich mit so viel Hingabe wie die Kurden. Besonders medienwirksam wirken die kurdischen Frauenmilizen. In Kurdistan sind die Frauen, für islamische Verhältnisse, relativ emanzipiert. In ihrem Freiheitskampf zeigt sich dies deutlich. Da die Terroristen des IS und anderer islamischer Fundamentalisten fürchten, von einer Frau erschossen zu werden, weil sie dann nicht in den Himmel kommen, sind die Frauentruppen sehr effektiv.

Schlimme Auswirkungen der türkischen Politik

 

Nun geht die Türkei gleichermaßen gegen Kurden und IS-Milizen vor. Der erste Eindruck: die Luftangriffe gegen die Kurden scheinen intensiver geführt zu werden als jene gegen die IS-Terroristen. Damit fällt die Türkei den Kurden eiskalt in den Rücken. Die Kurden sind bislang die erfolgreichste Bastion gegen den Terror des IS gewesen. Wenn die Kurden von der Türkei geschwächt werden, bedeutet dies eine Stärkung des IS. So wird es nie eine entscheidende Wende zum Guten nehmen und der Bürgerkrieg in Syrien und im Irak sich noch endlos hinziehen. Von allen Parteien des Bürgerkrieges wären die Kurden vermutlich jene gewesen, mit denen die internationale Staatengemeinschaft am ehesten hätte verhandeln können. Doch die Türkei wird das nicht zulassen.

( GeoAußenPolitik )

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Lector

Herr Braun, hier ist zu ergänzen: Wahlen müssen allgemein, frei, gleich und geheim sein. Denn irgendwie "Wahlen" und auch ein Parlament gibt es überall, auch in Nordkorea!

Ansonsten bedeutet Demokratie sehr wohl mehr als nur Wahlen, z.B. eine demokratische Verfasstheit, auch in der Praxis, "innere Demokratie" auch in Parteien und anderswo, dazu eine gewisse Partizipation der Bürger, einen Rechtsstaat mit Gewaltenteilung und einiges mehr.

Dass die Türkei nicht EU-würdig ist, sollte jetzt nicht nur jedem klar sein, sondern - notfalls nach einem Ultimatum - auch offiziell von der EU festgestellt werden. Dies ist hier politisch einzufordern, gerade auch in Deutschland!

Wir haben die Kurden als erstens stabilisierende und gemäßigte Kraft im Pulverfaß Nahost und zweitens zuverlässige Gegner des völkermordenden unmenschlichen IS mit Waffen unterstützt und sollten dies nun auch politisch-diplomatisch tun.

Kurzfristig müssen die Bundeswehrsoldaten mit ihren Waffen aus der Türkei abgezogen werden. Denn bei der Entsendung ging es um (putative) Verteidigung gegenn den syrischen Staat. Diese Lage ist nicht mehr gegeben. Statt dessen bekämpft die Türkei ihre kurdische Minderheit und will sich erklärtermaßen Gebiete des syrischen Staates aneignen, vielleicht mehr.

Der "Kampf" gegen IS ist ein Täuschungsmanöver und bedeutet allenfalls, dass die schon zuvor stattgefunden habende Unterstützung etwas eingeschränkt wird: Die Grenzen waren offen für Nachwuchs-Freiwillige, Waffen und andere Ressourcen des IS, mit dem Erdogan ideologisch keine erkennbaren Probleme hat.
Sein Bekenntnis lautet schließlich auch (wörtlich): "Islam, Islam, Islam!"

Der Angriff auf Syrien und die Kurden dort ist aggressiv und darf von demokratischen NATO-Staaten nicht unterstützt werden.

Deutschland und die EU müssen auf den USA klarmachen, dass solche Wildwest-Diplomatie, den Türken kurzerhand freie Hand zu geben im begonnenen Rundumschlag - besonders gegen die Kurden als Gegner des IS - von europäischen Ländern nicht mitgetragen wird.

Die NATO als indirektes Mittel, das kurdische Volk zu unterdrücken, ist eine Anmaßung der US-Machtpolitik und gegen jedes Menschenrecht.

Auch die USA benötigen längerfristig Legitimation und Akzeptanz mindestens ihrer jetzigen Verbündeten. Wenn mit einem wichtigen Bündnispartner wie den Kurden so umgesprungen wird, wie alle Welt hier sieht, dürften sich künftige Parteien sehr genau überlegen, ob sie sich mit den USA noch einmal arrangieren wollen!

Davon ist auch der übrige Westen mit-betroffen. Auch aus diesem Grund muss Europa, obgleich es am kurzen Hebel sitzt, laut und vernehmlich sagen, dass eine solche Politik nicht mitgemacht wird - eine Politik, die letztlich (wenn auch nicht von US-, so doch von türkischer Seite) darauf hinauslaufen kann, dass Kurden nicht nur unterdrückt, sondern auch massenhaft ermordet werden könnten!

Das Beispiel des Völkermords an den Armeniern, der bis heute von der Türkei weder anerkannt noch gar aufgearbeitet wird, muss hier eine scharfe Warnung sein, und jedes Land, das den Türken hier freie Hand gibt, macht sich mitschuldig an dem, was fast schon erwartbar genannt werden muss.

Dass es wiederum neue Völkerscharen ins sicherere Europa treiben wird, könnte andererseits den Spitzen der EU fast schon wieder gefallen in ihrer Politik der Völkervermischung - so zynisch muss das vielleicht schon gesehen werden, wenn man die donnernde Stille anzuhören gezwungen ist der europäischen "demokratischen" Reaktion auf Erdogans (wenn auch teilweise eher innenpolitisch motivierte) Blindwütigkeit mit Billigung der USA!

Im Übrigen sollte endlich deutlich gesagt werden, dass jedes Volk ein Recht auf Selbstbestimmung hat. Den Kurden wurde dieses von den Nachbarstaaten, aber auch im Verein mit den europäischen Mächten, seit Jahrhunderten beschnitten und verwehrt.

Jetzt wären sie an der Reihe, nachdem der künstlich zusammengeschusterte Staat Irak in seine natürlichen Teile zerfallen ist - und jetzt sollen sie wieder um ihr Recht betrogen werden?

Europa und der Westen müssen sich als zuverlässig und auch dankbar erweisen und den Kurden-Staat (im zerfallenen Irak) endlich ermöglichen und anerkennen helfen.

Die Kurden sind meist auch islamisch, aber bei Weitem nicht so fanatisch wie arabische Völker und bieten die Gewähr, radikal-islamische Bestrebungen wie den IS wirksam und tapfer zu bekämpfen. Unterstützen wir sie nachhaltig!

Gravatar: Gregorius Braun

"Bitter ist, dass die Türkei nach wie vor als Demokratie und EU-Beitrittskandidat gehandelt wird. Doch Demokratien zeichnen sich nicht nur durch Wahlen aus."

Doch. Genau genommen zeichnen sich Demokratien nur durch Wahlen aus. Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass der Gewinner über den Verlierer herrscht. Ob der Gewinner dabei gerecht vorgeht, ist keine Kategorie der Demokratie. Das einzige rein-demokratische Argument für Minderheitenschutz lautet, dass unethisches Verhalten gegen Minderheiten die Wiederwahl verhindern kann.
Nun kann eine Minderheit jedoch in der öffentlichen Wahrnehmung als nicht-schützenswert erscheinen und es kann sogar der Wiederwahl nützen sie zu verfolgen. Ist dies nun gerecht? Nein! Und was hilft dagegen? Nicht mehr Demokratie, sondern mehr Rechtsstaat. Zwei Gebilde, die oft zusammen auftreten, aber nunmal nicht immer. Und was die Türkei braucht, ist nunmal vorallem mehr Rechtsstaat. Mir ist natürlich klar, dass ich ihnen da nichts Neues erzähle: Ich habe mich nur an der Formulierung gestört. ;)

Gravatar: Jürg Rückert

Erdogan ist glühender Nationalist ("Großtürkei") und strammer Muslim ("die Vorsehung"). Daher sein Führerblick.
Geschichtlich wird man ihn später eher als "Räuberfürsten" einschätzen.

Gravatar: Ralle

Erdogan hält sich doch längst für Suleyman, genannt der Prächtige. Für diesen Wahnsinn steht auch der 1.000-Zimmer-Palast und natürlich das Zurückdrehen der modernen Veränderungen der Türkei welche von Mustafa Kemal Atatürk durchgeführt wurden.

Ich habe die Befürchtung, dass Erdogan glaubt, dass wenn er die Kurden bekämpft den IS für seine Zwecke instrumentalisieren kann um das Neue Osmanische Reich zu errichten. Die destabilisierte Region von Syrien, Irak bis hinunter nach Ägypten und Libyen könnte diese Gelüste befeuert haben.

Gravatar: Einzelk@mpfer

"Europa braucht die Türkei und der Islam gehört zu Deutschland." Ich denke ich werde doch wieder die AfD wählen.

Gravatar: hans wagner

11.9.2oo1: zehntausende tuerken tanzten vor freude auf den strassen. auch in deutschland. habt ihr das vergessen...

Gravatar: naturbaby

Von anderen Toleranz einfordern und selbst mit Waffengewalt gegen Minderheiten vorgehen....Und die deutsche Politik hat nicht A...in der Hose, klare Kante zu zeigen....Warum auch, die transatlantischen "Freunde" geben ja wie immer die Richtung vor....Da wurde Angela schon entsprechend eingetaktet!

Gravatar: Alexander Scheiner, Israel

Hoffentlich realisieren nun die letzten leichtgläubigen Befürworter von der Türkei als EU Mitglied, dass Europa eine Katastrophe abwenden konnte.

Präsident Erdogan entwickelt sich zu einem unberechenbaren islamischen Despoten, der nie Menschenrechte einhalten wird.

Mir tun das türkische Volk und die Kurden leid, die auf Demokratie und Liberalismus verzichten müssen.

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