Autonomie in Syrien unerwünscht

Erdogan fürchtet sich vor kurdischem Grenzstaat in Syrien

Ein autonomes Kurdengebiet in Nordsyrien an der türkischen Grenze kann Rückzugsgebiet der PKK werden. Deshalb fällt Erdogan den Kurden in ihrem Kampf gegen den IS immer wieder in den Rücken.

Foto: Kurdishstruggle / flickr.com / CC BY 2.0 (Ausschnitt)
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Die Kurden, insbesondere die Einheiten der YPG, agieren immer erfolgreicher in ihrem Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS). Dies ist unter anderem auf die Luftunterstützung der internationalen Anti-Terror-Koalition zurückzuführen. Schritt für Schritt formt sich ein langer, kurdisch kontrollierter Korridor von Ost nach West entlang der türkischen Grenze. Genau dies ist der türkischen Führung ein Dorn im Auge.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan befürchtet, die Kurden würden komplett den nördlichen Streifen Syriens besetzen. Eine weitere Ausdehnung des kurdischen Gebietes entlang der syrischen Grenze wolle die türkische Führung unbedingt verhindern. Man befürchtet eine Vergrößerung des potentiellen Rückzugsgebietes für PKK-Kämpfer.

An der Nordostgrenze Syriens ist das von den Kurden kontrollierte Gebiet bereits eine große zusammenhängende Fläche, die direkt an die kurdischen Gebiete des Irak und der dortigen Peschmerga anschließt. Nach Westen hin gibt es noch einen arabischen Korridor, der dieses Gebiet von den Kurden in der Region um Afrin (bzw. Efrin) trennt.

Insgesamt wird der Großteil dieses Gebietes unter dem Begriff Rojava subsumiert. Damit ist Westkurdistan bzw. Syrisch-Kurdistan gemeint. Offenkundiges Ziel der syrischen Kurden ist, die Einheit dieses Gebietes herzustellen, um dann gemeinsam den Weg in die Autonomie fortzusetzen. Wäre dieser Weg erfolgreich, gäbe es am Ende mindestens zwei autonome Kurdenregionen mit dem Potential der Staatsbildung: Rojava und Irakisch-Kurdistan. Schließlich könnten sich beide zusammenschließen – und der Weg zu einem souveränen Staat Kurdistan wäre offen. Für die Regierungen in Ankara, Damaskus, Bagdad und Teheran ist das eine ungeheuerliche Vorstellung.

Kurden wichtig im Kampf gegen den „Islamischen Staat (IS)“

Es ist jedoch eine Tatsache, dass die Kurden eine der wichtigsten Fronten im Kampf gegen den IS darstellen. Denn dort, wo sie vorrücken, waren zuvor zumeist Stellungen der IS-Milizen. Eine Schwächung der Kurden im Norden und Nordosten Syriens würde automatisch ein neues Machtvakuum schaffen, in das der IS vorrücken könnte.

International ist die Sympathieverteilung eindeutig: Die kurdischen Kämpfer – und Kämpferinnen, denn bei den Kurden kämpfen auch viele Frauen in separaten Einheiten – haben im syrischen Bürgerkrieg den Ruf einer tapferen Volkverteidigungstruppe erworben, während die Kämpfer des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) hauptsächlich mit Schreckensmeldungen auf sich aufmerksam machen. Hinzu kommt die Tatsache, dass der Westen mit den Kurden generell gut verhandeln kann. Die meisten Kurdengruppen sind in ihrer Religiosität weniger radikal, manchmal sogar ausgesprochen säkular eingestellt. Das liegt unter anderem auch an den quasi-sozialistischen Ideen, denen einigen Gruppen anhängen, und an den säkularen Gesellschaftsvorstellungen, die die Gleichberechtigung der unterschiedlichen Religionen (Muslime, Jesiden, Christen) und von Frau und Mann fordern.

Erdogan über Putins Eingreifen nicht begeistert

Das Eingreifen Russlands in den Konflikt macht einen deutlichen Strich durch die Rechnung Erdogans. Denn für die Türkei sind lediglich die moderaten Rebellen der Freien Syrischen Armee eine unterstützungswürdige syrische Oppositionsbewegung. Assad will man loswerden, die Kurden sind den Türken zu gefährlich und der IS verbreitet Terrorismus und eine unberechenbare Schreckensherrschaft.

Doch die russischen Truppen agieren offiziell in Kooperation mit der noch amtierenden Regierung Syriens, mit dem Regime von Baschar al-Assad. Wladimir Putin ist Assads wichtigster Verbündeter – neben dem Iran und den Hisbollah.

Damit durchkreuzen die Russen auch die Interessen Israels. Die israelische Luftwaffe hatte Angriffe auf Stellung den syrischen Regierungstruppen und der Hisbollah geflogen. Israel will keine schiitische Achse Iran-Südirak-Syrien-Hisbollah. In dieser Frage gehen die israelischen Interessen konform mit denen der arabischen Golfstaaten und der Türkei.

Von der Türkei wird keine konstruktive Lösung zu erwarten sein

Bislang hat die türkische Regierung keinerlei Zeichen erkennen lassen, als konstruktiver Partner an der Lösung des Konfliktes in Syrien mitzuarbeiten. Spätestens bei der Verteidigung der Stadt Kobane, als türkische Panzereinheiten dem kurdischen Verzweiflungskampf untätig zusahen, wurde klar, dass die Kurden nicht auf türkische Unterstützung hoffen dürfen. Das hat sich auch bei den türkischen Luftangriffen gezeigt, die immer sowohl die IS-Stellungen wie die kurdischen Stellungen gleichermaßen zum Ziel hatten, weil es aus türkischer Sicht beide Terrororganisationen seien.

Die Türkei will vor allem zweierlei: einen Kurdenstaat vermeiden und Assad beseitigen. Die Beendigung des Krieges scheint für die Regierung Erdogan offenkundig nur ein zweitrangiges Ziel zu sein. Notfalls würde man vermutlich endlos zuschauen, wie die Menschen in Syrien sich gegenseitig bekämpfen, und wie das Zünglein an der Waage mal der einen, mal der anderen Seite helfen, solange die der Türkei gefährlichen Kriegsparteien in Schach gehalten werden.

Warum Europa weiterhin den Eiertanz mittanzen wird

Europa wird die Türkei nicht auf eine klare Linie bringen können. Zum einen, weil die EU selbst keiner klaren Linie folgt, zum anderen, weil man in vielerlei Hinsicht auf die Kooperation der Türkei angewiesen ist. Die US-Amerikaner nutzen türkische Flughäfen und Militärbasen für ihre Luftschläge und Drohnenattacken gegen den IS.

Vor allem die Europäer brauchen die Türkei bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise. Fast zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak hat die Türkei bereits aufgenommen. Es liegt an Ankara, die Menschen in der Nähe ihres Heimatlandes zu halten, damit sie später wieder dorthin zurückkehren können, oder die Tore nach Europa zu öffnen. Ohne die Mithilfe der Türkei wird die EU der Flüchtlingskrise nicht Herr werden können.

Die Folge wird sein, dass sowohl Europa als auch die USA bei der türkischen Politik gegenüber den Kurden beide Augen zudrücken werden. Allenfalls werden leere Worte und Mahnungen zu erwarten sein. Wieder einmal zeigt sich, dass die Kurden auf sich allein gestellt sind.

Europa drückt bei Menschrechten ein Auge zu

Eine aktuelle Entwicklung passt exakt in dieses Schema. Eigentlich wäre die türkische Politik in Sachen Menschenrechten, Minderheitenrechten und Kurdenpolitik aus europäischer Sicht anzuprangern. Das tut die EU aber nicht. Man prangert nicht einen wichtigen Bündnispartner an, auf dessen Gutwilligkeit und Kooperationsbereitschaft man mehr denn je angewiesen ist.

Die Folge: Wie „Welt-Online“ unter Bezug auf Informationen der „Welt am Sonntag“ berichtete, wird ein offizieller Bericht über die Fortschritte hinsichtlich der Menschenrechte in der Türkei zurückgehalten, und zwar bis die Neuwahlen in der Türkei stattgefunden haben. Nach diesem Bericht würden der Türkei Rückschritte in Bezug auf Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit attestiert werden.

Erdogan dagegen sieht die Türkei im Kampf gegen den Terrorismus – wobei der kurdische Terrorismus und jener der radikalen Fundamentalisten für ihn in die gleiche Kategorie fallen. Und ebenso wie die USA einen Teil der Bürgerrechte in ihrem Kampf gegen den Terrorismus über Bord geworfen haben, so wird auch die Türkei in ihrem Kampf gegen alles, was sie als Terrorismus bezeichnet, die Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit anderen Prioritäten wie die nationale Sicherheit unterordnen.

Ein anderer Beweggrund für die aktuelle Politik der Türkei ist der Erfolg der prokurdischen Partei HDP, die bei der letzten Wahl die 10-Prozent-Hürde und Erdogans AKP die absolute Mehrheit genommen hatte. Hier möchte Recep Tayyip Erdogan das Ruder herumreißen und entgegensteuern.

Je unsicherer die Sicherheitslage in der Türkei vor den Wahlen ist, desto gespaltener wird die Gesellschaft. Die Vorwürfe, die sich Erdogan diesmal von den Kurden anhören muss, werden schwerer wiegen als jemals zuvor in seiner Amtszeit, nicht zuletzt wegen der jüngsten Anschläge radikaler Islamisten auf Kurden. Umgekehrt wird Erdogan wieder die Terrorismuskarte ausspielen, um sein Vorgehen gegen die Kurden zu rechtfertigen. Für den IS dürfte die Uneinigkeit zwischen Türken und Kurden der Hauptgrund sein, dass sie noch existieren. Eine gemeinsame Front der Türken, Kurden und irakischen Armee gegen den IS hätte den Terrorstaat vermutlich längst zu Fall gebracht.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Elliot Rodger

Alfred
Erdogan wird nie die Gründung eines unabhängigen kurdischen (National)-Staaten zu lassen, weil er ein vehementer Verfechter des zentralistisch strukturierten und als unteilbar deklarierten ausgeprägt ethnokratische Züge aufweisenden türkischen Nationalstaates ist.
Erdogan ist zwar primär ein sunnitisch-islamischer Fundamentalist aber ebenso ein turkozentrischer Nationalist und ein neo-osmanischer Großmachtchauvinist.

Gravatar: Alfred

Herr Erdogan wäre gut beraten, wenn er einen autonomen Kurden-Staat zulassen und wirtschaftliche Beziehungen aufbauen würde. Jeder Mensch strebt nach Autonomie! Das Phänomen ist auch in Europa zu beobachten. Deshalb wird es mit der europäischen Union in dieser Beziehung auch nichts werden.
Die Sowjetunion ist ebenfalls gescheitert. Gute wirtschaftliche Beziehungen mit seinen Nachbarstaaten ist und bleibt die beste politische Entscheidung.
Alles andere wäre nur skrupellose Machtergreifung, die keiner will.

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