Gesellschaftstrend

Entheiligte Welt

Unser Alltag verliert sich im Profanen. Unser Zeitgeist hat keine sinnstiftende Richtung aufgezeigt, lediglich Freiheit durch Flexibilität ersetzt. Das Empfinden für Raum und Zeit ist desakralisiert.

Ruine von San Galgano. Foto: Pixabay, CC0
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Liebe Leser, dieser Artikel des ISSB e.V. war im März 2015 erschienen. Angesichts der kommenden Ostertage und eingedenk der Tragödie um die Kathedrale von Notre Dame de Paris, auch im Angesicht der zahlreichen Anschläge auf Kirchen in Europa sowie der weltlich-profanen Kirchenreformen, bringen wir den Beitrag in aktualisierter Form noch einmal.

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Gesellschaftstrend: Entheiligte Welt

Im Altertum standen die Tempel im Zentrum der Gesellschaft. Im Mittelalter überragten die großen Basiliken und Kathedralen die Städte. Sie repräsentierten den sakralen Raum, den geheiligten Kosmos als Verbindung zwischen Himmel und Erde. Sie waren die sinnstiftenden Zentren der damaligen Welt.

Die Städte unserer Zeit dagegen stehen im Schatten der glitzernden Wolkenkratzer der Banken und Konzerne. Sie spiegeln die desakralisierte, die entheiligte Welt wider. So wird jedem deutlich vor Augen geführt, welcher neuen Ordnung sich der Zeitgeist unterworfen hat.

Der Puls unserer Zeit schlägt im Rhythmus der Produktionsstätten und Finanzwelt. Unweigerlich fragen sich viele Menschen, ob ihr Leben wirklich freier geworden ist, oder ob sie nur räumlich und zeitlich flexibler geworden sind, um sich effizienter in den Takt unserer Gesellschaft einfügen zu können. Auf solche Fragen folgt für gewöhnlich die Sinnsuche.

Mircea Eliade über das Heilige und Profane

Der berühmte Religionswissenschaftler Mircea Eliade benannte einst zwei Arten des In-der-Welt-Seins: das Heilige und das Profane. Dies seien zwei existentielle Situationen, die der Mensch im Laufe der Geschichte ausgebildet habe.

Allen Religionen und spirituellen Leeren eigen ist die Trennung zwischen dem Heiligen und Profanen. In der Bibel sprach der Herr zu Moses: „Tritt nicht heran, ziehe die Schuhe von deinen Füßen, denn die Stätte, darauf du stehst, ist heiliges Land“ (2. Mose 3,5).

Der religiös empfindende Mensch erlebt die Existenz des heiligen, bedeutungsvollen, kraftgeladenen Raumes, der durch eine Schwelle vom der Umwelt abgegrenzt ist. Dieses Empfinden stellt sich beispielsweise beim Betreten von Kirchen, Moscheen, Synagogen, Gedenkstätten, antiken Tempeln ein – oder aber an Orten, die mit einer bedeutungsvollen Erinnerung verbunden sind. Auch nicht-religiöse Menschen können an bestimmten Erinnerungsorten eine besondere Empfindung verspüren.

Durch die ganze Menschheitsgeschichte gestalteten Menschen besondere Orte als heilige Stätten. Selbst bemalte Höhlen der Altsteinzeit waren solche Stätten, die für besondere Rituale und Kulte reserviert waren. Ein heiliger Raum geht oft mit der Stiftung einer neuen Ordnung einher, die sich beispielsweise in der Orientierung, im Entwurf und der Ausgestaltung der Stätte zeigt.

Im Alten Ägypten waren die Pyramiden und Tempel aus unvergänglichem Stein errichtet, die Häuser des Alltags aus vergänglichen Lehmziegeln. Im Mittelalter arbeiteten Generationen von Steinmetzen an der Gestaltung der Kathedralen, während die umstehenden Fachwerkhäuser aus einfacheren Materialen errichtet waren. Im Vorderen Orient sind die prächtigsten Gebäude eines Ortes meist die Moscheen.

Vom frühen Altertum über die klassische Antike bis zum Mittelalter und der Neuzeit waren heilige Stätten oftmals Abbilder des Kosmos. Das zeigt sich an der exakten Orientierung der Bauten an Himmelsrichtungen und der geometrischen Muster der symbolgeladenen Dekoration. Sie zeigten beispielsweise die Sonnenwenden an und verwiesen auf astronomische Ereignisse.

Entleerte Rituale und Feste?

Das Glockenläuten der Kirchtürme, der Gebetsruf des Muezzins vom Minarett der Moschee, die heiligen Feste, Rituale, Feiertage und Fastenzeiten – all diese Elemente strukturieren die Zeit und den Alltag. Sie geben einen Rahmen vor. Das Profane des Alltagsgeschäfts fügt sich in einen sakralen Rhythmus der liturgischen Zeit. Selbst moderne Ideologien kommen nicht ohne eine Ritualisierung der Zeit aus.

Für die Menschen religiöser Kulturen und Epochen war und ist die Zeit nicht homogen und stetig. Sie ist unterbrochen durch Perioden heiliger Feste, die den Menschen wie Fixpunkte im unstrukturierten Zeitfluss Halt geben. Relikte religiös strukturierter Zeit in unserer abendländischen Kultur sind die Sonntage, an denen nicht gearbeitet wird, und die Feiertage, die alljährlich auf religiöse oder mythologische Erzählungen Bezug nehmen.

In den alten Kulturen waren die Schöpfungsmythen Anlass für regelmäßige Feste, bei denen die Schöpfung rituell nachempfunden wurde. Im abendländischen Christentum wird die Geburt des Heilands alljährlich rituell wiederholt und erinnert. Wir haben es mit einer rituellen und kulturellen Konstruktion der Zeit zu tun.

In allen Kulturen sind vor allem die Abschnitte des Lebens rituell und religiös eingebettet: Geburt, Pubertät, Heirat, Tod – all diese Schwellen zu neuen Lebensabschnitten wurden mit Übergangsriten oder Initiationen begleitet.

Im heutigen Zeitgeist löst sich die Verankerung des gesellschaftlichen Lebens in rituelle Zeitperioden zunehmend auf. Nicht nur, dass der religiöse Hintergrund zahlreicher Feiertage in Vergessenheit gerät, auch die bindende und gemeinschaftsbildende Wirkung dieser Festzeiten geht verloren.

Ideologien und Nationalstaaten haben ihre eigenen Feste und Riten eingeführt, um die gemeinsame historische Erinnerung zu pflegen und zum Zusammenhalt der Gesellschaft aufzurufen. Doch darüber hinaus stiften sie keinen Sinn.

Vom religiösen Empfinden und vom Verharren im Profanen

Mircea Eliade hat in seinen zahlreichen Werken das Bemühen religiöser Menschen, in einer heiligen Welt zu leben, beschrieben. Sie können ihre Existenz, ihr Schicksal, ihre Umwelt, ihre Vergangenheit und Gegenwart in einen sinnerklärenden Zusammenhang stellen. Menschen ohne religiöses Empfinden würden dagegen im Profanen verharren. Ihnen bleibt die individuelle Sinnsuche, die manchen gelingt, anderen nicht.

Weder moderne Ideologien noch die Wissenschaft haben Alternativen aufzeigen können, diese Sinnlücke zu schließen. Was für Jahrhunderttausende für Menschen selbstverständlich war, ist in Auflösung begriffen. Max Weber sprach von der „Entzauberung der Welt“, Friedrich Schiller von der „entgötterten Natur“. Was aus der Sicht der Wissenschaft zunächst ein Teil des notwendigen Rationalismus ist, mag für die Gesellschaft in ihrer Sinnsuche eine klaffende Leere hinterlassen. Wie mit dieser Sinnleere umzugehen ist? Darauf haben weder der Staat, die Gesellschaft noch die Werbeindustrie eine befriedigende Antwort gefunden.

Literaturhinweis: Mircea Eliade: „Das Heilige und das Profane – Vom Wesen des Religiösen“, Rowohlt Verlag: Hamburg 1957.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Ekkehardt Fritz Beyer

„Gesellschaftstrend
Entheiligte Welt“ ...

Kennen das zumindest die Christen nicht schon aus der Bibel?

„Jerusalem – Ein Mann, der gestern noch unter großem Jubel in eine Stadt einzog, dessen deutliche Worte gegen Gewalt, Unrecht, Ausbeutung, Unterdrückung, doppelte Moral, Frömmelei und sogar Kinderschändung die Menschen begeisterte, ist plötzlich allein. Nur wenige sind noch bei ihm, aber auch dessen Freundschaft und Treue gleicht einem Blatt im Wind. Plötzlich schlägt diesem Mann Hass und vor allem Undank entgegen. Das Gift der Intrige entzweit seinen Anhang. Feigheit und Verrat in Verbindung mit Geldgier und Geltungssucht schleicht sich gleich einem heimtückischen Geschwür in die Tafelrunde ein. Jener Wort gewaltige Mann, der oftmals nur Gesten brauchte, um die Menschen zu beeindrucken und für seine Mission mit Mut und Feuereifer stritt, ohne dabei seine Menschlichkeit und sein Mitgefühl zu verlieren, steht hilflos der infamen Bosheit eines Einzelnen, dem Wankelmut seiner Freunde und dem infernalischen Hass seiner Feinde gegenüber. In dieser Situation gibt es nur zwei Möglichkeiten: Fliehen oder Standhalten? Das letzte heißt im Endeffekt STERBEN.“ ...
https://www.journalistenwatch.com/2019/04/18/die-passion-lehrstueck/

Ähnlich wie nun – im Sinne Gottes, besonders aber seiner Alten, der Göttin(?) und des Franzi - das gesamte Christentum? Weil wir von Muslimen lernen können und Politik damit beginnt, „dass wir uns der Realität stellen“???
https://www.deutschlandfunk.de/religion-und-politik-wir-koennen-von-muslimen-lernen.2540.de.html?dram:article_id=387054

Dazu: „Eine Analyse Deutschlands“:
https://www.youtube.com/watch?v=7rhRGQEYcmA

Gravatar: harald44

So scheint Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes" Schritt für Schritt in Erfüllung zu gehen. Große Einkaufshäuser überstrahlen die vielleicht nebenanstehden Kirche und locken mehr Besucher an als letztere. Statt dem "Wort des Tages" werden Werbeprospekte der Discounter mit Eifer gelesen. Die Geschichtskenntnisse der nunmehr Dreißigjährigen gehen gegen gegen Null und macht diese empfänglich für neureligiöse Ideologien wie die vom menschengemachten Klimawandel oder vom schädlichen CO2, wobei letzteres als das absolut Böse bekämpft werden muß.
Das Handy in seiner Erweiterung zum faktischen Taschencomputer wird zum alltäglichen Orakel, welches dem Benutzer beim Einschalten zeigt, was an diesem Tage zu tun wäre; wenn nicht, dann wartet man auf die erlösende Nachricht von einem Freund.
Kurz, ich sehe schwarz für die Generation der jetzt Dreißigjährigen und tiefschwarz für die nachfolgende Generation von deren Kindern.

Gravatar: Unmensch

Der sonntägliche Kirchgang als allgemeiner Treffpunkt der Gemeinde hatte seine herausragende Bedeutung vor allem dem Mangel an Kommunikationsmedien und Transportmitteln zu verdanken. Die Leute sind da natürlich nicht nur aus religiösen Beweggründen hin gegangen - auch wenn die Pfarrer das gerne so gehabt hätten.
Deshalb sehe ich die Veränderungen nicht so problematisch. Die Religion kann sich heutzutage nicht mehr einer Monopolstellung bedienen sondern müsste sich mehr als Dienst an der Glaubensgemeinde verstehen, dann wird sie dem entsprechend wert geschätzt.
Und ich hoffe, den öffentlich-rechtlichen Medien wird es bald ebenso ergehen...

Gravatar: Hans-Peter Klein

Vielen herzlichen Dank für diesen Text.
MfG, HPK

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