Geostrategie

Dreh- und Angelpunkt Türkei

Die Türkei hat eine geostrategisch bedeutende Lage. Aktuell wird dies in der Russland- und Syrien-Politik deutlich. Daher wird die unberechenbare Außenpolitik Erdogans mit Sorge betrachtet.

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Die Türkei ist ein geostrategischer Dreh- und Angelpunkt. Ihre Bedeutung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Lage Istanbuls am Bosporus und Marmarameer illustriert dies deutlich: Die Stadt kontrolliert die Verbindung zwischen dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer. Gleichzeitig ist sie die Brücke von Europa nach Asien sowie der westliche Brückenkopf in die islamische Welt.

Auch wirtschaftlich wächst die Bedeutung der Türkei. Seit mehr als drei Jahrzehnten hat das Bruttoinlandsprodukt der Türkei Wachstumsraten von durchschnittlich 5 Prozent. In den letzten Jahren gab es teilweise sogar Wachstumsraten von etwa 7 Prozent. Davon können viele westeuropäische Staaten nur träumen. Hinzu kommt das Bevölkerungswachstum. Um 1930 hatte die Türkei etwa 15 Millionen Einwohner. Heute leben fast 78 Millionen Menschen in der Türkei. Der Bevölkerungsdurchschnitt ist außerdem sehr jung.

Die Türkei als Bollwerk gegen Russland

Bereits im Kalten Krieg war die Türkei ein äußerst wichtiger Bündnispartner der NATO zur Einkreisung der Sowjetunion und Eindämmung des Warschauer Paktes. Im Ernstfall konnte die Türkei den Seeweg durch den Bosporus schließen und somit der Sowjetflotte den Weg ins Mittelmeer verwehren. Außerdem war die Türkei der ideale Ort zur Stationierung US-amerikanischer Atomraketen. Sie erhöhten das nukleare Abschreckungspotenzial erheblich. Die Sowjetunion reagierte damals mit dem Plan, Atomraketen auf Kuba zu stationieren, was letztlich zur brandgefährlichen Kuba-Krise führte.

Auch heute ist der Westen auf die Kooperation der Türkei angewiesen. Die Russische Förderation wird zurzeit wieder als Feindbild aufgebaut. Dementsprechend wichtig ist die Türkei zur Isolation Russlands. Neben der Möglichkeit, den Ausgang des Schwarzen Meeres zu kontrollieren, grenzt die Türkei an Georgien. Wenn Georgien, Moldawien und die Ukraine der NATO beitreten sollten oder mit den USA oder der NATO ein Verteidigungsabkommen abschließen sollten, wäre Russland am Schwarzen Meer tatsächlich isoliert. Außerdem sind Georgien und die Türkei wichtige Transitländer für Pipelines, die aus der Region des Kaspischen Meeres kommen.

Die Türkei als Transitland der Pipelines

Die EU möchte sich unabhängiger von russischen Gaslieferungen machen. Bedeutende alternative Anbieter von Erdgas sind vor allem Aserbaidschan am Kaspischen Meer und Katar am Persischen Golf. Gas wird vorzugsweise durch Pipelines transportiert. Die Pipelines von Aserbaidschan nach Europa gehen durch die Türkei. Von dort soll das Gas in europäische Pipelines weitergeführt werden, die durch den Balkan und Italien verlaufen.

Auch Katar würde gern Gas durch Pipelines via Türkei in die Staaten der EU exportieren – wenn das Problem Syrien nicht wäre. Zurzeit lebt der arabische Golfstaat hauptsächlich vom Export des Flüssiggases, das wie Erdöl per Tanklastschiffe transportiert wird.

Auch die Planungen hinsichtlich der Erdöl-Pipelines von den arabischen Ländern am Persischen Golf zu den Abnehmerstaaten in Europa sind vor allem von der Türkei abhängig. Sobald die politische Situation im Irak und in Syrien stabilisiert ist, gibt es keine effizientere und kostengünstigere Alternative zum Erdöltransport als Pipelines von der arabischen Halbinsel durch die Türkei nach Europa.

Die Türkei als westlicher Brückenkopf in die islamische Welt

Der Bürgerkrieg in Syrien und im Irak, der ausufernde „Islamische Staat“ (IS), die semi-autonomen Kurdenregionen, der krisengeschüttelte Libanon und die schiitischen Hisbollah sowie der erstarkende Iran und die damit verbundene Sicherheitsfrage Israels – all diese geostrategischen und politischen Themen können nicht angegangen werden, ohne die Türkei einzubeziehen. Die Türkei ist der einzige NATO-Staat im Nahen und Mittleren Osten. Mit ihrem starken Militär ist die Türkei ein Bollwerk gegen jedwede Bedrohung, die aus dieser Region kommen könnte.

Problematisch – für den Westen und insbesondere für die USA – ist jedoch, dass die Türkei innerhalb der NATO wesentliche unabhängiger und souveräner agiert, als andere Bündnispartnerländer. Während des Golfkrieges von 1991 und des Irakkrieges ab 2003 kooperierte die Türkei mit den USA nur bedingt. Die Amerikaner hätten es gern gesehen, wenn ihre Truppen über Anatolien in den Irak hätten vorrücken können.

Doch die Türkei wollte kein Aufmarschgebiet gegen den Irak sein. Deshalb mussten Saudi-Arabien und die kleinen Golfstaaten herhalten, und deshalb wurden die Angriffe gegen den Irak von Süden her organisiert. Im ersten Golfkrieg hatte dies Sinn, weil es offiziell um die Befreiung Kuwaits ging. Doch bei Angriff auf den Irak im Jahre 2003 wäre es aus US-amerikanischer Perspektive einfacher gewesen, den Angriff von mehreren Fronten aus gleichzeitig zu führen, insbesondere um die Ölfelder bei Kirkuk im Nordosten des Landes zu sichern.

Auch das undurchsichtige Hin- und Herschwanken der Türkei während des Bürgerkrieges in Syrien zeigt, dass die Türkei nur bedingt in eine langfristige Planung eingebunden werden kann. Was immer man vorhat, es sieht stets so aus, als habe die Türkei ganz eigene Interessen im Spiel.

Warum Erdogan dem Westen unheimlich ist

Unter Mustafa Kemal Atatürk wurde der Rest des Osmanischen Reiches zum modernen türkischen Nationalstaat umgeschmiedet. Dieser Staat war strikt laizistisch und auf Modernisierung getrimmt. Die Türkei strebte nach Europa.

Doch in den letzten beiden Jahrzehnten ist eine Gegenentwicklung zu verzeichnen. Die Türkei emanzipiert sich vom Wunsch, der EU beizutreten und geht zunehmend eigene Wege. Eine wichtige Ursache hierfür ist die wiederkehrende Islamisierung des Landes. Religion und Tradition werden wieder verstärkt in den Vordergrund gerückt. Dies hat sich besonders deutlich durch die Wahlsiege der islamisch-konservativen Partei AKP gezeigt. Der derzeitige türkische Präsident Recep Tayyib Erdogan balanciert auf einem schmalen Grad zwischen moderner Westbindung und islamischer Orientierung zum Nahen und Mittleren Osten. Dort möchte die Türkei in Zukunft wieder eine bedeutendere Rolle zu spielen.

Doch weder im politischen Umgang mit Russland, mit Saudi-Arabien, mit Israel oder mit den USA lässt sich unter Erdogan eine klare Linie erkennen. Das Land ist zwar Teil der NATO, folgt aber stets eigenen Interessen zuerst. Und diese Interessen scheinen einen Bezug zur zentralen Lage der Türkei zu haben. Eine klare Orientierung in die eine oder andere Richtung würde die Türkei zum Frontstaat machen – entweder zum westlichen Frontstaat gegen die islamische Welt oder gegen Russland, oder zum islamischen Frontstaat mit einem Fuß in Europa.

Doch die Türkei scheint gerade von der Mittlerfunktion zwischen den Machtblöcken und Regionen zu profitieren. Hinzu kommt, dass islamische Konservative und die laizistischen Kemalisten im Lande sich gegenseitig ausgleichen. Eine zu starke Orientierung in die eine oder andere Richtung würde die Opposition stärken und Auswirkung auf die nächste Wahl haben. Insofern ist die Türkei nicht jener ideale Wunschpartner, den die anderen NATO-Staaten gerne hätten. Aber es ist der Türkei ihr gutes Recht, ihren eigenen Weg zu gehen.

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Gravatar: dr. bernd f. schulte

Die besondere Bedeutung der Türkei (700.000 Bajonette, Motke 1911) am Kaukasus gegen Rußland vor 1914 wurde, in den Monatsberichten des Generalstabes in Berlin, durch den Abzug von 2 Armeekorps aus dem Raum Kiew in den Raum Rostow bestätigt. 1980 unterstrich der Besuch des Wirtschaftsministers Matthöfer erneut die Bedeutung der Türkei - auch in der Strategie der NATO.
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Bernd F. Schulte: Vor dem Kriegsausbruch 1914. Deutschland, die Türkei und der Balkan. 184 S., Droste/ Düsseldorf 1980, 38,- DM.

Der Vf. (Historiker und Politikwissenschafter, jetzt wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule der Bundeswehr in Hamburg) untersucht an dem Beispiel der militärischen Veränderungen im balkanisch-türkischen Raum während der Jahre 1911-1914 die Bedeutung der deutschen militärischen Zusammenarbeit mit der Türkei; wobei es insbesondere um die Politik der deutschen Reichsleitung in den Jahren 1912-1913 geht.

Vor allem durch die Tätigkeit des Generals v.d. der Goltz-Pascha, der 1883-95 als deutscher Militärinstrukteur, und dann 1909-1913 als Vizepräsident des türkischen Obersten Kriegrates für die Neuorganisation der türkischen Armee tätig war, wurde der deutsche militärische Einfluß in der Türkei so groß, daß die Türkei als möglicher Bündnispartner des Deutschen Reiches und als gewichtiger Faktor gegen Rußland/ England und Frankreich in die strategischen Überlegungen des deutschen Generalstabes einbezogen wurde.

AIs dann zur Überraschung aller europäischen Mächte die türkische Armee I.Balkankrieg im Herbst 1912 innerhalb weniger Wochen zusammenbrach, wirkte sich dies erdrutschartig auf die deutsche Militär- und Außenpolitik aus. Die deutsche Reichsleitung entschied sich nun dafür, die Flottenrüstung wieder hinter der vorrangigen Heeresverstärkung zurückzustellen. Dabei war man in der deutschen militärischen Führungselite durchweg der Überzeugung, "der große Krieg müsse und werde kommen" (S. 38) und es werde sich nur um einen "kurzen Krieg" handeln. Der wachsende russische Druck im Osten führte zum deutschen Plan eines "zeitlich scharf kalkulierten Entscheidungsschlages gegen Frankreich" (S. 74), nach dessen Gelingen sich die deutsche Hauptmacht gegen Rußland richten sollte (Schlieffen-Plan). Im Zusammenhang mit der großen Heeresvorlage von 1913 setzte eine verstärkte deutsche Aufrüstung ein, ein weiterer Schritt im Rüstungswettlauf der großen Mächte.

Auch nach der Balkankrise konnte die Türkei durch die deutsche Diplomatie als potentieller Bündnispartner festgehalten werden. In Auswirkung dieser Zusammenarbeit (l9l3-l914 General Liman von Sanders als Chef der deutschen Militärmission in der Türkei) stellte sich bei Ausbruch des l. Weltkrieges die Türkei an die Seite der Mittelmächte, wobei sicherlich auch die Hoffnung mitentscheidend war, sich durch dieses Bündnis gegen die von den alliierten Gegenmächten drohende Aufteilung des türkischen Reiches zu schützen.

Es handelt sich um eine sorgfältige Untersuchung, die im einzelnen nachweist, daß die militärischen und politischen Entscheidungen der deutschen Reichsleitung im erstaunlichen Umfang von den Ereignissen und Gewichtsverschiebungen im balkanisch-türkischen Raum mitbedingt waren. Grundlage sind neben dem - bereits sehr umfangreichen - gedruckten Schrifttum (S. 179-184) die Aktenbestände von München (Kriegsarchiv), Koblenz (Bundesarchiv), Freiburg (Militärarchiv), Karlsruhe (Generallandes-Archiv), Stuttgart (Hauptstaatsarchiv). - Ein sorgfältiges "Personenregister" (S. 173-177) erschließt den Inhalt. - Ein ausführlicher "Dokumentenanhang" (S. 123-172) bringt einschlägige Aktenauszüge.

Georg Stadtmüller (1909-1985/Ordinarius für Ost- und Südosteuropageschichte an der Universität München), in: Das Historisch-Politische Buch 1/1981, S. 20.

Gravatar: TD

... danke für die nüchterne neutrale Darstellung! Jedes Land hat das recht seine eigene Interessen zu vertreten ... unabhängig von der Innenpolitischen Situation. Die Türkei als Türsteher für andere Interessensgruppen hat ausgedient.

Insofern entwickelt sich das Land auf ein anderes niveau .. was sicherlich auch u.a. durch ihre geografische Lage zu bestimmt ist . Moderne und Tratidition können seht wohl in Kooexistenz bestehen ... und wer sagt das die Maxime der westlichen Welt für die ganze Welt gilt?

Insofern ist zu hoffen das sich das ganze sich in der Waage hält und eine Abdriftung in irgendeine Richtung nicht erfolgt!

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