Hintergrund-Literatur

Dr. Rita Knobel-Ulrich: Reich durch Hartz IV

Wie absurde Maßnahmen und die perfiden Strategien einer ganzen Industrie, den deutschen Sozialstaat hemmungslos schröpfen

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Oft kolportiert, von jeder Art Betroffenheitsjournalisten vor die Kameras gezerrt und durch unzählige Talk-Shows geschleift – die Hartz-IV-Bezieher, die mehr abgreifen, als ihnen zusteht. Darüber ein x-tes Buch zu verfassen wäre ebenso unnütz wie ein weiteres darüber zu lesen. Doch wer weiß schon, dass in diesem Kontext längst eine ganze Industrie entstanden ist, die sich ungeheure Summen von den Steuergeldern abzweigt – das Geschäft mit der Armut als boomende Branche! Bei den wirklich Bedürftigen kommt immer weniger an. Und Bundestagspolitiker sämtlicher Volksparteien mischen kräftig mit! Die Filmemacherin und Autorin Dr. Rita Knobel-Ulrich tauchte tief ein in den Dschungel der beteiligten Firmen und Institute. Für die Recherche hat sie Monate in Arbeitsagenturen, Bildungseinrichtungen, Tafeln, Firmen und bei privaten Arbeitsvermittlern verbracht und den gezielten Missbrauch unseres Sozialsystems miterlebt.

Die Frage nach dem Sinn- bzw. Unsinn von Fördermaßnahmen wird allerdings bereits auf den ersten Seiten des Buches beantwortet: Stefan Sell, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Koblenz, Referent für Arbeitsmarktpolitik im Bundeskanzleramt unter Helmut Kohl und Chef des Arbeitsamtes in Tübingen: „Seien wir ehrlich“, bekannte Sell am Rande einer Konferenz in Berlin, „wir werfen Milliarden zum Fenster hinaus. Wir betrügen die Leute. Was wir machen, ist zum großen Teil Schrott“. Was Sell in großartiger und wohl eher unfreiwilliger Offenheit als „Schrott“ bezeichnet, ist allerdings für Einige durchaus wertvoll. Wie wertvoll – das zeigen die Recherchen von Frau Dr. Rita Knobel-Ulrich.

Dass es in Deutschland Menschen gibt, die Hartz IV missbrauchen, ist bekannt. Dass allerdings auch all jene, die die Hartz-IV-Bezieher betreuen, die Hand aufhalten, wissen viele nicht. Fortbildungsinstitute, Anwälte oder private Arbeitsvermittler profitieren vom Stillstand der Langzeitarbeitslosen, die schon längst als „nicht mehr vermittelbar“ eingestuft wurden. Dr. Rita Knobel-Ulrich durchleuchtet in ihrem Buch den Behördendschungel der beteiligten Firmen und Institute. Ihr Buch deckt auf, wer permanent kassiert und dafür sorgt, dass bei den wirklich Bedürftigen immer weniger ankommt und warum ein radikales Umdenken in Deutschland dringend nötig ist.

Es gibt circa 40 000 freie Bildungsträger in Deutschland. Und auch gemeinnützige Helfer haben durchaus auch eigene Interessen - und die lassen sich beziffern: Sie liegen für einen Teilnehmer pro Monat zwischen 300 und 600 Euro bei einer einfachen Fortbildungsmaßnahme. Zitiert wird einer der Chefs: „Es sind 1400 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die hier täglich rein- und rausgehen“. Gelingt es also Säle und Hallen zu füllen, bringen das Einnahmen von etwa 4,5 Millionen Euro pro Jahr. Aber auch die deutsche Großkonzerne mischen mit: so wird der Fall „ThyssenKrupp Xervon“ beschrieben. Hier will ein Global- Player eine große Zahl an Gerüstbauern einstellen. Einzige Bedingung dafür, ist die Teilnahme der Bewerber an einer Qualifizierungsmaßnahme: Zwei Monate Übungen am Gerüst plus Theorie, dann folgt ein Praktikum. Gezahlt wird vom Steuerzahler! Und es müssen keine teuren Anzeigen geschaltet und nicht umständlich nach geeigneten Leuten gesucht werden.

Der Metallbauer ist bei weitem kein Einzelfall. Den meisten Menschen in Deutschland ist der Verein zur technischen Überprüfung von Automobilen ein Begriff – der TÜV Nord. Stolz weist der Verein von 1869 darauf hin: Der TÜV Nord mischt jetzt auch mit im Millionengeschäft „Bildungsmaßnahmen für Arbeitslose“. Im Geschäftsbericht 2011 jubelt das Unternehmen: „Milliardengrenze übersprungen - höchsten Umsatz seit Bestehen“. Einen erheblichen Teil dieses Umsatzsprungs verdankt der TÜV Nord den „Geförderten Maßnahmen“. Was Schüler, die etwa bei Rewe an der Kasse sitzen und ihr Taschengeld aufbessern, an einem Nachmittag lernen, dauert hier ganze zehn Monate, gut bezahlt vom Jobcenter. Das Ergebnis: Im Übungsladen wurden 561 Teilnehmer geschult. Nur 93 fanden eine Stelle. Das Hamburger Jobcenter fand übrigens, das sei schon eine prima Quote: Mehr als 15 Prozent seien somit vermittelt worden. Oft sind es viel weniger - gerade fünf Prozent. Wirklich richtig zufrieden sind hingegen die Leute vom TÜV: bisher rund 2,8 Millionen Euro für die Teilnahme am Supermarkt-Kurs, bei dem alle gewinnen – der Einzelhandelsverband, der TÜV Nord, ein Heer von Sozialarbeitern und Ausbildern – nur nicht die Arbeitslosen, und der Steuerzahler schon gar nicht.

Unwillkürlich könnte man de Frage stellen: Geht es noch skrupelloser? Ja – das geht!

Und das auf einem Gebiet, wo es kaum zu erwarten ist: Etwa 4500 Tafel-Fahrzeuge sind bundesweit unterwegs, um Lebensmittel abzuholen, deren Verfallsdatum zwar abgelaufen ist, die also nicht mehr verkäuflich, aber durchaus noch essbar sind. Diese Lebensmittel sollen Bedürftigen zukommen, die es unbestritten auch gibt. Doch das, was Frau Dr. Knobel-Ulrich sieht, „ist definitiv ungenießbar: schimmlig, zerdrückt, zermatscht“. Ein Zufall? Nein. System! „Das ist ausschließlich eine kostenlose Entsorgung für Penny“, wird eine Tafel-Mitarbeiterin in Berlin zitiert. Offenbar sparen Lebensmittelhändler bundesweit Abfallgebühren in Millionenhöhe, was Robert Hedram von der Berliner Tafel bestätigt: „Ungefähr 220 Tonnen Biomüll haben wir pro Monat. Wir verteilen 660 Tonnen. Ein Viertel der Lebensmittel, die wir bekommen, ist also Müll“. Als Gemeinnützigkeit getarnte Müllentsorgung. Kostenfrei. Perfider geht es doch kaum. Oder doch?

Dass es doch noch schlimmer kommt, dürfte jeder Leser bereits ahnen:

Unglaublich, aber nach den Recherchen der Autorin wirklich wahr: Überlastete Jobcenter schicken Erwerbslose mit einem Gutschein zu privaten Arbeitsvermittlungen, obwohl die Behörde selbst Tausende Fallmanager beschäftigen. Ist eine Fallmanagerin mit ihrem Latein am Ende, nachdem Bewerbungs- und Telefontrainings, Einkaufs- und Nähkurse ihren Klienten nicht weitergebracht haben, schickt sie ihn mit einem Vermittlungsgutschein zu einer privaten Arbeitsvermittlung. Gelingt hier, einen Arbeitslosen für mindestens sechs Wochen zu vermitteln, gibt es von der Arbeitsagentur eine Prämie von 1000 Euro. Dauert die Beschäftigung gar bis zu einem halben(!) Jahr, gibt’s noch einmal 1000 Euro; bei Langzeitarbeitslosen sogar 1500 Euro. Das Ganze lohnt sich offenbar. Was sich allerdings nicht lohnt, sind dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse. Nach dem sechswöchigen Arbeitslosengeld kann nämlich wieder ein Anspruch auf einen Vermittlungsgutschein geltend gemacht werden. Das Spiel beginnt also von Neuem. Mehr als 45.000 Gutscheine wurden laut Statistik der Bundesagentur allein im Jahr 2010 abgerechnet. 2011 waren es über 46 600 Gutscheine. Das ergibt ca. 100 Millionen Euro nur an Vermittlungsgebühr.

Je länger man liest, desto wütender könnte man werden. Zumal der Verdacht aufkommen kann, das Buch hätte noch viele, viele, viele Seiten mehr haben können.

Der eigentliche Skandal scheint aber die Behörde selbst zu sein, die dieses ebenso groteske wie aufwendige und sündhaft teure "Spiel" inszeniert: Die Bundesagentur für Arbeit ist mit über 120 000 Beschäftigten einer der größten Arbeitgeber des Bundes, die größte Behörde in Deutschland und in Europa. Franz Kafka hätte hier seine Freude gehabt, denn der Ort bietet Anregung ohne Ende für Absurdes und Komisches. Allein für Trainingskurse gibt die Bundesagentur 6,6 Milliarden Euro aus.

Aus der öffentlichen Wohlfahrt ist längst ein Riesengeschäft geworden. Gerade einmal 25 300 Vermittler, also nur rund zehn Prozent der Gesamtbelegschaft haben direkten Kontakt nach „draußen“ zu den „Kunden“, wie im Behördenjargon die Arbeitslosen heißen. Die übrigen 100 000 Mitarbeiter berechnen Leistungsansprüche, widmen sich der Erforschung der Gesetzmäßigkeiten des Arbeitsmarkts oder verwalten die eigene Behörde.

Reformen scheinen fast unmöglich zu sein, denn an der Arbeitslosigkeit lässt sich auch weiterhin gut verdienen. Nicht nur mit den Bildungsträgern – auch die gewerkschaftlichen- und arbeitgebereigene Fortbildungs- und Umschulungseinrichtungen partizipieren an den „Maßnahmen“. Und politisch gewollt, sind Reformen auch nicht: Nach den Recherchen von Dr. Knobel-Ulrich sind 35 Prozent aller Bundestagsabgeordneten auch als Manager eines Sozialunternehmens tätig. Damit, so die Einschätzung der Autorin, würde der „Wohlfahrtsstaat eine riesige Hilfsindustrie alimentieren“. Hier sei in den letzten Jahren „eine Art Sozialkartell“ installiert worden. Dem äußeren Anschein nach, sind diese Politiker zwar ausschließlich um das Wohl der Bürger besorgt – deshalb diese Tätigkeiten? Oder trügt da der Schein? Eine Antwort bleibt Frau Dr. Rita Knobel-Ulrich den Lesern schuldig. Eine Antwort auf die Frage nach einem Ausweg aus der gesamten Miesere gibt die Autorin allerdings:

Die niederländischen Jobcenter, Centers voor Werk en Inkomen, setzen konsequent den "Work-First"-Ansatz um. Hier gilt: erst Arbeiten, dann das Geld. In vielen Orten ist es Pflicht, sich spätestens zwei Tage nach der Antragstellung bei den Stellenvermittlern zu melden und eine Tätigkeit aufzunehmen, in der eine bestimmte Anzahl von Wochenstunden gearbeitet werden muss. Wer sich weigert, bekommt ganz einfach die Hilfe gekürzt. Hart, aber fair. Arbeitslose werden bei Bedarf für soziale Tätigkeiten eingesetzt. Straße kehren, alten Menschen vorlesen oder ihre Einkäufe ins Haus bringen. Außerdem hätten Niederländer unter 27 Jahren keinen Anspruch auf Sozialhilfe, was den Druck auf sie, eine Ausbildung zu machen, auch wenn sie keine Lust haben, erhöht. Wieso, fragt die Autorin schließlich, gibt es in Deutschland Geld noch immer ohne Gegenleistung? Eine durchaus berechtigt Frage.

Buchcover_HartzIV

Die Autorin:

Dr. Rita Knobel-Ulrich lebt in Hamburg und arbeitet als Autorin und Filmemacherin für ARD, ZDF und die Deutsche Welle im In- und Ausland. In ihren Reportagen setzt sie sich mit gesellschaftlich relevanten Themen auseinander. Im Jahr 2005 erregter ihr Film „Arbeit?- Nein danke!“ über Hartz IV-Bezieher großes Aufsehen.

Dr. Rita Knobel-Ulrich: „Reich durch Hartz IV. Wie Abzocker und Profiteure den Staat plündern“, Redline, München 2013, geb., 255 Seiten, 19,99 Euro

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Bodo

Reich durch Hartz 4, das sind Aufstocker und Niedriglöhner, an denen sich viele Bonzen dumm und dämlich verdienen. Hartzer betrügen. Ja das tun einige Hartzer. Das tut aber auch der normale Bürger, der Promi in Steueroasen und sogar der Politiker bei Vorteilsnahme im Amt. Hartz 4 ist ein Systemmonster, das Sozialgerichte verstopft,geschaffen unter Mithilfe von Herrn Hartz,den ehrenhaften Mann. Nun tingelt er umher und will dieses System exportieren.Auch mit dem Buch wird verdient.Ich hätte gern mal ein Buch gesehen, wo es um Betrug der Eliten am Volk geht, um Korruption im Amt. Herr Schröder ist ja fein raus bei Putin. Dem geht als angeblichen Sozialdemokraten das Thema am Arsch vorbei. Das System wurde geschaffen, es ist ungerecht,verletzt die Würde des Menschen und macht Hartzer zu Freiwild von Willkür in den Jobcentern-Ermessensspielraum.Das Buch Hartz 4 und die Würde des Menschen muss her.

Gravatar: Immerdasselbe

Auch interessant wäre, wieviel Frau Knobel-Ulrich bisher durch Ihre "Filme" oder "Reportagen" überwiegend im Sinne des Mainstreams verdient hat. Ich hatte einmal das "Vergnügen" sie zu erleben und war erstaunt, dass sich so viel Intelligenz gepaart mit soviel Dummheit überhaupt auf den Beinen halten kann...
ansonsten ist der Artikel wirklich gut recherchiert.
Wenn die Deutschen wüssten, wieviel Geld alleine hier zum Fenster hinausgeworfen wird (Zig Milliarden) würden sie so manchen Politiker lynchen!

Gravatar: FreeSpeech

Nur RTL schauen und Bild lesen bringt es auch nicht.
Das wäre mal die Grundvoraussetzung für einen wirklich ehrlichen Artikel.
Es ist jedem unbenommen, die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (110.000 Beschäftigte) aus dem Dezember selbst zu lesen.
Zur Not zweimal...
Aus dem Dezemberbericht:
Sozialversicherungspflichtige offene Stellen: 387.000 (davon 87.000 befristet)
Bestand Arbeitslose: 3.186.518 davon in weiterem Sinne (was immer das auch heißen mag): 3.713.692.
Bestand Arbeitsuchende: 5.091.850
Noch Fragen?

Gravatar: Y. Y.

Gibt es eigentlich nur Leute, die keinen Arbeitsplatz finden? Oder gibt es auch Leute, die keinen wollen bzw. sich nicht anstrengen, einen zu finden?

Gravatar: Peterle

Der angebliche Ausweg aus der Misere ( wie in den Niederlanden ) existiert sicher nur in der Phantasie der Autorin , obwohl man zugeben muss das z.B. in Essen die Jobcenter ziemlich kreativ sind wenn sie Harz IV beziehende Obdachlose mit BIER bezahlen möchten . Ein solcher Ausweg ( wie in NL ) kann ja nur möglich sein wenn er für alle gilt ... will die Autorin 7 Mio. Bedürftige zum Laubhaken schicken weil Ihr einziges Vergehen darin besteht das sie keinen Arbeitsplatz finden ? Fakt ist doch , und ALLE Zahlen belegen das : Nie wieder wird es Arbeit für alle geben und die Zahl der Arbeitssuchenden wird sich sicher in den nächsten Jahren noch erhöhen ... ( genauso wie die Zahl derer die von Ihrem Lohn NICHT mehr Leben können !! )

Gravatar: Freigeist

Dass man vom Erfolg in anderen Länder nicht lernen kann ist ein Skandal.
Lernunwillige Politiker sind eigentlich auch unvermittelbar. Sind Sie deshalb etwa Politiker geworden?

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