Neue Rückzugsgebiete der Terrormilizen

Der »Islamische Staat« (IS) in Afghanistan

Der IS schafft sich Stützpunkte und Rückzugsgebiete im gebirgigen Grenzgebiet von Afghanistan und Pakistan. Dort schüchtert er sogar die Taliban ein. Die Entwicklung ist alarmierend.

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Wer glaubt, schlimmer könne es nicht kommen, auf den wartet hinter der nächsten Ecke die böse Überraschung – und Afghanistan ist immer für eine Überraschung gut. Das Land, in dem sich schon die Perser, Inder, Briten und später die Sowjets verlaufen hatten und das heute die US-amerikanischen Truppen und die Zentralregierung in Kabul zum Verzweifeln bringt, scheint unregierbar zu sein.Korrupte Politiker, Taliban, Mudschaheddin, Warlords, Drogenbarone, Stammesanführer und Al-Qaida reichen sich die Klinge in die Hand. Nun hat sich auch der „Islamische Staat“ (IS) hier festgesetzt. Das Signal ist alarmierend. Denn es gibt auf der ganzen Welt kein geeigneteres Rückzugsgebiet für radikale Islamisten als Afghanistan.

Noch blickt die Welt wie gebannt nach Syrien

Die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) hat im Nordosten Syriens und im Nordwesten des Irak ein staatsähnliches Gebilde aufgebaut. Die Augen der Weltöffentlichkeit sind auf dieses Gebiet gerichtet. Die militärischen Aktivitäten der Russischen Föderation und der US-Amerikaner sowie ihrer Verbündeten der Anti-Terrorkoalition und der irakischen Regierungstruppen konzentrieren sich auf die Bekämpfung dieses „Islamischen Staates“ (IS), der in dieser Region auch als ISIS („Islamic State of Iraq and Syria“) oder als ISIL („Islamic State of Iraq and the Levant“) bezeichnet wird. Auch die kurdischen Peschmerga und die Volksverteidigungseinheiten der YPG haben dort ihre wichtigste Front. Der IS ist ihre größte Bedrohung.Es wäre jedoch ein Irrtum anzunehmen, dass der IS ein regional begrenztes Gebilde sei. Tatsächlich gibt es Ableger des IS im Libanon, Jemen und Libyen. In Libyen sind die IS-Kämpfer bereits dabei, ihr eigenes Territorium zu erobern. Auch in Ägypten breitet sich der IS aus. Im Norden der Halbinsel Sinai haben sich die beduinischen Rebellen dem IS angeschlossen. In Nigeria hat sich die Terrorgruppe Boko Haram zum Verbündeten des IS erklärt. Ebenso sympathisieren die El-Schabaab-Milizen in Somalia mit dem IS. Auch in Tschetschenien gibt es Anhänger. Jüngst wurde sogar Bangladesch von Terroraktivitäten des IS erschüttert.Abgesehen von den IS-Terrormilizen gibt es zusätzlich die vielen Einzelkämpfer und kleinen Gruppen, die sich in vielen Teilen der Welt, insbesondere in Europa und Zentralasien aufhalten. Hinzu kommt eine unbestimmbare Zahl von Sympathisanten in der ganzen islamischen Welt. Die Twitter-Nachrichten vieler Muslime mit Reaktionen auf die Anschläge in Paris haben deutlich gezeigt, dass der IS in Teilen der islamischen Länder eine heimliche bis offene Zustimmung erfährt – auch wenn sich ein anderer Teil deutlich davon distanziert, weil Muslime zugleich die primären Opfer des IS sind.

Rückzugsland Afghanistan

Keine Region der Erde ist derzeit gefährlicher als Afghanistan. Es gibt Täler, in die sich weder Regierungstruppen noch Alliierte trauen. In den letzten Jahrzehnten hatte es niemand geschafft, das Land vollständig unter Kontrolle zu bringen, weder die afghanische Regierung, noch die Truppen der Sowjetunion oder die US-amerikanisch geführte westliche „International Security Assistance Force“ (ISAF). Sogar die Warlords, die Taliban, Al-Qaida und die Mudschaheddin konnten immer nur bestimmte Gebiete halten.Afghanistan ist nicht regierbares Land. Außerhalb von Kabul wechseln die Bündnisse und Loyalitäten wie das Wetter. In den abgelegenen Wüsten- und Gebirgsregionen macht jedes Dorf seine eigenen Regeln. Für die Bewohner ist das oft sehr verwirrend, denn sie wissen oftmals nicht, welchem Ankömmling sie trauen dürfen und wem nicht. Für die einfache Bevölkerung sind Taliban, Regierung und IS-Milizen gleichermaßen eine Plage, weil sie den Frieden der landwirtschaftlichen Dörfer stören und die Bewohner unter Druck setzen.Auf die Regierung ist kein Verlass. Die islamische Republik, die unter Aufsicht des Westens 2004 ausgerufen wurde, hat viele korrupte Politiker hervorgebracht. Das war unter Hamid Karzei so, und es ist unter seinem Nachfolger Aschraf Ghani ebenso. Afghanistan gilt als korruptestes Land der Erde.

Afghanistan – größter Drogenproduzent der Welt

Wie korrupt die Regierung und die Behörden, aber auch die Taliban in ihren Gebieten sind, zeigt das Laissez-faire gegenüber der Produktion von Schlafmohn, dem Grundstoff für Opium und Heroin. Mancherorts werden im Scheinkampf gegen die Drogen die Felder vernichtet, andernorts stehengelassen. Der Reichtum, den sich die hohen Spitzenbeamten und Spitzenpolitiker in den letzten Jahren in Kabul erworben haben, lässt sich für viele Afghanen nur durch die korrupte Involvierung in die Drogenkartelle erklären. Selbst die US-Truppen zeigten sich immer wieder auffällig unbesorgt inmitten der Schlafmohnfelder, so dass der Eindruck entstand, sie würden den Drogenanbau beschützen.Die Opium-Tradition in Afghanistan ist alt. Doch inzwischen ist das Land zum weltweit größten Produzenten der Grundstoffe für Opium und Heroin geworden. Selbst Mexiko, Kolumbien und das Goldene Dreieck ins Südostasien wurden abgehängt. Rund 90 Prozent des Heroins in Europa stammt ursprünglich aus Afghanistan.Die leichte Erreichbarkeit der Drogen verleitet und macht süchtig. Mehr als eine Million Menschen in Afghanistan sind bereits drogenabhängig. Ihre Zahl wächst unaufhörlich. Selbst Frauen und Kinder nehmen Opium, sei es, um die Schmerzen bei der Feldarbeit zu lindern, oder sei es, um die schreienden Kinder ruhig zu stellen. Ebenso weit verbreitet ist der Konsum von Haschisch. Für die Bauern ist der Anbau von Schlafmohn und Marihuana wesentlich lukrativer als der Anbau von Getreide. Für die Krieger aller Couleur sind die Drogen ein Mittel, um Angst zu überwinden. Es macht sie todesmutiger.

In der Höhle des Löwen: Grenzgebiet von Afghanistan zu Pakistan

Der Journalist Najibullah Quraishi hat sich für Al Jazeera nach Afghanistan ins Gebiet des IS begeben. Der IS hat sich in den hohen Bergen der Provinzen am pakistanischen Grenzgebiet festgesetzt. Hier liegt die Region Nuristan, die früher Kafiristan hieß, weil dort die Kafiren (d.h. „Ungläubige“) lebten, die erst im 19. Jahrhundert zum Islam bekehrt wurden. Heute gehört Nuristan zu den Verwaltungsprovinzen Kunar und Lakhman am Rande des Hindukusch. Die Gegend ist von hohen Bergen und tiefen Tälern geprägt. Im Vergleich zum Rest Afghanistans die Landschaft grün.Bemerkenswert ist, dass in Afghanistan die gefährlichsten Provinzen allesamt im Osten und Süden liegen, also in unmittelbarer Nähe zu Pakistan. Es ist das undurchsichtige Grenzgebiet, das die Terroristen für sich ausnutzen. So leben die Paschtunen, die die größte Bevölkerungsgruppe in Afghanistan stellen, auf beiden Seiten der Grenze, weil die Briten sich bei ihrer Grenzziehung anno dazumal nicht um ethnische Zugehörigkeiten, sondern nur um geographische und strategische Gesichtspunkte wie Bergketten und Wasserscheiden Gedanken machten. Die Stammesbeziehungen der Paschtunen sorgen dafür, dass zahlreiche Terrorgruppen permanent über die Grenze wechseln können. Dieses System hatte sich auch das Terrornetzwerk Al-Qaida unter ihrem Anführer Osama Bin Laden zunutze gemacht.

IS schüchtert Taliban ein

Der IS geht in Afghanistan genauso vor wie in Syrien und im Irak. Letztes Jahr waren rund hundert vermummte Kämpfer in das Gebiet eingeschleust worden. Um von Anfang an die Machtverhältnisse zu klären, haben die IS-Kämpfer wichtige Taliban-Anführer der Region gefangen genommen und aufgehängt. Die Hinrichtung wurde gefilmt. Dann wurden die Dorfältesten eines aufsässigen Dorfes gefangen genommen und mit Minen in die Luft gesprengt. Auch das wurde gefilmt.Mittlerweile ist in der Region eine Dreiecksfront entstanden: Regierungstruppen und Polizei gegen Taliban und alle gemeinsam gegen den IS. Die Bevölkerung ist diesen Machtspielchen ausgeliefert, weshalb viele Familien die Region verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen.Der IS rekrutiert sich nicht nur aus eingeschleusten Kriegern. Immer mehr enttäuschte Taliban-Kämpfer und Regierungssoldaten wechseln die Seite. Ein Grund, so wird oft behauptet, sei die bessere Bezahlung. Der IS verfügt über größere Geldquellen. Außerdem beeindrucke er durch seine Kompromisslosigkeit.Wie Najibullah Quraishi recherchieren und filmen konnte, hat der IS bereits begonnen, die afghanischen Kinder zu indoktrinieren und auf den Dschihad, den Heiligen Krieg vorzubereiten. Jugendliche wurden bereits als Kandidaten für die nächsten Selbstmordanschläge ausgewählt. Sie sollen hohe Beamte und den Provinzgouverneur in die Luft jagen. Alle Ungläubigen und alle Agenten und Verräter in der Provinz sollen ausfindig gemacht und getötet werden.

Die offiziellen Ziele des IS in Afghanistan

Für die Bevölkerung ist es verwirrend: Die Mudschaheddin und Taliban hatten doch bereits für den Islam gekämpft. Man lernt den Koran auswendig, lebt nach islamischen Sitten und erfüllt seine Pflichten als Muslim. Warum also der neue Kampf zwischen Taliban und dem IS?Für den IS ist die Antwort klar. Wie Al-Qaida strebt er höhere Ziele an. Die Taliban hatten als oberstes Ziel die Fremden und ihre Ideologien außer Landes zu werfen. Al-Qaida hatte allgemein die Vertreibung aller Ungläubigen aus den islamischen Ländern zum Ziel. Doch der IS will mehr.Der IS verkündet auch in Afghanistan das islamische Kalifat. Ziel des IS in Zentralasien sei die Schaffung eines Großreiches namens Chorasan (Khorasan), zu dem Afghanistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Teile Usbekistans und die sunnitischen Ostgebiete des Iran gehören sollen. In den genannten Ländern würden bereits die ersten Dschihadisten auf weitere Instruktionen warten.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Michael

Hat jemand geglaubt, dass die ihren Arsch nicht in andere Länder retten, wenn es ihnen an den Kragen gehen soll?

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