Wirtschaft

China: Ende des Wirtschaftswunders?

Derzeit häufen sich düstere Prognosen für die chinesische Wirtschaft. Panikmache? Tatsächlich handelt es sich um Korrekturen von Wachstumsanomalien. China bleibt weiterhin Motor der Weltwirtschaft.

Foto: Jonathan Kos-Read/flickr.com/CC BY SA 2.0
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Es gibt Menschen, die können nicht zwischen Wetter und Klima unterscheiden. Bei warmen Wetter sagen sie, es müsse sich um die Erderwärmung handeln, bei kaltem Wetter sagen sie eine Eiszeit voraus.

Wie beim Klima, so bei der Wirtschaft. Die Konjunktur schwankt. Aktien steigen und fallen. Doch für die Zukunft sind sie nur bedingt aussagekräftig. Wer langfristige Prognosen abgeben möchte, muss die Dinge aus einer größeren Distanz betrachten.

Derzeit häufen sich die Negativmeldungen aus China. Es ist von Aktieneinbrüchen die Rede, von Währungsabwertungen und vom sinkenden Wirtschaftswachstum. Die Exportindustrie Chinas schwächelt und die Investoren sind weniger optimistisch.

Das Nachrichtenmagazin Focus titelte in seiner neuesten Ausgabe vom 14. August: „Wie krank ist China?“ und „Dem Drachen geht die Puste aus“. Parallel wirken die gewaltigen Explosionen in Tjanjin wie ein schlechtes Omen. Sieht China düsteren Zeiten entgegen?

Schwankungen hat es immer gegeben

Schauen wir uns die Angaben der Weltbank zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) Chinas genauer an. Nach dem misslungenen „Großen Sprung nach vorn“ (1958 bis 1961) unter Mao Zedong ging es in den 1960er Jahren steil bergauf. 1964 lag das Wirtschaftswachstum bei sagenhaften 18 %. Dann kam die Kulturrevolution. Zwischen 1966 und 1976 schwankte im Chaos das BIP zwischen -5,7 % (1967) und +19,4 % (1970). Zum Ende der Kulturrevolution (1976) lag es bei -1,6 %.

Dann kam Deng Xiaoping mit seiner Öffnung nach Westen. 1978 stieg das BIP auf ordentliche 11,7 % an. Mit leichten Schwankungen ging es weiter bergauf. Einen Rückfall gab es Ende der 1980er Jahre, als mit dem Zusammenbruch des europäischen Ostblocks auch ein Ende der kommunistischen Partei in China befürchtet wurde. Es gab das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking und landesweit eine von Unsicherheit geprägte Stimmung. Das BIP lag 1989 bei 4,1 % und 1990 bei 3,8 %.

Die Lehre der chinesischen Führung aus den Unruhen: Wiederherstellung der Stabilität, Konzentration auf das Wirtschaftswachstum sowie die staatlich kontrollierte Liberalisierung der Märkte. Die Politik der Sonderwirtschaftszonen wurde fortgesetzt. Gleichzeitig lagerte Hongkong die Industrie ins chinesische Mutterland aus.

Die in der Nähe von Hongkong auf dem chinesischen Festland gelegene Hafenstadt Shenzhen wuchs von weniger als 300.00 Einwohnern (1970er Jahre) auf heute rund 13 Millionen Einwohner an. Zusammen mit den Nachbarstädten formt Shenzhen das Herz eines Ballungsgebietes im Perlfluss-Delta mit insgesamt 44 Millionen Einwohnern. Der Hafen von Shenzhen ist (2014) der drittgrößte Container-Hafen der Welt, mit einem Umschlag von rund 23 Millionen TEU (Standardcontainer). Ein Teil der Waren wird weiterhin über Hongkong verschifft. Hongkong hat den viertgrößten Hafen der Welt. Hier werden mehr als 22 Millionen TEU umgeschlagen. So werden aus der Perlflussdeltaregion insgesamt mindestens 45 Millionen TEU verschifft. Dabei sind die kleineren Häfen der Gegend noch nicht einmal mitgezählt. Die Region ist somit bei weitem der größte Exportumschlagplatz der Welt.

Dem Vorbild von Shenzhen entsprechend, wurden weitere Sonderwirtschaftszonen eingerichtet, bis sich die Liberalisierung über große Teile des Landes erstreckte. Shanghai ist heute eines der wichtigsten Wirtschaftszentren mit dem weltweit größten Container-Hafen (Umschlag: mehr als 33 Millionen TEU). Ein Teil der ostasiatischen Waren wird in Singapur gelöscht und umgeladen. Singapur ist mit 32 Millionen TEU knapp hinter Shanghai der zweitgrößte Container-Hafen der Erde (Stand 2014). Die Tatsache, dass die größten Häfen der Welt dem chinesischen Export gewidmet sind, spricht Bände.

Zurück zur Entwicklung des BIP: Das BIP Chinas ist seit mehr als 20 Jahren mit Schwankungen auf einem hohen Niveau geblieben. 1992 lag es bei etwa 18 %, 1997 bei rund 9 %, 2004 bei etwa 10 %, 2007 bei 14,2 %, 2011 wieder bei 9 %. Nach Prognosen des IWF pendelt sich dieser Wert in den nächsten Jahren bei 6 bis 7 % ein.

Was häufig vergessen wird: Die Wachstumszahlen des BIP geben den Prozentanteil vom jeweils vorhergehenden Jahr wieder. Das Wachstum von 9 % im Jahre 2011 war in absoluten Zahlen wesentlich höher als die 9 % von 1997, da die Wirtschaftskraft im jeweils vorherigen Jahr höher war.

Was lernen wir aus diesen Zahlen: China legt mit Schwankungen seit Jahrzehnten ein hohes Tempo beim Wirtschaftswachstum vor. Parallel zu den Zahlen des BIP stiegen die Zahlen des Exports. China ist der zweitgrößte Exporteur der Welt. Mittlerweile ist China auch im Gesamtwert des BIP die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt nach den USA.

China hat ohne Zweifel Sorgen und Probleme. Da ist zum einen die Überalterung der Gesellschaft. Doch dieses Problem teilt China mit Japan, Südkorea und Europa. China hat eine wachsende Verschuldung. Doch das ist ein globales Phänomen. Dem Wert der Schulden steht die wachsende Wirtschaftskraft gegenüber. Hier ist das Problem weniger drückend als etwa in Japan.

Blasen wachsen und platzen

Wie überall auf der Welt gibt es auch in China Spekulationsblasen. Das Auf und Ab an den chinesischen Börsen spiegelt sich an den anderen Börsen der Welt. Der schwere Einbruch von 2015 hatte weltweit dramatisierende Zeitungsschlagzeilen zur Folge. Doch die ganze Geschichte relativiert sich von selbst, wenn man den vorhergehenden – unnormalen – Aufschwung Ende 2014 bis Anfang 2015 berücksichtig. Da waren die Aktien um rund 150 % in die Höhe geschossen. In Wahrheit handelte es sich also um die Kurskorrektur einer Boom-Anomalie. Das ist schade für die vielen chinesischen Kleinanleger, die auf einen schnellen Gewinn hofften, aber langfristig kein Beinbruch für die chinesische Wirtschaft.

Schließlich gibt es immer wieder Gerüchte um Immobilien-Blasen. Doch auch hier lässt sich China nicht über einen Kamm scheren. Es gibt zahlreiche Städte mit vielen leerstehenden Hochhäusern und Bauruinen. Dem gegenüber fehlt es in anderen Städten an Wohnungen. Diese Asymmetrie von Angebot und Nachfrage bei den chinesischen Immobilien wird durch das enorme Tempo der chinesischen Bauwirtschaft und durch den dynamischen Binnenmarkt hervorgerufen. Das Riesenland ist unübersichtlich und nicht alle Provinzen wachsen im selben Tempo. Da schießen Investitionen schon mal ins Leere.

Chinas Einbindung in die Weltwirtschaft

Fast alle Industriestaaten, inklusive der ostasiatischen Länder Japan, Südkorea, Taiwan, haben Teile ihrer Industrieproduktion nach China ausgelagert. US-Konzerne lassen in China Turnschuhe, Computer und Smartphones produzieren. Deutsche Autohersteller haben dort zahlreiche Werke. China ist längst die Werkbank der Welt geworden.

Der Export der in China hergestellten Waren ist zu einem großen Teil nichts anderes als die Verschiffung der von den westlichen Industriekonzernen extern hergestellten Waren. Sinkende Teilproduktionen in bestimmten Branchen weisen darauf hin, dass der jeweilige Mutterkonzern im Ausland, entsprechend der Weltkonjunkturlage, an Umsatz einbüßt.

Kurz: Wenn der US-Hersteller von Turnschuhen weniger Turnschuhe verkauft, weil immer mehr US-Amerikaner ihre Kreditkarten überzogen haben, dann lässt dieser US-Hersteller auch weniger Turnschuhe in China herstellen, was die „Exportzahlen“ der Turnschuhe „Made in China“ reduziert. Die Weltwirtschaft ist so verwoben, dass von einer isolierten Volkswirtschaft heute nirgendwo mehr die Rede sein kann.

Abwanderung versus Binnenwanderung

Düstere Vorhersagen prognostizieren einen Abschwung der chinesischen Wirtschaftsleistung, weil die Löhne in China steigen und viele internationale Konzerne auf andere Länder wie beispielsweise Vietnam oder Indien ausweichen. Das ist der normale Gang des Kapitals. Die Industrieproduktion wandert immer weiter zum nächstgünstigsten Standort. Davon hatte China lange profitiert. Nun steht neue Konkurrenz in den Startlöchern. Doch der Vergleich der industriellen, verkehrstechnischen und administrativen Infrastruktur zwischen Indien und China macht offensichtlich, dass es hier noch gewaltige Unterschiede gibt. China ist weitaus fortschrittlicher.

Es gibt noch andere Faktoren, die hierbei zu berücksichtigen sind. China hatte in den letzten Jahren den Wert seiner Währung behutsam steigen lassen. Dadurch wuchs die Kaufkraft der Chinesen im Ausland. Aber die Lohnkosten im Inland wuchsen auch. Die chinesische Regierung hat dies längst erkannt und jüngst für Abwertungen des Yuan Renminbi gesorgt.

Ein anderer Faktor ist der große Binnenmarkt. Mit 1,4 Milliarden Menschen hat China mehr Einwohner als ganz Europa und Nordamerika zusammengenommen. Die Chinesen selbst streben nach westlichem Lebensstandard. Sie wollen Autos und Smartphones kaufen und eifrig konsumieren. Den Zugang zu diesem Markt regelt die chinesische Führung immer noch restriktiv. Die Größe des Marktes macht es für global agierende Konzerne unmöglich, sich den Spielregeln zu entziehen, die Peking festlegt.

Ein dritter Faktor ist die Heterogenität des Binnenmarktes und chinesischen Hinterlandes. Der Hauptaufschwung des chinesischen Wirtschaftswunders war bisher von der Küstenregion getragen worden. Doch längst hat sich das Hinterland aufgemacht, am Aufschwung teilzuhaben. Das zeigt sich an der Entwicklung der Metropolenregionen des Binnenlandes, wie etwa Chongqing.

Manche Gebiete Chinas liegen noch abseits der Entwicklungen und übernehmen zukünftig die Rolle der Billiglohnregionen. So, wie die Industrieproduktion einst von Hongkong nach Shenzhen, Guangzhou (Kanton) und Shanghai abwanderte, wird dieselbe weiter nach Westchina wandern. Die Küstenstädte würden dann verstärkt auf den Dienstleistungssektor setzen. Für diese Entwicklung gibt es konkrete Vorbilder: Hongkong und Singapur.

Ein weiterer Faktor ist die Wirtschaftsmentalität in China. Die Menschen dort lassen sich von Krisen nicht entmutigen. Das 20. Jahrhundert bescherte China viele Katastrophen. Allein beim großen Sprung nach vorn (1958-1961) waren 20-30 Millionen Menschen verhungert. Ganze Regionen verwahrlosten. Dennoch haben die Chinesen niemals aufgehört, fleißig weiter zu arbeiten. Diese Mentalität kann man in China noch heute allerorts beobachten: Wenn ein Geschäft pleitegeht, wird prompt ein neues aufgemacht. Aufgeben gibt es nicht.

Mit welcher langfristigen Entwicklung ist zu rechnen?

Chinas Wirtschaft wird weiter wachsen. Die Zahlen des Wachstums nach BIP werden zwar, prozentual gesehen, weniger spektakulär sein. Doch Chinas Aufstieg zur Weltwirtschaftsmacht (neben den USA) ist unaufhaltbar: Zu sehr ist die Weltwirtschaft von der nach China verlagerten Industrieproduktion abhängig.

Der distanzierte Blick auf die Jahrzehnte von 1945 bis 2015 zeigt eindeutig, dass China sich auch durch Katastrophen, Kulturrevolutionen und Krisen langfristig nicht von seinem Weg abbringen lässt. 1,4 Milliarden Menschen haben sich aufgemacht, ihren Lebensstandard zu erhöhen. Sie werden sich nicht aufhalten lassen.

( Schlagwort: GeoAußenPolitik )

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Song Mali

@ Stephan Achner: "... Diese Tugenden, die ja mittlerweile in Europa verpönt sind ..."

Aber nein! Nur, die Buerokratenkasten der "EU" und -viele- der sog. "Nationalregierungen und -parlamente" kaempfen gegen -jedwede- Vernunft wie Souveraenitaet.

Gravatar: Song Mali

Wirtschaftswunder?

'Wunder' gehoeren in Reich der Mythen und Weltanschauungen.
Fleiss, Tuechtigkeit, Unternehmergeist, Zaehigkeit, Freiraeume, Realismus, lokale wie internationale Chancen, Leidensfaehigkeit, chinesische Geduld und Demut, .... Abermillionenfach.

Da ist nichts mit 'Wunder' gewesen.

Und, ja; "Korrekturen von Wachstumsanomalien, China bleibt weiterhin Motor der Weltwirtschaft", und wird -falls die Politik und Administrationen dazulernten- seine Chancen nachhaltiger ausbauen.

Gravatar: Stephan Achner

Die beiden letzten Sätze bringen es auf den Punkt: 1,4 Milliarden Menschen haben sich aufgemacht, ihren Lebensstandard zu erhöhen und werden sich nicht aufhalten lassen. China wird auch deshalb niemand aufhalten, weil Fleiß und Disziplin bei den Chinesen als Tugenden anerkannt und die Chinesen sehr stark familienorientiert sind. Diese Tugenden, die ja mittlerweile in Europa verpönt sind, und eine starke Familienbande, die wesentlich mehr ist als häusliche Romantik, gehören zum Fundament der gesamten Entwicklung in China hin zu einem Land, das künftig das gesamte Weltgeschehen politisch, wirtschaftlich und militärisch stark beeinflussen wird.

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