Joachim Gauck auf Staatsbesuch im Fernen Osten

Bundespräsident als Moralapostel in China

Gauck ist auf mehrtätigen Staatsbesuch im Reich der Mitte. Im Westen erwartet man von ihm, das Thema Menschenrechte anzusprechen. Doch das ist ein widersprüchliches Unterfangen.

Foto: Sven Teschke / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0 (Ausschnitt)
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Der deutsche Bundespräsident ist mit einer großen Delegation nach China gereist. Dort trifft er auf die führenden Köpfe der Staats- und Parteispitze. Wird Ex-Pfarrer Gauck in China den moralischen Zeigefinger erheben? Immerhin hatte Joachim Gauck schon dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping bei dessen Besuch in Berlin eine Predigt über Menschenrechte und Demokratie gehalten. Jinping hat distanziert lächelnd zugehört. Wie immer.

Gauck trifft diesmal auch Kirchenvertreter in China sowie regimekritische Künstler und Schriftsteller. Für Gauck, so hat es schon jetzt den Anschein, ist die Kritik an der chinesischen Politik geprägt von der persönlichen Auseinandersetzung mit dem Regime der ehemaligen DDR. Doch China ist nicht die DDR. Sie war es nie.

Was hat man nun von einem Bundespräsidenten in China zu erwarten, der im eigenen Lande sich despektierlich über einen Teil der eigenen Bevölkerung äußert und sich für eine wachsende militärische Verantwortung Deutschlands in der Welt ausspricht? Ist er der richtige Mann für mahnende Predigten in China?


Vom Pro und Contra der Regimekritik

Kritik an der chinesischen Politik ist ein zweischneidiges Schwert. Zum einen ist sie von der Warte unseres Wertekanons aus gesehen berechtigt und notwendig. Die Behandlung der politischen Gefangenen in chinesischen Gefängnissen, der Umgang mit Regierungskritikern, die Einschränkungen in der Kunst und Kultur, die Zensur der Medien, die Verdrängung der ethnischen Minderheiten in Tibet und Xingjiang, die Militarisierung von Eilanden im südchinesischen Meer – all das ist zurecht zu kritisieren. Und es sind tatsächlich auch die chinesischen Menschenrechtsvertreter gewesen, die Gauck zu mahnenden Worten aufgerufen hatten. Das ist die eine Schneide.

Die andere ist, dass wir keinerlei Recht haben, uns über China moralisch zu erheben. Man muss nicht einmal auf jene Schuldfragen zurückgreifen, die mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu tun haben. Es genügt bereits aufzuzeigen, dass die deutsche Regierung die US- und NATO-Politik zur Destabilisierung ganzer Erdregionen unterstützt hat, dass von US-Stützpunkten in Deutschland (Ramstein Air Base) US-Bomber und ferngesteuerte Drohnen aufsteigen, um tausende Kilometer entfernt Menschen zu töten, dass die Bundeswehr Werbung in Schulen macht, um das Militär in der Mitte der Gesellschaft wieder ankommen zu lassen und den Krieg wieder salonfähig zu machen, obwohl man sich nach dem Zweiten Weltkrieg davon distanzieren wollte. Man könnte daran erinnern, wie deutsche Konzerne im Gleichschritt mit US-Konzernen Teile der Welt militarisieren, wie deutsche Firmen dabei verdienen, dass Saudi-Arabien sich mit einer Grenze à la DDR umgibt, dass Panzer in den Nahen Osten exportiert werden, dass weggeschaut wird, wenn in den ölreichen Golfstaaten Oppositionelle enthauptet werden.

Es gibt so viele dunkle Flecken auf der weißen Weste der deutschen und westlichen Politik. Doch China hält sich mit Kritik zurück. Ist das Indifferenz? Oder Respekt vor der Andersartigkeit des Gegenübers? China hat ein ganz anderes Selbstverständnis als Deutschland. China sieht sich seit fünftausend Jahren als Reich der Mitte. Das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert wird als Zeitalter der Demütigungen empfunden. Die Europäer hatten Städte und Küstenabschnitte Chinas kolonisiert. Die Briten haben durch die Initiierung der Opiumkriege Millionen von Menschenleben auf dem Gewissen. Der Schaden, den Europa oder allgemein der Westen in den letzten 200 Jahren China zugefügt hat, ist ungemein größer als der Schaden, den China dem Westen zugefügt hat.

Wann sind die Chinesen in Europa einmarschiert? Wann in die USA? Haben die Chinesen die Europäer und Amerikaner mit Drogen überschwemmt (Opium)? Haben die Chinesen europäische Hafenstädte zu Kronkolonien erklärt (wie etwa Hongkong)? Deutschland war in China militärisch aktiv (Besetzung von Tsingtau / Qingdao, Teilnahme an der Niederschlagung des Boxeraufstandes). Die Europäer hatten in der Nähe von Peking den kaiserlichen Sommerpalast verwüstet. Die Chinesen hatten aber nicht die Schlösser von Versailles oder Sanssouci zerstört. Es waren immer die Europäer, die Kriegsschiffe nach China geschickt hatten, nie jedoch die Chinesen, die Kriegsschiffe nach Europa entsandt hatten. Was also sollen die Chinesen vom erhobenen Zeigefinger westlicher Politiker halten?


Realität: Politikschau für die Heimatmedien

Eigentlich wissen es alle Politiker. Jene in Europa wissen es und jene in den Vereinigten Staaten von Amerika auch: Wer nach China reist und dort eine Diskussion über die westlichen Vorstellungen von individuellen Menschenrechten anspricht, könnte genauso gut über den sprichwörtlichen Sack Reis reden, der dort ab und zu umfällt. Tatsache ist, dass solche Gespräche ergebnislos verlaufen. Für chinesische Politiker und Diplomaten sind solche Gespräche eine lästige Formalie, die sie aus Höflichkeit ertragen, weil sie wissen, dass es den Westlern ein Bedürfnis ist, darüber zu sprechen.

Tatsache ist jedoch, dass diese Gespräche wichtig für die westlichen Medien sind. Es sind Inszenierungen für das Heimatpublikum, für das Wahlvolk. Im europäischen und amerikanischen Fernsehen oder in den Zeitungen kommt es immer gut an, wenn westliche Politiker den Chinesen die Leviten lesen. In Peking ist das auch einfacher zu tun als in Riad.


Westlicher Individualismus versus fernöstliches Kollektivdenken

Die Volksrepublik China ist pro forma ein sozialistisches Land. Tatsächlich ist China zurzeit ein kapitalistisches Land mit einer sozialistischen Partei an der Spitze. Doch das heißt nicht, dass China die Ideen des großen Kollektivs aufgegeben hat. Die Tatsache, dass das Wohl des Kollektivs mehr zählt als die Freiheit des Individuums ist kein chinesisches oder sozialistisches Phänomen, sondern Teil der ostasiatischen Kultur insgesamt. Ob in Japan, Korea, China oder Singapur: Das Individuum definiert sich dort immer als Teil eines Größeren, sei es die Familie, die Firma, die Partei, das Dorf oder die Nation.

Gerade die Chinesen erproben eine neue Form der Synthese aus Kapitalismus und Sozialismus, indem sie die alten Werte des Konfuzius für sich neu entdeckt haben und damit verbinden. Zur Zeit der Kulturrevolution noch verdammt, erlebt der Konfuzianismus eine neue Renaissance. Man spricht vom modernen Neo-Konfuzianismus (nicht zu verwechseln mit dem Neo-Konfuzianismus der Tang-, Song- oder Ming-Dynastie). Im Grunde geht es um die Gestaltung einer harmonischen Gesellschaft. Diese Harmonie soll mit den Errungenschaften der industriellen und hochtechnologischen Welt verwoben werden.

Die neue ostasiatische Synthese, wie sie in Singapur aufs Effizienteste funktioniert und in China immer stärker propagiert wird, ist explizit ein Gegenmodell zur Ideologie der individuellen Freiheit, wie sie vom Westen hochgehalten wird. Angesichts dieser schon vom Grundsatz her völlig unterschiedlichen Ansätze, eine harmonische und gute Gesellschaft zu definieren, perlen westliche Kritiken ab wie Wasser auf einer Teflonpfanne. Die Idee der Menschenrechte ist völlig anders bewertet. Welches Recht, so fragt man sich dort, hat ein Individuum, sein eigenes Wohlbefinden über das der Gemeinschaft zu stellen?

Wer belehren will, muss zu lernen bereit sein

Die Chinesen fühlen sich ebenfalls moralisch überlegen. Sie zeigen dies aber nicht so deutlich. Sie lächeln und nicken. Dagegen zeigt die US-amerikanische und europäische Politik der ganzen Welt, wie sehr sie sich moralisch überlegen fühlt, indem sie global eingreift, interveniert, den Zeigefinger erhebt, Oppositionen unterstützt, NGOs global walten und schalten lässt, Berater entsendet und am Ende doch nur die Ressourcen der Anderen ausbeutet.

Völlig ungeachtet der Tatsache, dass wir Europäer viele berechtigte Gründe haben, die chinesische Politik zu kritisieren, wäre es vielleicht klüger, sich auch von den Asiaten belehren zu lassen – und zwar über all jene Dinge, die dort besser funktionieren als hier. Nur wer nicht aufhört zu lernen, kann auch ein guter Lehrmeister sein. Daran sollte man alle Politiker erinnern, die den moralisierenden und belehrenden Zeigefinger erheben.

( Schlagwort: GeoAußenPolitik )

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Karin Weber

Kann der Mann nicht gleich dort bleiben? Wer braucht den hier wirklich?

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