Ein Gastbeitrag von Meinrad Müller

Wir sind dort zu Hause, wo wir verstanden werden

Die Welt um uns ist rau und sie wird täglich rauer. Wir sind nicht mehr von Freunden „umzingelt“ wie im Deutschland, das wir kannten. Der potenzielle Feind im Innern wird zum Kristallisationspunkt einer potenziellen persönlichen Dolchstoßlegende.

Foto: sprüche.de / CC0
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Umso hungriger werden wir, um unseren eigenen kleinen Frieden zu sichern. Jeder von uns kennt Situationen des Nichtverstandes Werdens. Nichts schmerzt uns mehr als der Umstand, wenn der Angesprochene unsere wohl gewählten Worte nicht verstehen kann und noch kränkender, diese partout nicht verstehen will. Mit dem Auge einen Freund ausgemacht zu haben, dessen Gewand ihn irrtümlich den Denkenden zuordnet, der sich jedoch als Schaufensterpuppe offenbart, ist nur eine kurzzeitige Enttäuschung. Wir wenden uns um und anderen zu.

Mit einem Gläschen Champagner aus dem sächsischen Hochland, dort wo Rotkäppchen gelebt haben soll, stehen wir an runden Tischlein mit noch kleineren runden Häpplein. Wir lauschen den Ansprachen, die zu Ehren des Jubilars, teils witzig, teils nicht, zum Mikrofon gesagt werden. Noch ergab sich keine weitere Gelegenheit für ein Schmalgespräch (deutsch: Smalltalk). Hübsch gewandete Bedienungen liefern dezent Wasser, Orangensaft, Rotwein und später zu geistvollen Reden passend, noch Geistvolleres nach.

Plötzlich beginnt ein in einen Rauchrock (Smoking) gewandeter Tenor, der sich ebenfalls an einem Sektglas festhält, eine Arie zu singen. Der Festsaal verstummt, bald auch das Geschirrgeklapper. „Nessun dorma“, eine der berührendsten Arien Puccinis, schallt aus seiner Kehle. In deutscher Sprache klänge es befremdlich, denn die meist zitierte Übersetzung „Niemand soll heute Nacht schlafen“ benötigt bereits fünf statt zweier Worte. Und zu schlafen, das will ich jetzt auch nicht.

Eine Dame im dritten Frühling, wie man das Pensionsalter im Elsass höflich zu beschreiben pflegt, gerät, Ekstase wäre übertrieben, aber doch sichtlich in einen himmlischen Zustand. Dieser hält auch noch an, nachdem der Tenor sich zurückgezogen hatte. Sie blickt mit verträumten Augen an die Decke des mit Stuck verzierten Saales. Just der richtige Augenblick, oder doch lieber ein Minütchen später, um Sie anzusprechen?

Es entwickelt sich ein höchst nettes Gespräch über Gott und die Welt, die Musik, die Oper und über den leider schon abwesenden Giacomo Puccini. Verstanden zu werden und auch den anderen zu verstehen, ergibt sich nicht aus heiterem Himmel. Die Golddukaten, die vom Himmel fallen, wurden bereits in sämtlichen Märchen aufgebraucht. Das beglückende Gefühl, auf der gleichen Wellenlänge zu sein, überbrückt Alter, Geschlecht und Stand.

Es liegt an uns, nach diesen Perlen zu tauchen, selbst mit einem Rotkäppchen-Sektchen in der Hand.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Europa der V und V

Wunderschön. Danke.

Ich vermisse die Zeiten.. Irgendwie sind wir alle moderne Sklawen in der neuen "Coronawelt".
Es ist aber die menschliche Nähe die fehlt, Verständnis und Respekt.
Es fehlt Mut. Die Mut sich selbst treu zu bleiben.
Zeit (für mich persönlich) ein neues Job zu suchen....
Die Veränderung tut immer gut.
Schachspiel ist ein Beispiel.
Die Königin = meine Lieblingsfigur.

Gravatar: Achmed

Es braucht keine fünf Worte "Niemand soll heute Nacht schlafen", um die Worte "Nessun dorma" zu übersetzen.
Es reichen auch im Deutschen nur ZWEI Worte:
"Niemand schlafe!"

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