Ein Gastbeitrag von Meinrad Müller

"...was uns groß und wichtig erscheint, wird plötzlich nichtig und klein"

In Reinhard Meys Schlager "Über den Wolken", der 1974 unsere Seelen berührte, bleibt uns insbesondere obiger Refrain im Gedächtnis. Er erinnert uns daran, dass die Maßstäbe, mit welchen wir unser Glück bemessen, gelegentlich (oder ständig) aus den Fugen geraten. Das trifft speziell auf all jene zu, deren Lebensweg nur eine Richtung kannte: nach oben zu einem mehr an allem ausgenommen der Vernunft.

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Mit gänzlich anderen Erfahrungen wurde eine Generation vor uns „beglückt“. Unsere Väter, sofern sie 1920 geboren wurden, sind oder wären heute 92 Jahre alt. 1940 wurden sie vor die alternativlose (damals schon) Wahl gestellt, ins „Feld“ zu ziehen oder standrechtlich erschossen zu werden. Traumatisiert kehrten manche erst 1955, d. h. im Alter von 35 Jahren aus der Gefangenschaft zurück.

Geredet haben sie nicht viel, zu tief saß der Schrecken des Krieges in ihren Gliedern. Und eine medizinische Betreuung wegen „Posttraumatischer Belastungsstörungen“ war zu dieser Zeit noch unbekannt. Jetzt wurden die Ärmel hochgekrempelt und am Wirtschaftswunder mitgewirkt.

Die Kinder sollten es besser haben

Und so war es dann auch. Wir hatten gut zu essen, wurden anfangs in zurecht geschneiderte Hosen des Großvaters gesteckt. Mit der dringlichen Empfehlung, schön „brav“ zu sein, wurden wir zur Schule geschickt. Die Stabilität des dicken Hosenstoffs, das war ein nützlicher Nebeneffekt, dämpfte die Erziehungsmaßnahmen mit dem Rohrstock. Trotz alledem nahm unsere Karriere keinen Schaden. Und unsere eigenen Kinder sollten es dann noch besser haben. Deren Verwöhnung, die rückblickend verweichlichende, betrachteten wir als Liebesbeweis.

Und nun das: Seit Donnerstag, 24. Februar 2022, 82 Jahre nach 1940, sitzen wieder „dienstverpflichtete“ Jugendliche im Durchschnittsalter von 22 Jahren in den Panzern, dürfen nicht denken, sondern müssen lenkend Befehlen gehorchen. Und verbrennen lebendig in diesen Stahlkolossen, sofern eine Panzerfaust sie trifft.

„TikTok“ warnt vor Bildern aus Ukraine

Wer von uns Verwöhnten möchte jetzt seine warme Bude mit Internet, Kabelfernsehen und riesigen Flachbildschirmen mit der Realität tauschen? Die Internetplattform „TikTok“ zeigt Bilder in die Ukraine vorrückenden Panzern und „warnt“ per Einblendung die Zuschauer ungewollt in höchster Ironie: „Die Teilnahme an dieser Aktivität könnte dazu führen, dass du dich verletzt oder dass andere sich verletzen.“

Jetzt ist die Zeit angekommen, in der auf überdeutliche Weise, der Refrain: „Alles, was uns groß und wichtig erscheint, wird plötzlich nichtig und klein“ uns an unser eigenes Leben erinnert. Wir sind schlagartig von hoch über den Wolken auf den nüchternen Boden der Realität gefallen. Die Wichtigkeit des nächsten Urlaubs, des schöneren Autos und der neuesten Klamotten rücken in den Hintergrund.

Ein Glas Wodka

Auch Besuche in einem Berliner Feinkostgeschäft, just am Donnerstag, genau zum Zeitpunkt in dem Russland in der Ukraine einmarschierte, werden historisch gesehen, als geschmacklos bezeichnet werden. Wäre der Bundeskanzlerin a. D. nicht während des Einkaufs die Geldbörse gestohlen worden, wäre diese geschichtliche Parallelität wohl nie ans Tageslicht gerückt.

Vielleicht hilft ihr Wodka, um dennoch wieder über den Wolken zu schweben, zumal sich die Leitung zum Auslandsgeheimdienst anscheinend auch im Ruhestand befindet.

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Gravatar: Klaus Reichel

Kleine Korrektur: Wer 1920 geboren wurde, ist oder wäre heute 102 Jahre alt, nicht 92. Ich konnte erst kürzlich den 90. Geburtstag eines Nachbarn mitfeiern, der 1932 geboren wurde.

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