Die Katholische Kirche und die Macht des Staates

Was Kardinal Pells Verurteilung für die Zukunft bedeutet

Die Verurteilung von George Pell ist ein katastrophales Ereignis für die katholische Kirche – nicht nur in Australien, sondern weltweit. Sie läutet eine neue Ära der Beziehung von Staat und Kirche ein, in der der Staat die Oberhand gewinnt.

Foto: Kerry Myers [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons, Ausschnitt
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Von Massimo Faggioli

 

[Wir drucken die deutsche Übersetzung des englischen Originals mit freundlicher Genehmigung von ABS.net.au]

 

Nicht zum ersten Mal wurde ein Kardinal durch ein weltliches Gericht wegen sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen für schuldig befunden.

 

Der Schuldspruch gegen Kardinal George Pell vom 26. Februar 2019 bringt die katholische Kirche zum ersten Mal in ihrer jüngeren Geschichte in den Konflikt mit dem modernen Staat. Ein Kardinal – ein hochrangiges Mitglied der Kirche mit dem Recht für den Papst zu wählen – wurde wegen sexuellem Missbrauch an Minderjährigen durch ein weltliches Gericht schuldig befunden. Der Fall Pell ist nicht mit dem Fall Theodore McCarricks zu vergleichen, dessen Laisierung durch den Vatikan nur wenige Tage zuvor, am 16. Februar, bekannt gegeben wurde. McCarrick wurde im Juli 2018 durch Papst Franziskus aus dem Kardinalskollegium entlassen und durch ein kanonisches [kirchliches]Gerichtsverfahren von der Kongregation für die Glaubenslehre im Vatikan für schuldig befunden. Er musste sich nie einem weltlichen Gericht stellen.

 

Die Verurteilung Kardinal Pells ist ein verheerendes Ereignis für die katholische Kirche – nicht nur in Australien, sondern weltweit – und muss im Kontext verstanden werden.

 

Gegen Ende des Jahres 2017 ist die Kirche in eine neue Phase des Umgangs mit Konsequenzen des sexuellen Missbrauchs durch Kleriker eingetreten: für sie ist es ein annus horribilis, das einfach kein Ende nehmen will. Eingeleitet wurde diese neue Phase durch Enthüllungen von Fällen in verschiedenen Ländern. Bei diesen Enthüllungen scheinen die letzten drei Päpste persönliche Verantwortung zu tragen: Johannes Paul II. und Benedikt XVI. bezüglich McCarrick, und Franziskus bei den Fällen in Chile. Australien spielt dabei eine besonders wichtige Rolle in dieser neuen Phase, vor allem wegen des Abschlussberichts der dortigen „Royal Commission of Institutional Responses to child Sex Abuse“ vom Dezember 2017. Entscheidend war auch die Antwort der katholischen Kirche in Australien (von Bischöfen und Vertretern der Ordensgemeinschaften gleichermaßen) auf die Vorschläge der „Royal Commission“ im Dezember 2018.

 

Wenige Personen spielen in dieser Phase – in der besonders Australien im Mittelpunkt des Interesses steht – eine so prominente Rolle wie Kardinal Pell, der von Papst Franziskus persönlich dazu auserkoren wurde, das neue Vatikanische Wirtschaftssekretariat zu leiten und dem Franziskus den Papst Franziskus gebeten (und sogar gedrängt) hat im Juni 2017 nach Australien zurückzukehren, und sich vor einem weltlichen Gericht zu stellen. In der Erinnerung festgesetzt hatte sich auch der Fall des ehemaligen Erzbischofs von Adelaide, Philip Wilsons, der im Juli 2018 von einem weltlichen Gericht schuldiggesprochen, dann aber durch Berufung im Dezember 2018 wieder freigesprochen wurde. Papst Franziskus hatte Wilsons Rücktritt nach seinem Schuldspruch angenommen, nachdem der Australische Premierminister Malcolm Turnbull öffentlich Papst Franziskus aufgefordert hatte, Erzbischof Wilson „rauszuschmeißen“.

 

Die Fälle der beiden Erzbischöfe Wilson und Pell haben die Kirche in unbekanntes Terrain versetzt: Man wird Zeuge der Art und Weise, wie der sexuelle Missbrauch durch den Klerus die Beziehung von Kirche und Staat und die Gerechtigkeit zwischen Kirche und Staat neu definiert. Die Grundgedanken der Trennung und der juristisch eigenständigen Sphären von Kirche und Staat werden durch die sexuellen Missbrauchsfälle bis in die Grundfesten erschüttert. Um es einfach zu sagen: „Kirche und Staat“ bedeutet nicht mehr das, was es einmal war.

 

Kirche und Staat positionieren sich als Antwort auf die Krise vollkommen neu zueinander. Mit dem Pontifikat von Franziskus steht es außer Frage, dass die institutionalisierte katholische Kirche nicht mehr gegen weltliche Gerechtigkeit kämpft oder Kriminelle vor strafrechtlicher Verfolgung durch weltliche Autoritäten beschützt. Die Kirche heißt weltliche Gerechtigkeit sogar willkommen, weil sie weiß, dass ohne den Eingriff von öffentlichen Anklägern viele Fälle des sexuellen Missbrauchs nicht thematisiert, verfolgt und bestraft werden würden. Die katholische Kirche ist nun vollkommen in der Verteidigungshaltung – örtlich und global – in Australien und im Vatikan, im Gerichtssaal und in der öffentlichen Meinung. Die Verteidigungshaltung hat sie wegen ihrer Geschichte von unentschuldbaren Praktiken der Vertuschung der Täter, Schuldzuweisungen an Opfer, Diffamierung von Medieninvestigationen und dem Schutz von hohen Klerikern vor dem Gesetz eingenommen. Manchmal wurde als Lösung der betreffende Kleriker in den Vatikan versetzt, wie im Fall des Erzbischofs von Boston, Kardinal Bernard Law im Jahr 2004.

 

Hervorzuheben sei an dieser Stelle, dass die katholische Kirche sich nun strukturell – auch wenn nicht ausdrücklich – auf die Urteile von weltlichen Gerichten verlässt, wenn es um die Absetzung (und Beförderung) ihrer Kardinäle und Bischöfe geht. Aus diesem Grund wird jedes Gerede von „null Toleranz“ gegenüber Missbrauchstätern in der Kirche – in den kirchlichen Ministerien sowie bei den geweihten Mitgliedern des Klerus – bedeutungslos, weil es nicht mehr darum geht, wer feststellt, dass ein Mitglied der Kirche ein Missbrauchstäter ist. Die neue Wirklichkeit ist, dass der Kampf gegen sexuellen Missbrauch der Kirche nur so gut sein wird, wie der Rechtsstaat in dem Land oder Staat, in dem sie wirkt.

 

So bildet sich eine immens komplizierte Situation heran, da wir in einem „Zeitalter der Wut“ leben, indem offensichtlich der höchste Gerichtshof von der öffentlichen Meinung bestimmt wird, aber eine öffentliche Meinung, die nicht mehr nur exklusiv durch die Mainstream-Medien informiert wird. Der neue Gerichtshof der öffentlichen Meinung, in dem die institutionalisierte Kirche und die Mainstream-Medien immer mehr an Einfluss einbüßen, ist die sozialen Medien. Es ist ehrlich gesagt unmöglich, die derzeitige Welle der Missbrauchsskandale von Klerikern zu verstehen, ohne dabei den sozialen Medien eine adäquate Rolle beizumessen, vor allem wenn es um die Psychologie der kollektiven Resignation geht. In einem von sozialen Medien gesättigtem Zeitalter gilt das juristische dictum in dubio pro reo („im Zweifel für den Angeklagten“) nicht mehr, unabhängig davon, was das geschrieben Gesetz besagt – scheinbar vor allem, wenn es um einen Kleriker geht, dem sexueller Missbrauch vorgeworfen wurde.

 

Es ist des Weiteren unmöglich, die Bedeutung der katholischen Missbrauchskrise zu verstehen, ohne den größeren Horizont zu bedenken, vor dem sich die bilateralen Beziehungen von Kirche und Staat abspielen. Es gibt nämlich nur eine globalisierte Macht, dem der weltliche Nationalstaat den Krieg angesagt hat, und zwar die Katholische Kirche. Das Durchsetzungsvermögen der weltlichen Mächte gegen den katholischen Klerus – ein Durchsetzungsvermögen, das von den meisten Katholiken, frustriert von den Antworten ihrer Missbrauchsfälle ihrer Kirche, willkommen geheißen wird – könnte nationalen Politikern mit ihrem Interesse, politisch abwechende Stimmen in der Kirche zum Schweigen zu bringen, neuen Auftrieb geben. Besonders in Ländern, in denen die Rechtsstaatlichkeit und die Pressefreiheit schwächer sind, als in den historisch etablierten Demokratien, könnte dies zum Problem werden.

 

Es ist aber auch unmöglich die Bedeutung der kirchlichen Missbrauchsskandale zu verstehen, ohne anzuerkennen, dass es keine Trennung von Kirche und Staat geben kann, wenn ein weltliches Gericht einen hochrangigen Kleriker oder Kardinal vor Gericht zerren kann. Je höher der kirchliche Rang eines Angeklagten, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass andere Faktoren – Vorurteile der Presse, der Jury, der Richter, der Polizei und der Politiker – den Urteilsspruch und dessen öffentliches Wirken beeinflussen können. Diese Sachlage wird die katholische Kirche auf regionalem und globalem Niveau, in bisher noch nie gesehener Weise, aufreiben.

 

Kardinal Robert Bellarmin schrieb vor vier Jahrhunderten über den legitimen Einfluss der Kirche auf den Staat; er erläuterte die potestas indirecta in temporalibus („indirekte Gewalt über weltliche Affären“) der katholischen Kirche. Nun hat sich die Situation auf gewisse Weise ins Gegenteilige verkehrt: Der Staat besitzt eine neue Art der potestas indirecta in ecclesiasticis („indirekte Gewalt in kirchlichen Affären“). Dies könnte seismische Auswirkungen für die Zukunft der institutionalisierten Kirche und der nächsten Generation ihrer Führungskräfte sein. Man denke nur einmal an die Auswirkung des klerikalen Missbrauchs auf das nächste Konklave. Nicht mehr ist es eine Frage des ob, sondern des wie und des in welchem Ausmaß.

 

Massimo Faggioli ist Professor für Theologie und religiöse Studien an der Villanova University (USA) und Eingeladener Professort am BBI – dem australischen Institut der theologischen Bildung in Sydney. Er ist Autor von mehreren Büchern über aktuelle politische die Kirche betreffende Fragen.

 

 

(jb)

 

 

 

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