Anmerkungen zur Diskussion um Leitkultur

Vergebliche Dekonstruktionen

Ein Gastbeitrag von Dr. Martin Schönberg

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Ein Beispiel: Auf der online-Ausgabe der taz vom 31.08.2016 erteilt der Romancier und Weltensammler Ilija Trojanow einer Leitkultur eine klare Absage. Ziel sei lediglich „ein offener kultureller Gemeinschaftsraum, Orte der Begegnung, wo unterschiedliche Ideen, Meinungen und Lebensentwürfe sichtbar werden und ausprobiert werden können, miteinander konkurrieren, wo die Vielfalt der Vorstellungen jenseits der Konformität auflebt.“ – Was vordergründig so sympathisch bescheiden, so postkolonial zurückgenommen (wenn auch ein wenig steril) daher kommt, ist in Wahrheit unlogisch, naiv und gefährlich:

Trojanov errichtet einen Popanz, weil er einen solchen abschießen will: Um Leitkultur ad absurdum zu führen, betont er, wie weich und flüssig Kultur ist, und unterstellt der Gegenseite, sie projektiere einen festen und starren Rahmen. Das Argumentationsmuster ist mehr schlicht als recht: Einer durchaus flirrenden ontologischen Tatsache, nämlich Kultur, wird ein taktisch streng formuliertes Merkmal, nämlich durchgängige Konsistenz, abgesprochen, um sie damit an sich zu entsorgen. Weil Kultur kein Kohärenzversprechen halten kann, weil sie inkommensurabel ist, kann und darf sie als legitime Wirkmacht also gar nicht sein.

Doch Kultur, dieses schillernde Etwas, liegt in der Mitte: Sie ändert sich, mal deutlich, mal unmerklich, mal schnell, mal langsam. Aber natürlich hat sie, etwa was Werte und Normen anbelangt, eine Beharrungskraft.  Auch der im Grundsatz neophile Mensch muss ab und an generationenübergreifend nachahmen. Wie sonst sollte er handeln können? Wie sonst sollte er sich zu der für ihn existenziellen geistigen Leistung aufschwingen können, das Handeln der anderen korrekt abzuschätzen? Menschen brauchen Wiederholungen, die Sicherheit geben, Zuordnungen, die Komplexität reduzieren. Selbst die neuzeitliche Innovationsraserei, dieser beispiellose sich selbst verstärkenden Dynamismus gründet auf bestimmten, keineswegs beliebigen kulturellen Orientierungen.     

Kulturen fließen, fließen zusammen, heißt es. Ein schöner, aber auch ein schwieriger, ein entlarvender Gedanke: Er verweist doch darauf, dass es Kulturen durchaus gibt, da sie, bevor sie sich verflüssigen, bevor sie gar zusammenfließen können, jeweils in einem Zustand der Erkennbarkeit, der Abgegrenztheit und der relativen Stimmigkeit existieren müssen. Folglich handelt es sich, geht man von der Fließmetapher aus, bei „Kultur“ eben nicht um Phantasma oder Konstrukt etc., sondern sachlogisch um eine bei aller Weichheit und Unschärfe durchaus beschreibbare Realität.

Weiter suggeriert das Bild vom Fließen und Zusammenfließen Harmonie, gleitendes Ineinander, akustisch ein Glucksen, Plätschern, vielleicht Rauschen, Zischen und Aufschäumen. Man ergötzt sich daran, fast wie an einem erhabenen Naturschauspiel; was vorher getrennt war, wird eins, ununterscheidbar. Und wirklich: Kulturen bewegen sich, beeinflussen sich, oft ganz leicht, fast unmerklich, fließend. Doch manchmal sind sie da, behaupten sich, fordern mit Zähigkeit ihre Geltung ein, für ihre Regeln, ihre Sitten und Gebräuche, all ihre unsichtbaren Selbstverständlichkeiten. Schlimmer noch: Hie und da sind sie durchaus verschieden, gar gegensätzlich. Und endlich: Sie bekämpfen und unterdrücken einander. Das Grauen ist dann kein halluzinierter Diskurs mehr, sondern knallharte  Erfahrung von Menschen aus Fleisch und Blut. Altamerikanische Indianer, heidnische Prußen, orientalische Christen gestern und heute. Da sind Kulturen nicht zerflossen, nein, da wurden sie klein gemacht, abgezogen, ausgesogen, ausgerottet.  

Die Verabschiedung einer gewachsenen Leitkultur mit einer spezifischen Normativität verheißt Freiheit. Doch dahinter verbirgt sich der Naivschrecken einer entgrenzten Mixophilie, die selbstverständlich ihrerseits eine rücksichtslose, vom Demos in keiner Weise legitimierte, also letztlich totalitäre Normativität postuliert. Zum Beispiel beim  greisen Soziologen  Zygmunt Baumann. Im Spiegel-Interview (Ausgabe 36/2016)  attestiert er der gesellschaftlichen Stimmung hierzulande, kognitiv nicht ganz auf der Höhe der Zeit zu sein. Die Zeit sei geprägt durch eine kosmopolitische Situation, der sich niemand entziehen dürfe, weil ihr Kardinalsgeschehen, die Migration, als quasi naturhaftes Ereignis aufzufassen sei. Dass auf diese Art völlig kontigente Vorgänge bewusst dem gestaltenden Zugriff entzogen werden sollen, verdeutlicht ein Blick auf gänzlich anders konzipierte Politiken wie etwa die australische. Die wiederum fusst auf intersubjektiv nachvollziehbaren Erfahrungswerten und selbstverständlich formulierten und durchgesetzten nationalen Interessen.    

Die Forderung, man möge sich auf einen offenen Rahmen der Kreativität und Freiheit beschränken, ist auch historisch widersinnig: Die damit insinuierte Toleranz impliziert zwingend eine bestimmte Prägekultur, lebt von geschichtlichen Voraussetzungen, die sie selbst, wie wir gelernt haben, nicht garantieren kann. Der Hinweis ist banal, aber leider unumgänglich: Der offene Rahmen schwebt nicht, wie manche Träumer phantasieren, außerhalb von Raum und Zeit. Dass der historische Großort seiner Denkbarkeit und Entstehung, der Okzident, an sich vielfältig, diffus und ausgefranst ist, ändert nichts daran: Seine Vielfalt ist nämlich nicht beliebig und unbestimmt.

So bleibt das, was  Trojanow schreibt, woanders häufig unbegriffen, lächerlich, mitunter verachtenswert. Der Mangel an Kulturstolz bis hin zur ideologisch aufgepfropften Selbstverzwergung, Selbstentschärfung, die dem spätgeborenen Bildungs- und Schuldbürger als perverses Distinktionsmittel dient, erscheint außerhalb unseres Kulturkreises in höchstem Maße befremdlich. Die dieser Perspektive inhärente Hypermoral weckt mitunter höhnisch-imperialistische  Gegenenergien, die sich vollkommen nachvollziehbar auf ein sich fahrlässig vergrößerndes Machtvakuum richten. Keine Weltengegend kann lange ohne Leitkultur sein. Der Streit um den Sinn von Leitkultur verhüllt letztlich nur den Konflikt zwischen verschiedenen Kulturen. Und die sicher gut gemeinte Hoffnung, die immer weiter getriebene Selbstneutralisierung münde in immer mehr Freiheit, bereitet dialektisch das Gegenteil vor.     

Noch weiter zurück, noch grundsätzlicher: Aller Erfahrung nach haben die Menschen ein Bedürfnis nach Identität und Zugehörigkeit. Ein Tatbestand, über den man realpolitisch nicht einfach hinweggehen kann. Wer in mehreren Ländern lebt, einige Sprachen spricht, das Reisen zu einer Daseinsform eigener Art herausgebildet hat, sollte sich tunlichst hüten, von sich auf andere zu schließen. Man muss es auch den konstruktivistisch entrücktesten, sittlich verfeinertsten Soziolog_innen zumuten: Für eine irgendwie tribalistische Grundorientierung, sei diese auf den Clan, den Stamm oder, gesellschaftlich extrem aggregiert, fast abstrahiert auf die Nation bezogen, gibt es evolutionsbiologisch gute Gründe. Der Mensch hat nun mal als soziales Wesen in der Gruppe, in der Solidargemeinschaft überlebt. Konstitutiv hierfür ist die banale Unterscheidung von Innen und ein Außen, von Zugehörigkeit und Fremdheit.  

Wohlverstanden: Beabsichtigt ist nicht, diesen unschönen Sachverhalt in irgendeiner Form zu nobilitieren und die damit immer wieder einhergehenden Exzesse zu legitimieren.  Nein, es geht schlicht um die Anerkenntnis verlässlich vorhandener oder zumindest immer wiederkehrender Erscheinungen des Menschlichen. Denn nur dann kann man damit im Sinne einer realistischen und d.h. bescheidenen Humanität auf- und abgeklärt umgehen. Wem hier die Einsicht fehlt, dem sei die Lektüre von „Der Neue Mensch“ von Karl Otto Hondrich ans Herz gelegt. Der einst ausgerechnet in Frankfurt tätige Soziologe weist im Kapitel „Der weltbürgerliche Mensch – und seine Nationalität“ darauf hin, dass eine universalistische, niemanden ausschließende Kollektividentität menschheitsgeschichtlich äußerst jung und obendrein (wie heute übrigens) lokal beschränkt ist. Ihre 2.000 Jahre nehmen sich lächerlich aus „gegen eine seit zwei Millionen Jahren oder 60.000 Generationen eingespielte Art kollektiver Identitätsfindung, die auf die Präferenz der eigenen Gruppe und die Diskriminierung der anderen hinausläuft.“ Auch wenn diese Neigung in unseren Breiten durch den Prozess der Zivilisation erfreulich eingehegt ist, gebietet konservative Skepsis, ständig mit ihrer Reaktualisierung, ihrem jähen Wiederauflodern zu rechnen. 

Daraus folgt: Wer nicht will, dass Freiheit und Toleranz nur eine menschheitsgeschichtlich und lokal beschränkte (und damit irgendwie auch kuriose) Episode kennzeichnen, sollte sich folgende Fragen vorlegen: Wäre es nicht sinnvoll, mit Emphase und Ehrsinn die ererbten und längst fragwürdig gewordenen Überlieferungen immer wieder für die eigene Identität zu erschließen? Wäre es nicht ratsam, auf dieser Basis mit Offenheit, aber auch Behutsamkeit auf Neues und Fremdes zuzugehen? Denn dann könnte man bewusste und begründbare Wahlentscheidungen treffen, die Akzeptanz, aber auch die Möglichkeit von selbstbewusster Abgrenzung mit einschließen. 

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Werner N.

Die Einlassungen von Ilija Trojanow zur Leitkultur sind in mehrfacher Weise fragwürdig. Tatsächlich betet er den Schwachsinn unseres Intellektuellen–Establishments nach, das meint, Leitkulturen seien Ideologien und beide von Übel. Merkwürdigerweise haben aber Ideologie, Werte und Postulate der `Aufklärung` einen solch hohen Stellenwert im Westen, dass man meint, sie aller Welt mit Gewalt überstülpen zu müssen. Trojanow`s Metapher eines friedlichen „Zusammenfließens“ von Kulturen mittels „Multikulti“ zu einer unterschiedslosen Einheitssoße wird eine Utopie bleiben. Sozialismus und Demokratie flossen in 150 Jahren nicht zusammen und der Klassenkampf zwischen Links und Rechts ist ausgeprägter denn je. Samuel Huntington nannte es richtiger einen „clash of cultures“ / 1993), d.h. einen „Zusammenprall“ oder „Bruchkonflikt“. Eine globale Einheitsideologie und -kultur mit universellen Werten oder uniformer Lebensweise lehnte er ab.

Konkrete Fragen bleiben offen: Soll der Osten zu den Ideen der `Aufklärung` und des Christentums bekehrt oder der Islam mit dem Christentum vermengt werden, vielleicht mit nur ein bisschen Scharia und Dschihad? Das „Auslaufmodell“ der „selbstzerstörerischen Aufklärung“ (M. Horkheimer / Th.-W. Adorno / P. Sloterdijk) könnte man dem Osten überlassen, vielleicht humaner Weise mit Erwähnen der problematischen Prämissen, die 1989 ganze Nationen und derzeit die EU samt Euro penibel in den Orkus beförder(te)n. Der brauchbare Rest könnte hier wie dort durchaus hilfreich sein. Offen bleibt auch immer, wer über dieses Einheitsgebilde der NWO dann herrscht. Bei der Religion hofft insgeheim wohl der Vatikan darauf und in der Politik die UNO oder „die einzige Weltmacht“ (Brzezinski).

Andererseits wird eine künftige westliche Kultur und Zivilisation aus einer Synthese östlicher und westlicher Denkweisen bestehen, jedoch sind Islam und Islamismus am wenigsten dafür geeignet. Eher geht es in die Richtung, wie sie der Physiker Fritjof Capra um 1980 forderte: ..„Ein TAO der Physik“, ..“neue Bausteine für das Weltbild von morgen“..

Es wurde richtig darauf hingewiesen, dass Zivilisationen und Kulturen auf spezifischen, temporären Raum- und Zeitvorstellungen beruhen. Die eindimensionalen der `Aufklärung` jedenfalls sind für den Westen nicht mehr zeitgemäß. Sie erzeugten in der `Moderne` Öde, Zynismus und Katastrophen. Lyotard rechnete die `Aufklärung` zu den „Meta–Erzählungen“, denen man in einer `Postmoderne` keinen Glauben mehr schenkt. Der Westen wird sich neue (holistische) Perspektiven für Raum und Zeit erarbeiten müssen. Der „eindimensionale Mensch“ (H. Marcuse) ist dazu nicht in der Lage. Wenige Philosophen und Künstler stehen damit erst am Anfang. Es benötigt noch ein halbes Jahrhundert oder mehr und einige Bankrotte als Fakten für den „empirischen Verstand".

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