Die Ukraine ist »geopolitischer Dreh- und Angelpunkt«

»The Great Game«: Eurasien im Sog der Geostrategie

2014 veröffentliche das Institut für Strategische Studien Berlin (ISSB) auf der Freien Welt einen Artikel zu den geostrategischen Hintergründen der Ukraine-Krise. Aus aktuellem Anlass erscheint der Beitrag hier noch einmal.

Foto: wikimedia/Munich Security Conference/CC BY 3.0
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2014 (!) veröffentliche das Institut für Strategische Studien Berlin (ISSB) auf der Freien Welt einen Artikel zu den geostrategischen Hintergründen der Ukraine-Krise. Aus aktuellem Anlass erscheint der Beitrag hier noch einmal.

Die USA wollen Einflusszonen beiderseits der großen Ozeane. Russland (und China) streben eine eurasische Vernetzung an. Diese Konzepte schließen sich gegenseitig aus. Die Geographie zwingt sie zur strategischen Gegnerschaft.

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»In der Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.«

Dieser Ausspruch stammt von Egon Bahr. Anlass war ein Gespräch mit einer Gruppe von Schülern. Egon Bahr, der Wegbereiter der deutschen Ostpolitik unter Willy Brandt, verweist mit dieser Aussage auf die Realpolitik, der sich jeder Politiker und Diplomat stellen muss.

Politiker, Staatsmänner und Diplomaten sind von Beratern umgeben. Zu diesen Beratern gehören neben den Wirtschaftsexperten auch Politikwissenschaftler, Historiker und Geostrategen. Berühmte Beispiele sind Henry Kissinger und Zbigniew Brzezinski. Kissinger war Berater der US-Präsidenten John F. Kennedy, Lyndon B. Johnson und Richard Nixon. Brzezinski war Berater von Lyndon B. Johnson, Jimmy Carter und ist heute enger Vertrauter von Barack Obama.

Manchmal werden solche Berater selbst Politiker. So wurde Kissinger US-Außenminister unter Nixon und Gerald Ford. Auf jeden Fall ist ihre Bedeutung als graue Eminenzen in den politischen Zentren der Macht nicht zu unterschätzen. Sie haben großen Einfluss auf die Gestaltung der geostrategischen Entwürfe einer Nation.

»Von Lissabon bis Wladiwostok«

Nicht nur im Weißen Haus, auch im Kreml sind die geostrategischen Entwürfe von Brzezinski bekannt. In seinem 1997 erschienen Buch »The Grand Chessboard« (deutsche Ausgabe: »Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft«, Fischer: Frankfurt a. M. 1999) lässt er sich über die Bedeutung von Eurasien aus. Es sei im Interesse der USA, so Brzezinski, keinen eurasischen Herausforderer aufkommen zu lassen.

Die Seemacht USA könnte in eine geostrategische Abseitsposition geraten und an Einfluss verlieren, wenn auf dem eurasischen Kontinent eine Hegemonialmacht entstünde. In Eurasien leben fast 5 Milliarden Menschen, mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung. Außerdem befindet sich dort der Großteil der natürlichen Ressourcen. Ein eurasisches Bündnis von Lissabon bis Wladiwostok und Schanghai würde demnach das Ende der USA als Weltmacht bedeuten.

Diese Thesen dienen der Konterrhetorik von Wladimir Putin als Steilvorlage, wenn er die USA mit einer ebensolchen Idee der eurasischen Wirtschaftsunion von Lissabon bis Wladiwostok provoziert und vom kontinentalen Binnenhandel spricht. Gerade der Waren- und Rohstoffhandel zwischen Europa, Russland und Ostasien – zudem in Euro, Yuan und Rubel und nicht in Petrodollars durchgeführt – würde die Position Amerikas schwächen.

Eine Möglichkeit dies zu verhindern, ist die ehemaligen Sowjetrepubliken an den Westen zu binden. Wenn die Ukraine sich der EU und NATO anschließt, wird Russland isoliert und auf den Status einer östlichen Regionalmacht beschränkt.

Nach Brzezinski ist die Ukraine diesbezüglich ein »geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.«

Strategien der Thalassokratie

Brzezinskis Thesen waren weder neu noch aus der Luft gegriffen. Sie stehen in der langen Tradition der strategischen Konzepte einer »Thalassokratie«. Dies ist der altgriechische Begriff für »Seemacht«. Althistoriker kennen eine Menge Beispiele solcher Thalassokratien. Phönizien, Athen und Karthago waren See- und Handelsmächte. Ihre Stärke war ihre Kriegs- und Handelsflotte. Und sie hatten im ganzen Mittelmeer Kolonien und Handelsstützpunkte.

Pikant war das Zusammentreffen dieser Seemächte mit den Landmächten. Klassiker solcher Auseinandersetzungen waren Griechenland gegen Persien, Athen gegen Sparta, Karthago gegen Rom.

Im Mittelalter waren Genua, Venedig und die Hanse typische Beispiele für Thalassokratien, in der Neuzeit vor allem Spanien, Portugal, die Niederlande, Großbritannien und schließlich die USA. Typische Beispiele für kontinentale Landmächte sind dagegen Russland und China. Damit sind wir beim Kern der ganzen Problematik angelangt.

Großbritanniens Strategie der »Balance of Power«

Im 18. Jahrhundert wurde Großbritannien führende Seemacht. Zu jener Zeit erprobten die Briten erfolgreich die Doktrin der »Balance of Power«. Damit war die Politik des internationalen Kräfteausgleichs gemeint. Um in Europa keinen gleichrangigen Gegner aufkommen zu lassen, stellte sich Großbritannien bei jedem Konflikt auf die unterlegene Seite.

Diese Politik bewährte sich beim Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714) ebenso wie beim Siebenjährigen Krieg (1756-1763). Beim letztgenannten Beispiel schlug sich Großbritannien auf die Seite Preußens, das zunächst einen scheinbar ausweglosen Kampf gegen Russland, Österreich und Frankreich führte. Belohnt wurde England mit Kolonialgewinn in Nordamerika und einer Schwächung Frankreichs.

Britanniens erster Schock: Napoleons Kontinentalsperre

Nach der französischen Revolution und mit der Machtergreifung Napoleon Bonapartes geriet Großbritannien als See- und Handelsmacht in Gefahr. Denn Großbritanniens Stärke ruhte auf einem klaren Wirtschaftsprinzip: Einfuhr von Rohstoffen aus den Kolonien, Ausfuhr von Fertigprodukten nach Europa.

Weil sich Großbritannien dem französischen Hegemoniestreben militärisch entgegenstellte, konterte Napoleon Bonaparte mit einer Kontinentalsperre. Um den britischen Handel mit Kontinentaleuropa zu schwächen, wurde ein komplettes Handelsembargo gegen England verhängt. Da Napoleon bereits große Teile Europas von Spanien bis Polen kontrollierte, konnte dieses Handelsembargo tatsächlich Wirkung entfalten.

Britische Lehre aus Napoleons Kontinentalsperre: Niemals wieder eine kontinentale Hegemonialmacht zulassen

Die Erfahrungen mit Napoleons Kontinentalsperre haben die britische Ansicht bestärkt, die Politik der »Balance of Power« fortzuführen. In Europa durfte unter keinen Umständen eine kontinentale Hegemonialmacht entstehen. Dies bekam Russland im Krimkrieg (1853-1856) zu spüren, Deutschland während des Krieges gegen Frankreich (1870/71) und in den beiden Weltkriegen.

Halford Mackinder und die These der eurasischen Bedrohung

Was Europa für das britische Mutterland, war Eurasien für das Britische Weltreich. Der englische Geograph und Geostratege Halford Mackinder verwies in seiner 1904 erschienenen Abhandlung »The Geographical Pivot of History« auf die angebliche Gefahr, dass die Entstehung einer großflächigen eurasischen Macht Großbritannien isolieren könnte. Ein wirtschaftliches Zusammenwachsen Eurasiens auf dem Landwege würde die britische Rolle als Seehandelsmacht marginalisieren und das Empire gefährden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Führung der angelsächsischen Welt den Vereinigten Staaten von Amerika anheim gefallen. Während der Frühphase des Kalten Krieges, als sich die Sowjetunion und die Volksrepublik China noch als Verbündete betrachteten, war der transatlantischen See-Allianz NATO ein eurasisches Bündnis als Gegner entstanden. Abgesehen von der unterschiedlichen Ideologie, war dies auch ein klassischer Gegensatz von Thalassokratie und kontinentaler Landmacht.

George Orwells berühmter Roman »1984« stammt aus dieser Frühphase des Kalten Krieges. In seiner düsteren Utopie stehen sich die Weltmächte Ozeanien und Eurasien feindlich gegenüber. Ozeanien, das war für Orwell Großbritannien und Amerika. Eurasien stand für Kontinentaleuropa und Russland.

Alter Wein in neuen Schläuchen: Die Seemacht USA fürchtet ein Zusammenwachsen Eurasiens

Die USA sehen sich lieber im Zentrum des Weltgeschehens als an dessen Peripherie. Doch um als weltgrößte See- und Handelsmacht im Zentrum zu stehen, müssen beiderseits der Ozeane die Einflusssphären gesichert werden. Auf transatlantischer Ebene streben die USA eine Ausweitung der NATO an. Auf transpazifischer Ebene stehen die Bündnisse mit Japan, Südkorea, Taiwan, Indonesien, den Philippinen, Australien und Neuseeland. Wirtschaftlich wird Europa durch transatlantische Freihandelsabkommen wie TTIP an Amerika gebunden. Das transpazifische Pendant ist das TPP (»Trans-Pacific Partnership«).

Auch Eurasien wächst zusammen. 2002 wurde die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) gegründet. Neben China und Russland sind ihr die zentralasiatischen Länder Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan und Usbekistan beigetreten. Zahlreiche andere asiatische Länder, wie Indien oder der Iran, haben ebenfalls Interesse angemeldet. Außerdem liegen drei der fünf BRICS-Staaten in Eurasien: China, Indien und Russland.

Der Westen antwortet mit dem alten Konzept der Eindämmungspolitik (»Containment Policy«). Russland wird isoliert. Die Ukraine ist hierbei die Sollbruchstelle, um einen Keil zwischen Europa und Russland zu treiben.

Da die Türkei, die den Bosporus kontrolliert, NATO-Mitglied ist, und fast alle Ostseeanrainerstaaten ebenso NATO-Mitglieder sind, Schweden und Finnland dies zumindest anstreben, könnte Russland im Westen vom Zugang zum offenen Meer abgeschnitten werden.

Welche Auswirkungen hat der Gegensatz auf Deutschland und Europa?

Wird die neue Weltordnung unipolar bleiben, mit der globalen See- und Handelsmacht USA als Zentrum? Oder wird es zu einer neuen bipolaren Weltordnung kommen, bei der ein eurasisches Bündnis und Landhandelnetz dem transozeanischen System gegenübersteht?

Der Wunsch vieler Europäer nach beiderseitigem Interessensausgleich steht den realen politischen Entwicklungen gegenüber. Einerseits ruft die Wirtschaft nach Kooperation mit Russland. Andererseits gibt es eine offensichtlich größere Kraft, die Europa fest an die westliche NATO-Thalassokratie bindet und von Russland loslöst.

Dieser Artikel wurde 2014 zuerst auf der Freien Welt publiziert

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Ekkehardt Fritz Beyer

… „Der Westen antwortet mit dem alten Konzept der Eindämmungspolitik (»Containment Policy«). Russland wird isoliert. Die Ukraine ist hierbei die Sollbruchstelle, um einen Keil zwischen Europa und Russland zu treiben.“ …

Wobei sich längst selbst für ´mich` offensichtlich bestätigt, dass dies auch wegen unbeschreiblichen Arroganz des Westens nach wie vor zum Scheitern verurteilt ist!!!
https://www.ossietzky.net/artikel/zum-scheitern-verurteilt/

Gravatar: Manfred Teuber

The Great Game«: Eurasien im Sog der Geostrategie
müsste heute eigentlich heissen:
The Great Reset: Weltbevölkerungsreduzierungg durch Politiker aller Weltstaaten.
Es geht nicht mehr um Macht, es geht um Weltressourcen wie Öl, Gas Wasser, Metalle etc. Ein Atomkrieg ist nicht gewinnbar, allenfalls einigen sich Staaten welche/s Länder/Land inkl. Bewohner sie über die Klinge springen lassen.
Wer glaubt, dass jeder Chinese und jeder Inder in Zukunft ein Benzinauto besitzen kann, glaubt sicher auch an den Weihnachtsmann. Und wer an den Weihnachtsmann glaubt denkt sicher auch, dass die Erde eine unentliche Quelle an Ressourcen hat - träumt weiter.
Nun ja, es ist sehr schwierig zu erkennen, dass Putin und Biden Kaspertheater spielen - wer glaubt den so etwas?

Gravatar: Mino Cair

Henry Kissinger war Schüler von Leo Strauss (faschistoider Zyniker); Klaus Schwab ist Schüler von Henry Kissinger und Egon Bahr (Zitat oben) hat nur teilweise recht, denn es geht mittlerweile auch nicht mehr um Staaten, sondern um die Interessen supranationaler Konzerne und die einer globalen Finanz-Mafia.
Leo Strauss ist hierzulande fast unbekannt, besaß aber in den USA ungeheuren politischen Einfluß:
https://www.voltairenet.org/article217977.html

Gravatar: Alfredo Schilling

Wir erleben derzeit ganz klar einen Show-Down.
Die Russen kämpfen um eine Stärkung ihrer Position, die USA versuchen dies zu verhindern, ja die Russen soweit in die Knie zu bringen, daß US Kapital Zugriff auf die Rohstoffe Russlands bekommt.
Die Ukrainer leiden, wobei dies von den ukrainischen Oligarchen und dem rechtsnationalen Asow-Block billigend in Kauf genommen wird. Sie setzen auf Sieg mit den USA und versprechen sich hohe Gewinne davon.

Gravatar: Hajo

Da fragt man sich doch, wieso diese Typen jemals über den Atlantik ausgewandert sind, die Ureinwohner ausgeplündert haben und ihr Land zum eigenen erklärt haben, was die Russen heute auch machen aber aus verständlichen Gründen dazu stehen.

Deren Begierden hinsichtlich des alten Heimatkontinentes kann man irgendwo verstehen, denn mischen sie hier nicht ständig kräftig mit, geraten sie in Vergessenheit und deswegen wurden ja auch die deutschen Medien dazu verpflichtet, nach dem 2. Weltkrieg stets über die USA und ihre Vorzüge zu berichten, was sie bis heute in treuer Ergebenheit ja fast täglich machen, als ob die zu uns gehören, obwohl sie fern der Heimat sind.

Wer in den sechziger Jahren die Zustände in den Großstädten, aber auch speziell im Süden des Landes selbst gesehen hat, der bekam einen Kulturschock, wenn es um das Zusammenleben zwischen Schwarz und Weiß ging und der sogenannte Fortschritt wurde hauptsächlich mit ihren Kriegsbeteiligungen finanziert und zu Lasten der Schwarzen, die heute zu Recht aufbegehren, wenn man das Elend damals gesehen hat, was einen niemals mehr los läßt, weil durch und durch inhuman und das von einer sogenannten Kulturnation, die Kommerz mit Haltung verwechselten und nur das Glück hatten, daß auch noch ein paar Geistesgrößen mit eingewandert sind aus Europa, denn sonst wäre aus ihnen nicht sonderlich viel geworden.

Heute stehen sie doch kurz vor der Verarmung und dann hilft man sich doch gerne über alte Gedanken der Eroberung um die Kassen in jeglicher Hinsicht zu füllen und hinzu kommt noch die uralte Angst der Angloamerikaner, die Verbindung Deutschland-Rußland, wo die alten Erzfeinde dann zu einer mächtigen Allianz verschmelzen würden, was man mit allen Mitteln schon seit über 100 Jahren verhindern will und sie gegenseitig aufgehetzt hat oder Teile vereinnahmt hat um sie in Schach zu halten.

Da sie sich auf einer Insellage befinden haben sie die letzten hundert Jahre nichts zu befürchten gehabt, umso mehr haben sie aber im Gegenzug ihren Expansionsgelüsten freien Lauf gelassen und das findet derzeit in der Ukraine sein Ende und einen Schritt zuviel und sie sind mausetot, denn mit atomaren Gefechtsköpfen der Gegenseite sollte man nicht spielen, sondern sich gesittet benehmen, bevor es zu spät ist und sie in die Hölle eingehen, was die Iraner ja schon immer gesagt haben, daß es Teufel seien.

Nun zündeln sie wieder an allen Ecken der Welt im guten Glauben sie könnten sich dabei aus der eigenen Notlage heraus bereichern, was allerdings gründlich schief gehen kann, denn nicht jeder ist bereit das Opferlamm zu spielen und das merken sie spätestens wenn die eigene Hütte brennt und das Imperium dann sein Ende findet.

Im übrigen haben ja die Chinesen für sich auch schon den Anspruch angemeldet, daß durch ihre Zuwanderung nicht nur den Weißen ein Teil des Landes zusteht, sondern auch der gelben Rasse und vielleicht kommt noch die KPC auf die Idee, ihren Verwandten zu ihren angestammten Rechten in den USA zu verhelfen und das könnte dann exemplarisch werden oder als Grund herhalten um dort militärisch tätig zu werden, natürlich mit der gleichen Begründung der Freiheit und mal sehen, was sie dann machen, das wäre noch ein besonderer Präzedenzfall um diese Nation damit noch zu überraschen.

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