Gastbeitrag von Robert Royal

Der Papst, die Gewalt und der gerechte Krieg

»Rücksichtslosigkeit als Reaktion auf ungerechte Aggression kann selbst ein Weg sein, auf dem sich das Böse weiter ausbreitet. Die Welt ist immer reich an Übeln aller Art. Diejenigen, die das Böse in der aktuellen Aggression gegen die Ukraine eindämmen wollen, müssen die Wahrheiten, die sie besitzen, mit größter Sorgfalt einsetzen.«

Bild: Screenshot YouTube
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[Dieser Gastbeitrag wurde ursprünglich auf The Catholic Thing veröffentlicht. Wir bringen den Text mit freundlicher Genehmigung in eigener Übersetzung.]

Als Russland in die Ukraine einmarschierte, zitierte Papst Franziskus am nächsten Tag in einem Tweet seine Enzyklika Fratelli Tutti aus dem Jahr 2020: »Jeder Krieg macht unsere Welt schlimmer als sie vorher war. Krieg ist ein Versagen der Politik und der Menschlichkeit, eine beschämende Kapitulation, eine vernichtende Niederlage vor den Mächten des Bösen.« Dieses Papsttum ist nicht sehr vorsichtig in seinen öffentlichen Äußerungen, aber man kann das Gefühl teilen und gleichzeitig sehen, dass diese Formulierung sowohl richtig als auch falsch ist. Ja, jeder Krieg ist in gewissem Sinne ein Misserfolg. Aber nein, nicht jeder Griff zu den Waffen führt zu einer Verschlechterung der Lage in der Welt. Wäre dies der Fall, müsste die Kirche absoluten Pazifismus predigen, was sie nicht tut und nie getan hat.

Der Papst will den Konflikt in der Ukraine ganz allgemein als »Krieg« verurteilen, ohne Russland als Aggressor zu benennen. In dieser Hinsicht könnte Franziskus seinem Amt als Pontifex, dem Brückenbauer, treuer sein. Anstatt sich wie ein politischer Akteur zu verhalten, bleibt er offen für einen Dialog zwischen den beiden Seiten - auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass dieser zustande kommt oder einen großen Unterschied ausmacht.

Trotzdem möchte man, dass er einfach die offensichtliche Wahrheit sagt. Nicht der »Krieg« an sich ist das Böse. Es ist Putin.

Franziskus kam gestern in seiner Angelus-Ansprache der Wahrheit etwas näher und widersprach stillschweigend der russischen Propaganda: »Es handelt sich nicht nur um eine militärische Operation [Putins Lüge - RR], sondern um einen Krieg. . .« Franziskus wollte eindeutig ungerechte Angriffskriege ablehnen und rief dazu auf, die Feindseligkeiten einzustellen, der Zivilbevölkerung die Flucht zu ermöglichen, usw. Mit der Ankündigung, dass er über zwei Kardinäle humanitäre Hilfe in die Ukraine schickt, verband er sogar eine herzliche Bitte: »Die Anwesenheit der beiden Kardinäle dort ist die Anwesenheit nicht nur des Papstes, sondern aller Christen, die näher kommen wollen und sagen: ‚Krieg ist Wahnsinn! Hört auf, bitte! Seht euch diese Grausamkeit an!‘«

All das ist hilfreich, aber jede Entscheidung, zu den Waffen zu greifen, wie es die Ukrainer jetzt tun müssen, ist immer eine Entscheidung darüber, wie viel Gutes und Böses - und welcher Art - folgen kann. Es ist schmerzhaft, über solche Dinge nachdenken zu müssen, und es ist besser, im Voraus darauf hinzuarbeiten, dass solche Entscheidungen gar nicht erst getroffen werden müssen. Aber wir müssen darüber nachdenken, wenn wir nicht entweder in blinde Gewalt oder unmoralische Passivität verfallen wollen. Welches noch größere Übel würde zum Beispiel folgen, wenn die Ukraine und der Rest der Welt den russischen Expansionismus nicht stoppen würden?

Franziskus sendete nach seinem ersten Tweet weitere Tweets, in denen er die »teuflische Sinnlosigkeit der Gewalt« anprangerte und bekräftigte, dass »Gott mit den Friedensstiftern ist, nicht mit denen, die Gewalt anwenden.« Das ist völlig richtig, soweit es geht. Aber es geht nicht so weit, wie es nötig wäre, um die Situation in der Ukraine zu verstehen.

»Gewalt« ist eine Verletzung – der Menschenwürde und der guten sozialen Ordnung. Aber Gewalt ist nicht dasselbe wie »Gewal. Gewalt ist immer falsch. Gerechte Gewaltanwendung – durch die Polizei, die Armee, sogar durch einfache Menschen –, die bedeutet, Unschuldige physisch vor Schaden zu bewahren, ist nicht falsch, sie kann sogar zutiefst und heldenhaft richtig sein.

Die Ukrainer haben diese Wahrheit durch ihre Tapferkeit und ihr Verhalten unter Beweis gestellt. Und sie wissen in ihrem Herzen, ihrem Verstand und ihren Knochen, dass ein Verteidigungskrieg keine »Gewalt« ist.

Die Kirche war die wichtigste Lehrerin der Theorie des gerechten Krieges im Westen. Und dies ist eine der einfachsten Unterscheidungen zwischen gerechten und ungerechten Kriegen. Papst Benedikt ist weit davon entfernt, Gewalt und Zwang in einen Topf zu werfen, und vertritt die klassische christliche Position: »Sich selbst und andere zu verteidigen ist eine Pflicht«. Im Katechismus heißt es: »Die rechtmäßige Verteidigung kann nicht nur ein Recht, sondern eine schwere Pflicht für jemanden sein, der für das Leben eines anderen verantwortlich ist. Die Wahrung des Gemeinwohls erfordert es, den ungerechten Angreifer daran zu hindern, Schaden anzurichten. Zu diesem Zweck haben die Inhaber legitimer Autorität das Recht, Angreifer, die sich gegen die ihnen anvertraute zivile Gemeinschaft richten, mit Waffengewalt abzuwehren.«

Selbst säkulare Progressive, die sich normalerweise am lautesten gegen alle Kriege aussprechen, haben das Konzept »R2P« entwickelt – »die Verantwortung zu schützen«.

Wenn die Kirche also all dies verwirrt, indem sie suggeriert, dass Krieg als solcher unmoralische »Gewalt« ist - dass Christsein im Grunde genommen bedeutet, Pazifist zu sein -, dann stiftet sie eher Verwirrung als Erleuchtung. Noch einmal: Sie mögen die Empörung über Tod und Zerstörung spüren, aber Sie müssen sich dennoch über die ganze Wahrheit im Klaren sein.

Atomwaffen und sogar immens zerstörerische konventionelle Waffen wie Thermobomben (die in die Ukraine verlegt wurden) haben die moralischen Berechnungen etwas erschwert. Aber Pazifismus reicht heute nicht mehr aus, um die menschlichen Übel einzudämmen. Winston Churchill, ein umsichtiger Führer mit großer politischer Erfahrung, bemerkte in seiner allerletzten Rede vor dem Unterhaus, dass die Atomwaffen zu einer »erhabenen Ironie« geführt hätten: Die Welt habe »ein Stadium in dieser Geschichte erreicht, in dem Sicherheit das starke Kind des Terrors und Überleben der Zwillingsbruder der Vernichtung sein wird.« Abschreckung sei zu einem der notwendigen Instrumente des Friedens geworden.

Einige wenige westliche Stimmen - aber nicht so wenige, dass sie vernachlässigbar wären - haben argumentiert, dass wir und die Ukrainer nicht unschuldig daran sind, die Russen zu provozieren. Dass wir unsere Bedrohung ihrer Sicherheit sowohl in Bezug auf die Waffen als auch auf unsere kulturelle Dekadenz erkennen müssen. Das ist natürlich erwähnenswert, hat aber für den aktuellen Konflikt keine wirkliche Bedeutung.

Unschuldige durch den gerechten Einsatz von Gewalt zu schützen, bedeutet nicht, dass sie oder wir moralisch perfekt sein müssen, oder sogar ohne ein gewisses Maß an Schuld an der Situation. Wäre dies der Maßstab für menschliches Handeln, könnten wir überhaupt nicht moralisch handeln, egal in welchem Kontext, denn - wie die Lehre von der Erbsünde besagt - ist niemand von uns völlig unschuldig.

Im aktuellen Konflikt in der Ukraine ist die grundlegende moralische Frage klar (was bei bewaffneten Konflikten nicht immer der Fall ist). Russland ist in ein Land eingedrungen, von dem keine unmittelbare Gefahr ausging. In der Theorie des gerechten Krieges bedeutet dies, dass die Invasion die grundlegenden Kriterien des »gerechten Grundes« und des »letzten Mittels« nicht erfüllt. (Für Aquin zu solchen Fragen, klicken Sie hier.) Was Russlands Verhalten im Krieg angeht, so sehen wir dank allgegenwärtiger Mobiltelefone und sozialer Medien - selbst im Nebel des Krieges - Angriffe auf Zivilisten, Streubomben und den gefährlichen Angriff auf die Atomanlage in Saporischschja in Echtzeit, der sowohl für Russland als auch für den Rest der Welt eine absolute Katastrophe hätte bedeuten können. Das ist der Stoff, aus dem Kriegsverbrechen gemacht sind.

Der Punkt, an dem das moralische Kalkül für den Westen kompliziert wird, ist die Reaktion. Es ist rücksichtslos und falsch – sowohl in moralischer Hinsicht als auch im Hinblick auf die amerikanischen Interessen –, einen direkten militärischen Konflikt mit Russland zu provozieren. Die nuklearen Drohungen Russlands sind sehr wahrscheinlich ein Bluff. Aber so frustrierend es für jeden ist, der auch nur einen Funken Mut hat, Flugverbotszonen und westliche Bodentruppen stehen einfach nicht zur Debatte. Wir müssen alles für die Ukrainer tun, was möglich ist, außer einem Krieg mit Russland. Und es kann noch viel getan werden, sowohl in Form von militärischer Ausrüstung, strategischer Beratung und weiteren Sanktionen - wenn der Wille im In- und Ausland vorhanden ist. Das wird die Zeit - und Präsident Biden - zeigen.

Es ist mehr als leichtsinnig, wenn eine Figur wie Senator Lindsay Graham sagt, dass die Welt die Brutus-Lösung braucht. (Brutus hat Cäsar ermordet, um die römische Republik zu retten; jemand muss Putin töten, um Russland zu retten.) Der »gerechte Tyrannenmord« ist eine moralische Kategorie - unter sehr strengen Bedingungen. Aber insbesondere Regierungsbeamte sollten sich vor den unbeabsichtigten Folgen hüten, die solche Äußerungen in der Öffentlichkeit haben, vor allem, wenn sie es einem geübten Manipulator wie Putin leicht machen, sie im Propagandakrieg zu verwenden.

Rücksichtslosigkeit als Reaktion auf ungerechte Aggression kann selbst ein Weg sein, auf dem sich das Böse weiter ausbreitet. Die Welt ist immer reich an Übeln aller Art. Diejenigen, die das Böse in der aktuellen Aggression gegen die Ukraine eindämmen wollen, müssen die Wahrheiten, die sie besitzen, mit größter Sorgfalt einsetzen. Und das bedeutet, dass sie darauf achten müssen, dass ihre Worte nicht zu der sich bereits ausbreitenden Dunkelheit beitragen.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Peter M3

[“Rüstungslieferungen an die Ukraine, die dazu
dienen, dass das angegriffene Land sein völkerr-
echtlich verbrieftes und auch von der kirchlichen
Friedensethik bejahtes Recht auf Selbstverteidi-
gung wahrnehmen kann”, seien “grundsätzlich
legitim”, heißt es in einer Erklärung der
Deutschen Bischofskonferenz (DBK).]

Das sind die gleichen Typen, die Menschen nur
noch mit "Ausweis" in das Haus Gottes lassen
und sich an ihren neu erworbenen Weihwasser-
automaten erfreuen!

Mit Waffenlieferungen an Schurkenstaaten in
Krisengebiete haben sie hingegen kein Pro-
blem.

Hat irgendjemand schon mal darüber nachge-
dacht, was diese Waffen bewirken sollen? Der
"Werte-Westen" ist offensichtlich bereit, bis zum
letzten Ukrainer zu kämpfen. Und der eine BW-
General bezeichnet diese vom Westen finan-
zierte Verbrecherbande als "tapfa" kämpfend.

Man muss sich wieder schämen, Deutscher zu
sein! Nicht nur wegen Gauck, Steinmeier, ...

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