Die aktuellen Krisen in Osteuropa spiegeln erste Früchte einer neuen Weltordnung wider

Das neue eurasische Jahrhundert?

Im Jahr 2060, wenn China wahrscheinlich versucht, seinen Kohlenstoff-Fußabdruck zu reduzieren, wird ein Großteil des Westens kaum mehr als ein Urlaubsort für reiche chinesische und russische Oligarchen sein.

The Russian Presidential Press and Information Office, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons
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»Die aktuellen Krisen in Osteuropa spiegeln mehr als nur die Machenschaften des Kremls wider - sie sind die ersten Früchte einer neuen Weltordnung, die sich von Peking bis nach Berlin erstreckt. Im Gegensatz zum langjährigen liberalen Status quo, der seine Wurzeln in der klassischen Zivilisation und der Aufklärung hat, stützt sich diese neue Alternative auf eine Mischung aus deutscher Geopolitik, dem Erbe chinesischer Kaiser, den Mongolen und der orthodoxen russischen Autokratie. Im Moment umfasst die neue eurasische Vormachtstellung Russland und seine wachsende Liste von wiedergewonnenen Satelliten sowie China, die weltweit führende Diktatur und Werkstatt. Aber sie droht nun auch Deutschland einzubeziehen, eine Entwicklung, die einen militärisch starken und rohstoffreichen Staat in ein Bündnis mit der zweit- und viertgrößten Volkswirtschaft der Welt bringen würde«, kommentiert Joel Kotkin auf der Webseite Quillette.

Auch wenn die Deutschen ihre Bindung an die liberale Demokratie noch nicht aufgegeben haben, übt das neue eurasische Bündnis eine magnetische Anziehungskraft aus und teilt eine gemeinsame Abneigung gegen den angelsächsischen Liberalismus. Schließlich liefert Russland einen Großteil des europäischen Gases - was in Zeiten regulierungsbedingter Energieknappheit von entscheidender Bedeutung ist und demnächst durch die Nord Stream 2-Pipeline noch verstärkt werden soll -, während China zum größten Exportmarkt Deutschlands geworden ist. Die Feinheiten der Demokratie mögen peinlich genau beachtet werden, aber am Ende spricht das Geld, die Macht und mehr als nur ein wenig antiamerikanischer Revanchismus.

Das beginnende eurasische Jahrhundert hat einen Frühling für Diktatoren eingeläutet, die sich nicht an John Locke oder James Madison orientieren, sondern an autokratischen östlichen und islamischen Vorbildern wie den Osmanen, dem kaiserlichen China und den Zaren. Einem Bericht von Freedom House zufolge befindet sich die Demokratie selbst in Europa auf einem generationenübergreifenden Tiefstand. Die angrenzenden eurasischen Länder haben größtenteils »hybride Regime« eingeführt, die einige demokratische Normen, wie z. B. Wahlen, mit autoritärer Kontrolle kombinieren.

Vor einem Vierteljahrhundert warnte der verstorbene Politikwissenschaftler Samuel Huntington, dass wir in eine Ära geopolitischer Ressentiments eintreten, die durch die gefühlte Misshandlung und Demütigung rivalisierender Mächte durch den Westen und seine Versuche, die »Weltgemeinschaft« in Übereinstimmung mit seinen eigenen Interessen umzustrukturieren, verursacht werden. Vor allem China hat den Appetit entwickelt, den mächtigen Platz zurückzuerobern, den die konfuzianische Zivilisation einst innehatte. Noch im 17. Jahrhundert war China nicht nur bevölkerungsreicher und reicher als Europa, sondern verfügte auch über eine industrielle Infrastruktur, die der europäischen mindestens ebenbürtig war.

Der liberale Kapitalismus stürzte diese Ordnung um, als der Anteil Europas am weltweiten BIP zwischen 1500 und 1913 von 17,8 auf 33 Prozent stieg, während Chinas Anteil von 25 auf acht Prozent fiel. Bis 1913 war das Pro-Kopf-BIP Westeuropas etwa siebenmal so hoch wie das Chinas oder Indiens, während das Pro-Kopf-BIP der Vereinigten Staaten das dieser großen und ehrwürdigen Nationen um das Neunfache übertraf.

Die Umkehrung dieses Zustands ist seither eines der wichtigsten Ziele der chinesischen Führung. Nach der Öffnung seiner Wirtschaft im Rahmen der von Deng Xiaoping eingeführten pragmatischen Doktrin des »Sozialismus mit chinesischen Merkmalen« stieg der Anteil Chinas am weltweiten BIP von einem vernachlässigbaren Anteil im Jahr 1980 auf 13 Prozent im Jahr 2010. Prognosen zufolge wird er bis 2026 über 20 Prozent erreichen. Huntington stellte fest, dass die asiatischen Gesellschaften, die einst vom Westen in Ehrfurcht erstarrt waren, ihre Vormachtstellung heute auf eine »überlegene Kultur« zurückführen. Um ihre Abhängigkeit von den alten kapitalistischen Mächten zu verringern, würden sie Allianzen mit Mächten eingehen, die nicht dem westlichen Liberalismus unterworfen sind, insbesondere mit den islamischen Staaten Pakistan und Iran sowie mit Russland.

China, das heute die unangefochtene Führungsmacht in Eurasien ist, hat seinen Wiederaufstieg geschafft, ohne sich individuelle politische Rechte und Eigentumsrechte zu eigen zu machen - die Grundpfeiler des westlichen Liberalismus, die einst als notwendige Voraussetzungen für nationalen Fortschritt und Wachstum galten. Heute ist es genauso unwahrscheinlich, dass China eine konstitutionelle Demokratie wird, wie es dies unter den Mongolen oder ihren Nachfolgern der Ming im 14. Jahrhundert. Stattdessen hat es sich zu einer vorbildlichen Autokratie entwickelt, die sich auf ein System halbpermanenter Kastenprivilegien und ein technologisch verbessertes System der sozialen Kontrolle stützt. Sie setzt immer stärker in die Privatsphäre eingreifende Mittel ein, um eine strenge Zensur durchzusetzen, und bietet nur wenig Schutz für die Privatsphäre. »Während die USA seit langem versuchen, die Welt für die Demokratie sicher zu machen«, so ein Analyst, »sehnt sich Chinas Führung nach einer Welt, die für den Autoritarismus sicher ist.«

Wie in China ist der Revanchismus ein entscheidender Faktor für Russlands eurasisches Schlingern. Da der Westen in Aufruhr ist, versucht Russland, mit Pekings Duldung die Kontrolle über die einst untergeordneten Staaten an seiner Peripherie wiederzuerlangen, von den zentralasiatischen Staaten bis hin zu Belarus und zumindest einigen Teilen der Ukraine. Wenn es Chinas Ziel ist, zum Ruhm der Kaiser zurückzukehren, ist es Russlands Ziel, die territorialen Erfolge der Zaren und Stalins zu wiederholen.

Die Geschichte dient also nicht nur als Prolog, sondern auch als Epilog. Die einst erhoffte Integration in den Westen scheint immer unwahrscheinlicher. Die Chance auf einen langfristigen "Grand Bargain" mit Moskau erscheint heute, in den Worten der Carnegie Endowment for International Peace, "reine Utopie". Es ist unwahrscheinlich, dass sich die Russen heute Putins expansionistischem Schachzug widersetzen. Laut der unabhängigen Umfrage des Levada-Zentrums gibt die große Mehrheit den Ukrainern, den USA oder der NATO die Schuld an der Ukraine-Krise.

Auch heute noch hat die deutsche Öffentlichkeit ein bemerkenswert positives Bild von Russland. Im Einklang mit der Stimmung in der Bevölkerung war Deutschland eines der wenigen westlichen Länder, das nach der Invasion der Krim 2014 enge Beziehungen zu Russland aufrechterhielt. Erstaunlicherweise äußerten die meisten Deutschen den Wunsch, eine »mittlere Position« zwischen den USA und Russland einzunehmen. Im Jahr 2018 gaben die Deutschen in Umfragen an, dass sie Russland und China mehr vertrauen als Amerika, und 2019 befürworteten zwei Drittel der Deutschen engere Beziehungen zu Russland.

Noch wichtiger ist, dass ein ehemaliger SPD-Kanzler, Gerhard Schröder, jetzt als Präsident des Verwaltungsrats von Nord Stream 2 fungiert. Er ist ein Ermöglicher par excellence und bezeichnete seinen Freund Wladimir Putin 2004 als »lupenreinen Demokraten«. Doch es sind die wirtschaftlichen Aspekte der Nord Stream-Erdgaspipeline, die die Bedenken hinsichtlich der Menschenrechte überwiegen, nicht die politischen. Polens stellvertretender Außenminister Szymon Szynkowski vel Sęk verglich die Gaspipeline mit dem berüchtigten Molotow-Ribbentrop-Pakt, der die Grundlage für die Teilung Polens und die Ermordung von Millionen seiner Bürger bildete. In den Worten des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Zelenskij markiert Nord Stream zweifellos »einen ernsthaften geopolitischen Sieg für die Russische Föderation und eine Neuaufteilung der Einflusssphären«.

Das Gespenst eines eurasischen Jahrhunderts stellt ein unheilvolles neues Kapitel in der liberalen Ordnung dar. Ironischerweise hat es unter den westlichen Eliten »nützliche Idioten« gefunden, die offenbar entschlossen sind, die rasche Deindustrialisierung und Entmoralisierung ihrer eigenen Gesellschaften fortzusetzen. Während postnationalistische Konzerneliten einen »großen Neustart«, hohe Energiepreise und das rasante Streben nach »Netto-Null« fordern, wird sich die Produktion weiter nach China verlagern, angetrieben durch immer wertvollere russische Energie und deutsches Know-how.

Im Jahr 2060, wenn China wahrscheinlich versucht, seinen Kohlenstoff-Fußabdruck zu reduzieren, wird ein Großteil des Westens kaum mehr als ein Urlaubsort für reiche chinesische und russische Oligarchen sein. Die Welt wird so aussehen wie unter den Zaren, den Hohenzollern oder den Ming-Kaisern, die ihre Reiche jeweils ohne nennenswerte liberale Sensibilität ausdehnten. Eine geordnetere Welt könnte durch Überwachungstechnologien gewährleistet werden, die auch Hitler, Stalin oder Mao gefallen hätten.

Noch wichtiger ist vielleicht die philosophische Herausforderung. Während wir auf das ukrainische Rätsel fixiert sind, werden wir Zeuge des größten Angriffs auf liberale Werte seit dem Ende des Kalten Krieges, aber wir haben kaum noch Selbstvertrauen, mit dem wir uns verteidigen könnten. Der Westen muss aufwachen und sich der Herausforderung stellen. Der eurasische Aufstieg birgt die Aussicht auf eine neue, höchst autokratische Weltordnung. Wenn dieser Trend gestoppt werden soll, müssen wir uns damit auseinandersetzen, wie wir unsere wirtschaftliche und politische Zukunft untergraben und - wenn auch ungewollt - zur Schaffung eines neuen eurasischen Jahrhunderts beitragen.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Europa der+V+und+V

Schlüssel ist die USA.

So ein Pech mit Biden.

:-(

Das haben wir alle gewusst, das es mit Biden zu neuen Kriegen kommen wird.
ich habe mich oft gefragt:

Russland oder Türkei.
Wer wird 1. ?

Gravatar: Freiherr von

2060, wird ein Großteil des Westens kaum mehr als ein Urlaubsort für reiche chinesische und russische Oligarchen sein. Na dann viel Spaß im neuen Westlichem Islam Afrika.

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