Gastbeitrag

Christophe de Voogd: Der kulturelle Selbstmord des Westens

Der Historiker de Voogd lehrt am Institut d’études politiques de Paris. Nachdem ein Verleger Dantes Göttliche Komödie umschreiben ließ, um negative Islambezüge zu entfernen, stellte er diese Tat in den Kontext eines umfassenden Kampfes gegen das europäische Kulturerbe, der gegenwärtig stattfände. Er bewertet diese und ähnliche Taten als eine „Form des kulturellen Selbstmords“.

Domenico di Michelino, Dantes Göttliche Komödie, Public domain, via Wikimedia Commons
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[Zuerst erschienen auf Renovatio.org]

Der Historiker Christophe de Voogd lehrt am Institut d’études politiques de Paris („Sciences Po“). Nachdem ein Verleger in den Niederlanden Dantes Göttliche Komödie umschreiben ließ, um negative Islambezüge zu entfernen, stellte er diese Tat in den Kontext eines umfassenden Kampfes gegen das europäische Kulturerbe, der gegenwärtig stattfände. Er bewertet diese und ähnliche Taten als eine „Form des kulturellen Selbstmords“.

  • Der Verleger habe durch sein Handeln auf orwellsche Weise „das literarische Kulturerbe selbst“ in Form eines der wichtigsten Werke des abendländischen Kulturerbes angegriffen. Die Göttliche Komödie sei „eine der symbolischsten und vollkommensten Ausdrucksformen“ dieses Erbes und sei hier stellvertretend für dieses angegriffen worden.
  • Der Vorfall stehe im Kontext der „Cancel Culture“, die alles verbieten wolle, was den Sensibilitäten und den kulturellen Dominanzansprüchen der von ihr als privilegiert betrachteten Gruppen widersprechen könne.
  • Die entsprechenden Kampagnen richteten sich unmittelbar und ausschließlich gegen „die klassischen Wissenschaften und das christliche Kulturerbe“ und nicht gegen „die Homophobie, den Rassismus oder die Frauenfeindlichkeit in anderen Kulturen“. Die Behauptung von Aktivisten, dass sie diese Missstände bekämpfen wollten, hält de Vooghd daher für vorgeschoben.

Es falle auf, dass dieser Aktivismus zu einem großen Teil „von den Menschen der westlichen Welt selbst ausgeht“, weshalb man ihn als „eine Form des kulturellen Selbstmords bezeichnen muss“.1

Hintergrund und Bewertung

Der oben beschriebene Eingriff in das Werk Dantes ist in Europa beispiellos und markiert eine neue Eskalationsstufe im Kampf gegen das christliche Erbe Europas, auch wenn der Verlag seine Entscheidung aufgrund der entschiedenen Kritik an seiner Maßnahmenmittlerweile offenbar wieder zurückgenommen hat und die von ihm als anstößig empfundenen Teile des Werks stattdessen nun mit einem Warnhinweis versehen will.

Papst Franziskus hatte kürzlich angesichts des bevorstehenden 700. Jahrestages des Tods Dantes ein apostolisches Schreiben veröffentlicht, in dem er ihn als „Propheten“ würdigte und sich den vor hundert Jahren von Benedikt XV. geschriebenen Worten anschloss, die Dante als christlichen Autoren herausstellten, der „die erhabenen Mysterien des Glaubens“ sowie die christlichen Ideale „in nahezu göttlichen Versen besang“.2 Kurt Flasch, der das Werk 2015 neu übersetzt hatte, würdigte Dante als „konservativen Revolutionär“, der die dekadente Kultur des spätmittelalterlichen Florenz durch abendländische Impulse erneuern wollte.3

Ideologisch motivierte Eingriffe in literarische oder andere Werke stellen in kommunistischen Staaten wie China eine gängige Praxis dar.4 Auch in Europa forderten Aktivisten in den vergangenen Jahren immer wieder solche Eingriffe, was vor allem Kinderbücher betraf, etwa auf die Werke Otfried Preußlers, Astrid Lindgrens oder Michael Endes. Treiber solcher Eingriffe sind häufig Aktivisten wie der Rassismusforscher Wolfgang Benz, der behauptete, dass etwa die Werke Astrid Lindgrens „mit Ressentiments befrachtet“ und von „Kolonialrassismus“ gezeichnet seien.5 Auch die Göttliche Komödie ist seit langem Ziel von Aktivisten, die deren Inhalt als „islamophob“ ablehnen und u. a. fordern, sie nicht mehr im Schulunterricht zu verwenden.6

Ulrich Greiner hatte ideologische Eingriffe in Werke der Literatur als „ein Vergehen an der Literatur“ bewertet und darauf verwiesen, dass George Orwell in seinem Roman 1984 einen totalitären Staat beschrieben hatte, der Bücher umschreibe, um ihren Inhalt ideologisch konform zu machen. In Orwells Buch sagt einer der Charaktere dazu:

„Ist dir klar, dass die Vergangenheit tatsächlich ausgelöscht worden ist? Alle Dokumente sind entweder vernichtet oder gefälscht worden, jedes Buch hat man umgeschrieben, jedes Gemälde neu gemalt, jedes Denkmal, jede Straße und jedes Gebäude umbenannt, jedes Datum geändert. Die Historie hat aufgehört zu existieren.“

Laut Greiner habe man es derzeit nicht mit totalitären Zuständen bzw. mit Orwells „Großem Bruder“ zu tun, sondern mit dem „Kleinen Bruder“ der politischen Korrektheit:

„Dessen rastlose Tätigkeit sollte man aber nicht unterschätzen. Er realisiert sich im Tun jener zahllosen, oftmals staatlich bestallten Tugendwächter, die in höherem Auftrag, sei es Feminismus, Antisemitismus oder Antirassismus, agieren und die mit ideologisch geschärftem Nachtsichtgerät dunkle Abweichungen vom Pfad der Gerechten unverzüglich aufdecken.“

Zum Kampf gegen reale Missstände würde dies jedoch nichts beitragen, da „jene hasserfüllten Schläger“, gegen die sich solche Eingriffe richteten, „ihre mörderischen Ideen sicherlich nicht durch die fehlgeleitete Lektüre“ literarischer Klassiker gewonnen hätten.7

Die Publizistin Birgit Kelle hatte in ihrer Bewertung des aktuellen Vorfalls auf den Satz des Historikers Arnold Toynbee Bezug genommen: „Zivilisationen sterben nicht, sie begehen Selbstmord“. Sie stellt den Vorfall zudem in den Kontext anderer gegen das europäische Kulturerbe gerichteter Aktionen, etwa der Entfernung von Komponisten wie Beethoven und Mozart aus dem Lehrplan des Studiengangs Musik an der Universität Oxford, die damit begründet worden sei, dass es sich um „weiße, europäische Musik aus der Zeit der Sklaverei“ handele. Als besonders problematisch bewertet sie, dass diese „Selbstzerstörung von Kultur und Tradition“ kaum auf Gegner stoße, die ihr Grenzen setzten.8

Quellen

  1. „Mohammed-Zensur. ‚Das ist der kulturelle Selbstmord des Westens“, welt.de, 06.04.2021.
  2. Papst Franziskus: „Apostolisches Schreiben Candor Lucis Aeternae des Heiligen Vaters Papst Franziskus zum 700. Todestag von Dante Alighieri“, 25.03.2021.
  3. Marc Reichwein: „‚Er wollte eine neue Welt'“, Die Welt, 23.05.2015.
  4. Matthew Taylor King: „The Gospel According to Xi“, The Wall Street Journal, 05.06.2020.
  5. Marlene Halser: „Igel bratende Zigeuner“, taz – die tageszeitung, 24.02.2011.
  6. Alison Flood: „Divine Comedy is ‚offensive and discriminatory‘, says Italian NGO“, The Guardian, 15.03.2012.
  7. Ulrich Greiner: „Die kleine Hexenjagd“, Die Zeit, 17.01.2013, S. 13.
  8. Birgit Kelle: „Die Unterwerfung hat begonnen“, Die Tagespost, 01.04.2021, S. 19.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Werner N.

@ ewald: Sicher leben wir in zaghaften Anfängen einer *Postmoderne*. Wenn man aber mit offenen Augen durch die Städte geht, wird man sehen, dass weltweit fast ausschließlich eine modernistische Architektur Realität ist. Gewiss gibt es postmoderne Einzelfälle, die jedoch keine klaren und einheitlichen Positionen ausweisen. Selbst die Theorien sind widersprüchlich oder unklar.

Man könnte die gegenwärtige *Neo-Rechte* als postmoderne Bewegung bezeichnen; aber diese erlangt gegen den *Linkspopulismus* (noch?) keine Mehrheiten (*AfD*). Mit ihrem "gefühlten Konservatismus" verfolgt sie eher einen vagen und unvollständigen, wenn nicht reaktionären Sinn. Eine umfassende neu–konservative Rahmentheorie gibt es in Europa bislang nicht.

Gravatar: ewald

zu Herrn Werner

Die Aufklärung hat längst ausgedient; wir leben in der sog.
Postmoderne

Gravatar: Werner N.

Mal langsam! Der Westen bemerkt(e) nicht, dass seine Werte und Leitprinzipien keine Gültigkeit mehr haben. Die "Mutter der Moderne" ist die *Aufklärung* (G.W. Hegel). Diese hatte vor 250 Jahren das Anliegen, Monarchien und die mittelalterliche Despotie der Kirchen zu beseitigen. Eine epochale Leistung! Damit bekam der Begriff *Aufklärung* einen positiven Klang, der heute als Rechtfertigung für beliebige Aussagen und Aktivitäten benutzt wird. Zusammen mit der Eindimensionalität des Denkens führte das zu den eingeräumten "rationalistischen, sachlichen Katastrophen" des *Aufkläricht* in der *Moderne*. Das permanente Abheben auf Vernunft übersieht – wie I. Kant –, dass diese oft zu Unvernunft neigt. Ob eine Reform der *Aufklärung* ausreicht – wie sie Prof. H. Walach mit der Ergänzung von Spiritualität fordert – oder eine "Gegenaufklärung" erforderlich ist, wäre zu diskutieren. Der größte Unfug wird heute von bekennenden "Aufgeklärten" (Kanzlerin u.A.) bewerkstelligt

Gravatar: Croata

Ich gehöre (noch immer) zu der alten Schule.
In Gymnasium hatten wir Dante, Bocaccio ect....
In Philosophie - Kant, Hegel, Schopenhauer.
Altgriechisch und Latein.
Dafür bin ich dankbar!

Apage (kommunistische) Satanas!

Gravatar: Irene Ronner

Der Westen ist durch links-grüne Liberalismus ruiniert und krank und daran geht kein Weg vorbei.
Leider ist noch der konservative Wiederstand nicht so stark, das man schnell eine Lösung kommt, aber es rollt an und mit vielen Kräften.
Als Übergangslösung bzw. eine Versuchspause würde ich vorschlagen um auch die kranke EU zu retten, den Mitgliedstaaten etwas mehr Rechte zu geben um bei wichtigen Dingen, wie Migration und Wirtschaftsbeziehungen mit allen Länder selbst zu ermöglichen, satt zu sanktionieren.
Sonst gehen wir mit Finanzkrise auf die Knien, wie Übersee!
In 20 Jahren hat Asien den Westen längst überholt in allen Bereichen und das ist unsere Zukunft, aufwachen.
Wir brauchen keine Couch-Diskussionen a la Türkei,,

Gravatar: Roland Brehm

Es sind die Deutschen selbst die ihre eigene Kultur abschaffen, wie ich neulich beobachten musste das historische Musikinstrumente zerstört und auf den Müll geworfen wurden. Auf meine Ansprache hin bekam ich nur zu hören das sie auf die deutsche Kultur scheißen. Das waren keine Ausländer die das taten, es waren Deutsche !
Bücher wandern tonnenweise im Altpapier.
Konzerte wurden schon vor dem Merkel-Lockdown kaum noch besucht.
Die Liste der kulturellen Selbstverstümmelung ist lang.
Deutschland hat jetzt schon seine kulturelle Idendität verloren. Merkel ist da nur noch der letzte Sargnagel.

Gravatar: Jürg Rückert

"Revolutionär" wird heute, wie auch in diesem Text beiläufig erwähnt, durch und durch positiv bewertet. Damit werden Weichen gestellt von alten zu neuen Leichenfeldern.
Man nenne eine Revolution ohne Lügen, Brand und Morden!
Es soll einen Papst geben, der andächtig die Augen rollt, wenn das Wort "Revolution" fällt. Sollte er die kommende Revolution überleben, wird er über Leichenberge steigen müssen, insbesondere auch solche von Priestern.

Gravatar: karlheinz gampe

Auch das Einräumen von Sonderrechten für Politiker findet bei Orwell statt. In der diktatorischen Schweineherrschaft haben die Schweine auch Sonderrechte! Diese Tyrannei der Schweine ist direkt vergleichbar mit der CDU+SPD Regierung für die, jene Bestimmungen nicht gelten sollen, welche für die Bürger gelten. *** **** ***** ***** **** ***

Gravatar: Sigmund Westerwick

Die politische Korrektheit

ist das Vehikel zum Selbstmord des Westens und wird sehr gernen von den Profiteuren dieser so schrecklichen westlichen Kultur vorangetrieben.
Es sind diese Vordenker in den eigentlich bildungsnahen Organisationen wie Theater, Verlage, Medien, die nie wirklich gearbeitet haben sondern immer nur auf Kosten der Gesellschaft oder der Eltern solange studiert haben, bis sie einen öffentlich bezahlten Job ergattert haben und nun den Rest der Gesellschaft mit ihren Vorstellungen heimsuchen.

Mir stellt sich die Frage mit welchem Recht solche Leute die Gesellschaft gängeln wollen, und wenn denn die westliche Kultur so schlecht ist, warum gehen sie nicht nach Afrika, um die von ihren Vorfahren angerichteten Schäden zu korrigieren ?
Sich an irgendwelchen zumeist vom Steuerzahlen subventionierten Gehältern zu laben und gleichzeitig den Steuerzahlen bevormunden zu wollen ist irgendwie infam und pervers, und in der Realität geschmacklos.

Dass solche Leute überhaupt irgendeinen Einfluss auf irgendetwas haben ist schon eine Zumutung.

Gravatar: Hajo

Die gleiche Meinung vertreten ja viele, die sich mit der Entwicklung beschäftigen, wobei aber die Analyse zwar wertvoll ist und Grundvoraussetzung der Erkenntnis, aber damit sind wir die Gauner noch lange nicht los, die das alles schon seit Jahren innitiieren und mit Hilfe der Blödmänner und Frauen auch das noch umsetzen können, weil die Gegenseite nicht in der Lage oder zu feige ist, sich massiv dagegen zu wehren.

Einen Sieg kann man in der Regel am Ende des Weges nur noch über Gewalt erzielen, das ist eine alte Binsenweisheit, immer unter der Voraussetzung, daß alle vorausgegangenen Bemühungen fehlgeschlagen sind und dann nur noch die letzte Möglichkeit bleibt um dem Recht noch zur Geltung zu verhelfen, denn der Despot kennt nur sein eigenes Recht um sich damit seine Herrschaft abzusichern.

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