Prof. Hans Herbert von Arnim Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Wahlsystem und direkte Demokratie - Interview Prof. von Arnim

Im zweiten Teil des großen Interviews mit Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim über die Mängel der Demokratie in Deutschland, sprach FreiWelt.Net mit ihm über das Wahlssystem und die direkte Demoktarie.

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Im ersten Teil des Interviews sprach Prof. von Arnim über die Rolle der Parteien und Defizite des Grundgesetzes. Hier nun Teil 2:

FreieWelt.Net: Liegt der Fehler somit auch im bundesdeutschen Wahlsystem?

Prof. von Arnim:
Auch bei der Europawahl kann der Wähler nicht einmal die Richtung der Politik bestimmen. Denn die beiden großen europäischen Fraktionen, die Europäische Volkspartei und die Sozialdemokraten, stimmen das Meiste untereinander ab, wobei Ausnahmen die Regel bestätigen. Da ist es dann fast egal, ob sie mehr oder weniger Stimmen bekommen. Die Mehrheit behalten sie doch.
Das alles verändert auch den Charakter der Parteien. Schon vor Jahrzehnten hatte der legendäre SPD-Politiker Herbert Wehner bei Einführung der Staatsfinanzierung der Parteien davor gewarnt, die Mitglieder würden demotiviert und die Parteien denaturiert. In der Tat: Inzwischen sind aus Volksparteien „Fraktionsparteien“ (so der frühere Generalsekretär der CDU und Berliner Senator Peter Radunski) und „Kartellparteien“ (so die amerikanisch-britischen Politikwissenschaftler Richard Katz und Peter Mair) geworden. Diese haben sich dem Volk entfremdet, so dass den einstigen Volksparteien die Mitglieder und Wähler davon laufen.
Im Herbst ist der Bundestag sogar auf materiell verfassungswidriger Grundlage gewählt worden. Das BVerfG1 hat die Verfassungswidrigkeit des so genannten negativen Stimmgewichts 15 Monate vor der Wahl ausdrücklich festgestellt und dem Gesetzgeber für die Reparatur dennoch bis zur übernächsten Wahl Zeit eingeräumt. Vermutlich hatte das Gericht ein schlechtes Gewissen. Denn das eigentliche Übel, die so genannten Überhangmandate, hätte es schon vor zwölf Jahren beseitigen können. Dann hätte auch kein negatives Stimmgewicht mehr entstehen können. Doch 1997 verhinderten die vier von den Regierungsparteien nach Karlsruhe entsandten Richter ein solches Urteil2. Die Überhangmandate waren bei der Bundestagswahl 1994 der CDU/CSU/FDP-Regierung unter Kanzler Helmut Kohl zugute gekommen und hatten ihre knappe Mehrheit stabilisiert. So kam es im Gericht zu einem 4:4-Patt, was die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Überhangmandate unmöglich machte.
Auch der Fortbestand der starren Listen, mit denen die Parteien - entgegen der vom Grundgesetz geforderten freien und unmittelbaren Wahl durch das Volk (Art. 38 GG) - die Abgeordneten bestimmen, ist ein demokratischer Makel, dem das Gericht früher einmal unter dem unsäglichen Einfluss von Leibholz Parteienstaatsdoktrin den Segen erteilt hat.
Problematisch ist auch die Fünf-Prozent-Klausel, jedenfalls bei der Europawahl. Das Wahlgesetz für den ersten Bundestag hatte noch nichts dergleichen vorgesehen - jedenfalls in der vom Parlamentarischen Rat verabschiedeten Fassung. Die Sperrklausel wurde erst von den Ministerpräsidenten hinzugefügt und später vom BVerfG abgesegnet. Die Klausel verlangte ursprünglich nur, dass eine Partei mindestens 5% der gültigen Zweitstimmen in einem Bundesland erreicht. Später wurde die Regelung zu Lasten kleinerer Konkurrenzparteien auf das gesamte Bundesgebiet ausgeweitet. Auf kommunaler Ebene ist die Sperrklausel inzwischen wieder abgeschafft worden. Auch auf Europaebene macht sie keinen Sinn,
weil ohnehin 162 Parteien im neu gewählten Europäischen Parlament vertreten sind,
weil keine Regierung gewählt wird und weil kleinere Parteien sich im Europäischen Parlament in der Regel größeren Fraktionen verwandter europäischer Parteifamilien anschließen

Wie merkwürdig sich die Fünf-Prozent-Klausel bei der Europawahl auswirkt, sieht man auch daran, dass eine deutsche Partei für die 5% mehr Stimmen braucht als Esten, Malteser, Slowenen und Zyprioten zusammen benötigen, um ihre 24 Abgeordneten nach Brüssel zu schicken. Die deutsche Sperrklausel treibt die ohnehin bestehende Ungleichheit bei der Europawahl, die etwa einem Luxemburger das vielfache Stimmgewicht eines Deutschen verschafft, auf die Spitze. Das ist verfassungswidrig. Die einschlägige Entscheidung des BVerfG3 von 1979 muss meines Erachtens wegen völlig geänderter tatsächlicher Verhältnisse und gewandelter verfassungsgerichtlicher Maßstäbe revidiert werden. Eine Wahlprüfung, die jeder Wähler nach der Wahl erheben kann (§ 26 Europawahlgesetz); dürfte letztlich Erfolg haben. Allerdings werden solche Prüfungen oft so lange verschleppt, bis die Wahlperiode abgelaufen ist. Deshalb nennen Eingeweihte sie auch „Prüfungsverhinderungsverfahren“ (Hans Meyer).

FreieWelt.Net: Wir erleben also eine Entwertung des Wahlrechts der Bürger?

Prof. von Arnim:
Das Wahlrecht wird durch den bundesdeutschen Föderalismus - auf höchst verschlungenen Pfaden - noch weiter entwertet. Ihn hatten die drei westlichen Militärgouverneure fest geschrieben. Um ein zentralistisches Durchregieren wie zur Nazizeit unmöglich zu machen, gaben sie dem Parlamentarischen Rat eine „Regierungsform des föderalistischen Typs“ vor, die „die Rechte der beteiligten Länder“ schützen sollte.
Die Besatzungsmächte griffen auch in ganz konkreten Fragen ein. Ein Beispiel ist die Finanzverwaltung, die damals ein zentrales Thema war. Der Parlamentarische Rat hatte eine bundeseinheitliche Finanzverwaltung vorgeschlagen, scheiterte damit aber am Widerstand der Alliierten, die einen starken Bund fürchteten. Daran kranken wir noch heute: In der Hand der Länder tendiert die Verwaltung zu erheblichen Vollzugsdefiziten. Da der Länderfinanzausgleich einem Land nur einen kleinen Teil der Mehreinnahmen belässt, die durch konsequente Steuerprüfungen erzielt werden können, sind manche Länder versucht, ihre Unternehmen im Steuervollzug mit Samthandschuhen anzufassen, um so eine attraktive Standortpolitik zu betreiben. Dadurch gehen dem Fiskus jährlich viele Milliarden Euro verloren. Von der früher einmal getroffenen Entscheidung jetzt aber wieder wegzukommen, scheiterte bisher - trotz eindringlicher Appelle des Bundesrechnungshofs und von Unternehmensberatungen - am Widerstand der Länder.
Die deutsche Ausprägung des Föderalismus, der an sich einer guten Idee entspringt, ist inzwischen Teil des Problems. Eine Zusammensetzung der zweiten Bundeskammer aus Mitgliedern der Landesregierungen gibt es in keinem anderen westlichen Bundesstaat. Dies haben seinerzeit die Landesregierungen selbst durchgesetzt und damit einen Senat, dessen Mitglieder extra gewählt werden müssten, verhindert. Die Weichen hatten der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard (CSU) und der nordrhein-westfälische Innenminister Walter Menzel (SPD) gestellt, als sie sich - hinter dem Rücken des Ratsvorsitzenden Konrad Adenauer - bei einem Abendessen am 26. 10. 1948 auf die Errichtung eines Bundesrats einigten. Das war natürlich eine Entscheidung pro domo. Denn damit war gesichert, dass die Landesregierungen im Bund, wo nun einmal die politische Musik gespielt wird, ein gewichtiges Wort mitreden können.
Im Laufe der Jahrzehnte wurde die politische Stellung der Landesparlamente immer weiter geschwächt, so dass gelegentlich sogar die Staatsqualität der Länder in Frage gestellt wurde. Gesetzgebungskompetenzen wanderten in großem Umfang zum Bund. Die Ministerpräsidenten aber profitierten davon. Sie stimmten im Bundesrat der Übertragung nämlich nur unter der Bedingung zu, dass der Bund die neuen Bundesgesetze mit Zustimmung des Bundesrats, also der Ministerpräsidenten selbst, erlassen durfte. Das erhöhte wiederum die Macht der „Landesfürsten“ - auf Kosten des Bundestags und der Bundesregierung.
Der Bundesrat, der zunehmend in den Sog des Parteienkampfes geriet, war häufig in der Hand der Opposition, die damit wichtige Gesetze blockieren konnte. Die Väter des Grundgesetzes wollten einen starken, handlungsfähigen Kanzler. Ihn von der Opposition abhängig zu machen, hätte sicher nicht in ihrer Absicht gelegen. Die Stärkung der Ministerpräsidenten ging aber auch auf Kosten der Landesparlamente und ihrer Wähler. Denn das Votum der Länder im Bundesrat ist allein Sache ihrer Regierungen.
Auch in den Bereichen, die den Ländern verblieben sind, stimmen sie sich in rund tausend Koordinierungsgremien untereinander ab. Die Folge ist ein verschleierter Zentralismus, der für Politiker aber den Vorteil besitzt, dass für ihre Entscheidungen niemand wirklich den Kopf hinhalten muss. Die Landesparlamente können die allseits abgestimmten Regelungen nur noch formal absegnen und werden noch weiter entmachtet, vom Bürger ganz zu schweigen.
Bisweilen entsteht der Eindruck, der bundesdeutsche Föderalismus mit seinen 16 Ländern sei ein gewaltiges Postenvervielfältigungsprogramm, an dem die politische Klasse aus durchsichtigen Gründen nicht rühren will. Jedenfalls ist die eigentlich längst überfällige Neugliederung des Bundesgebiets und die Verringerung der Zahl der Bundesländer immer wieder gescheitert. Der Parlamentarische Rat hatte noch eine zwingende Pflicht dazu in Art. 29 GG geschrieben, die 1976 aber durch Verfassungsänderung aufgehoben wurde.
Als die Mängel in letzter Zeit nicht mehr wegzureden waren, wurden zwar zwei „Föderalismusreformkommissionen“ eingesetzt. Das Ergebnis aber ist dürftig. Und zu einer Neugliederung kommt es schon gar nicht.

FreieWelt.Net: Die vom Parlamentarischen Rat gewünschte Entwicklung ist also nicht erfolgt?

Prof. von Arnim:
Betrachtet man die Entwicklung insgesamt, so muss man feststellen, dass der Parlamentarische Rat sich 1948/49 einer Lage gegenüber sah, die sich heute vollkommen gewandelt hat. Er war von einem Vorverständnis beherrscht, das inzwischen seine Grundlage verloren hat. Und er war Akteuren ausgeliefert, die es heute nicht mehr gibt. Damit ist die „Geschäftsgrundlage“ für die damalige Beschneidung der demokratischen Fundamentalrechte entfallen. Trotz völlig geänderter Verhältnisse wurden die nötigen Konsequenzen bisher aber nicht gezogen. Denn darüber entscheidet die politische Klasse in eigener Sache, und sie scheint nicht bereit, den Ast abzusägen, auf dem sie sitzt.
Solange das deutsche Volk geteilt war, war, um die  Formel Lincolns aufzugreifen, eine Herrschaft des Volkes nicht möglich. Sie wurde später aber auch nicht nachgeholt. Angesichts der Entmachtung der Wähler kann von einer Herrschaft durch das Volk ebenfalls keine Rede sein. Und die Eingebundenheit des Kanzlers in die Koalitionsdisziplin sowie seine Abhängigkeit von einem von der Opposition beherrschten Bundesrat, die in der Vergangenheit meist bestand, können seine Stellung ungemein schwächen und so auch Politik für das Volk erschweren.
Die Folge ist eine krasse Unausgewogenheit: Während die Grundrechte des Bourgeois gegen den Staat (status negativus) groß herausgestellt und intensiv geschützt werden, begnügt man sich bei den Einflussrechten des Citoyen auf die Politik (status activus) mit einem bloßen Formalismus, hinter dem sich die Entmachtung des Staatsbürgers verbirgt. Ohne zureichenden Grund wird mit zwei völlig unterschiedlichen Maßstäben gemessen. Wir haben in Deutschland zwar einen wohl ausgebauten Grundrechtsstaat, gleichzeitig aber eine hoch defizitäre Demokratie. Würden die Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 II GG) und das für Freiheitsgrundrechte entwickelte Übermaßverbot auch auf das Wahlgesetz angewendet, wäre seine Verfassungswidrigkeit offensichtlich.

FreieWelt.Net: Deshalb plädieren Sie für die Einführung der direkten Demokratie?

Prof. von Arnim:
In der heutigen Situation scheint mir die Einführung direkter Demokratie auf Bundesebene aus drei Gründen dringend geboten:
(1) Wenn der Bürger schon die Personen, die ihn im Parlament vertreten sollen, nicht wirklich wählen und die Regierungen nicht entscheidend bestimmen kann, sollte er wenigstens die Möglichkeit erhalten, in Fragen, die ihm besonders wichtig sind, die Entscheidung an sich zu ziehen. Das gilt jedenfalls für die fundamentalen Regeln des Machterwerbs. In Sachen Wahlrecht und Bezahlung der Abgeordneten und Parteien ist der Bürger allemal ein besserer Schiedsrichter als die mit ihrem ganzen beruflichen Status betroffenen Abgeordneten selbst. Auf diese Weise könnte die nötige Kontrolle gegen Machtmissbrauch geschaffen und die Abschottung der politischen Klasse gegen die Bürger aufgebrochen werden. Es würde auch möglich, die längst überfälligen Reformen unserer demokratischen Infrastruktur - auch gegen den Widerstand der politischen Klasse - endlich vorzunehmen. Die Direktwahl der Bürgermeister und Landräte, die in Ländern wie Hessen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen nur mittels direkter Demokratie eingeführt werden konnte, hat gezeigt, wie es geht. Das Erfolgsmodell Direktwahl sollte auch auf Ministerpräsidenten und Bundespräsidenten ausgedehnt werden.
(2) Die Gründe, die den Parlamentarischen Rat noch bewogen, von Volksbegehren und Volksentscheid abzusehen, sind inzwischen entfallen. Nach 60 Jahren Demokratieerfahrung im Westen und 20 Jahre nach der friedlichen Revolution im Osten sollte niemand mehr dem deutschen Volk die demokratische Reife absprechen dürfen. Und was die Direktwahl des Bundespräsidenten anbelangt, würde dadurch das System durchaus nicht durcheinander gebracht. Auch eine Ausweitung der formalen Kompetenzen des Bundespräsidenten wäre nicht erforderlich, wie man etwa am direkt gewählten österreichischen Bundespräsidenten sieht. Nach der Wiederwahl des deutschen Bundespräsidenten am 23. 5. 2009 wurden selbst Parteiführer wie Angela Merkel und Wolfgang Schäuble vor laufenden Kameras nicht müde zu betonen, wie sehr die Wahl Köhlers dem Willen der Deutschen entspreche, und erwiesen so, unabsichtlich, der Volkswahl ihre Reverenz.
(3) Mit der Eröffnung direkter Demokratie würde auch Volkssouveränität, die bisher fehlt, geschaffen. Wenn das Volk die Möglichkeit hätte, (mit den nötigen Quoren) die Verfassung jederzeit zu ändern, würde es zum potenziellen Herrn über sie. Dies könnte durchaus als Einverständnis mit ihr gewertet werden, auch soweit von der Möglichkeit kein Gebrauch gemacht würde.

Zu Teil 1 auf FreiWelt.net


Prof. Hans Herbert von Arnim veröffentlicht einen Ausatz zu dem Thema in der "Neuen Juristischen Wochschau"

zur Vita von Prof. von Arnim auf HfV Speyer

Das Interview führten Beatrix von Oldenburg und Norman Gutschow

Foto: Hans Herbert von Arnim

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