Prof. Dr. Dietrich Murswiek Staats- und Verwaltungsrechtler, Universität Freiburg

Vorbehalt gegen Lissabon sinnvoll - Interview Prof. Murswiek

Prof. Dr. Dietrich Murswiek ist Ordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Deutsches und Internationales Umweltrecht an der Universität Freiburg/ Breisgau, wohin er 1990 als Nachfolger von Ernst-Wolfgang Böckenförde berufen wurde. Seit Mitte der 1980er Jahre berät er Bundestagsabgeordnete der CDU/CSU-Fraktion in staats- und völkerrechtlichen Fragen. Murswiek unterstützte die Verfassungsbeschwerde Peter Gauweilers (CSU) gegen die ursprünglichen deutschen Zustimmungs- und Begleitgesetze zum Lissabon-Vertrag der EU als Gutachter und Rechtsvertreter in den mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverfassungsgericht.

FreieWelt.Net sprach mit Dietrich Murswiek über das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, die aktuell debattierten Begleitgesetzentwürfe und die Frage eines deutschen Vorbehaltes.

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Freie Welt.Net: Handelt es sich beim Urteil des Bundesverfassungsgerichtes um einen integrationsfeindlichen „ausbrechenden Rechtsakt“, wie der ehemalige deutsche Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof Carl Otto Lenz es kritisiert hat?

Dietrich Murswiek:
Das Bundesverfassungsgericht nimmt die Kompetenz für sich in Anspruch, europäische Rechtsakte für in Deutschland unanwendbar zu erklären, wenn sie die Grenzen der Kompetenzen überschreiten, die der Europäischen Union im Wege der begrenzten Einzelermächtigung eingeräumt worden sind. Aus der Sicht der Europäischen Union ist für die Prüfung der Frage, ob dies der Fall ist, aber der Europäische Gerichtshof zuständig. Für diese Sicht gibt es gute Gründe, aber auch das Bundesverfassungsgericht kann sich auf eine systematisch-juristische Argumentation stützen. Verfehlt ist es, dem Bundesverfassungsgericht wegen seiner Interpretation des Vertrages und wegen der von ihm in Anspruch genommenen Kontrollkompetenz Integrationsfeindlichkeit vorzuwerfen. Das Gegenteil trifft zu: Das Bestreben des Bundesverfassungsgerichts war es ganz offensichtlich, den Vertrag von Lissabon zu retten. Dies war nur möglich, indem das Gericht den Vertrag sehr restriktiv interpretierte, ihn durch Stärkung der Mitwirkungsrechte von Bundestag und Bundesrat flankierte und die Fortentwicklungsdynamik des Integrationsprozesses unter Kontrolle stellte. Hätte das Bundesverfassungsgericht dies alles nicht getan, dann hätte es das Zustimmungsgesetz zu dem Vertrag für verfassungswidrig erklären müssen.


Freie Welt.Net: Wie sind die vorliegenden Begleitgesetz-Entwürfe zu bewerten? Werden sie dem Karlsruher Urteil gerecht oder können Sie Tendenzen der Über- oder Unterschreitung der Aussagen und Intentionen des BVerfG festzustellen?

Dietrich Murswiek:
Es gibt einige Stellen, an denen noch nachgebessert werden muss. Aber im wesentlichen haben die Parlamentarier ihre Hausaufgaben gemacht und die Anforderungen des Lissabon-Urteils akribisch umgesetzt. Der Vergleich mit dem ursprünglichen – verfassungswidrigen – Begleitgesetz zeigt übrigens, wie viel Gauweiler und ich zugunsten von Bundestag und Bundesrat erreicht haben. Die demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten des Parlaments an der Weiterentwicklung der europäischen Integration sind auf ein völlig neues Niveau gehoben worden. In mehr als einem Dutzend Kategorien von weitreichenden Entscheidungen ist jetzt ein Zustimmungsgesetz erforderlich, für weitere sechs Arten von Beschlüssen ist jetzt vorgesehen, dass der deutsche Vertreter im Rat nur auf der Basis eines zustimmenden Parlamentsbeschlusses zustimmen darf. Und in drei Fallgruppen, in denen der Lissabon-Vertrag zur Wahrung der nationalen Souveränität eine „Notbremse“ vorsieht, können nach der neuen Regelung Bundestag und Bundesrat der Regierung die verbindliche Weisung erteilen, die Notbremse zu ziehen. – Was aus meiner Sicht fehlt, sind direkt-demokratische Entscheidungsrechte des Volkes für Vertragsänderungen oder Beitritte neuer Mitglieder. Dies wurde vom Bundesverfassungsgericht allerdings nicht vorgeschrieben.


Freie Welt.Net: Ist ein Protokoll oder ein formeller Vorbehalt zur deutschen Ratifizierung völkerrechtlich geboten? Könnte hierdurch für den Fall einer über das Urteil des BVerfG hinausgehenden Auslegung des Lissabonvertrages durch den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg ein Rechtsschutz Deutschlands erreicht werden?

Dietrich Murswiek:
Das Bundesverfassungsgericht hat den Vertrag von Lissabon nicht uneingeschränkt für verfassungsmäßig erklärt, sondern „nur nach Maßgabe der Gründe“ seines Urteils. Das Gericht hat den Vertrag an etlichen Stellen einschränkend ausgelegt und insbesondere betont, dass die Kompetenzen, die der Europäischen Union auf dem Gebiet des Strafrechts eingeräumt werden, „eng“ zu verstehen sind. Und es hat sich selbst zum Wächter über diese enge Auslegung eingesetzt und gesagt, dass Rechtsakte der Europäischen Union, die den vom Bundesverfassungsgericht konkretisierten Rahmen des deutschen Zustimmungsgesetzes überschreiten, in Deutschland keine Anwendung finden könnten. Die deutschen Staatsorgane sind an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gebunden. Für die Europäische Union ist aber nicht ohne weiteres verbindlich, was das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Der Europäische Gerichtshof kann zu einer ganz anderen Auslegung des Vertrages kommen, und er ist nach dem Vertrag das für die Auslegung zuständige Organ. Daher ist es möglich und wahrscheinlich, dass es zu einem Konflikt zwischen der völkerrechtlichen Bindung Deutschlands an den Vertrag, wie er vom Europäischen Gerichtshof ausgelegt wird, und der verfassungsrechtlichen Bindung an das Grundgesetz kommen wird. Deutschland muss dann seine verfassungsrechtliche Verpflichtung erfüllen und in Konsequenz dessen möglicherweise völkerrechtswidrig handeln. Das kann zur Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof und zur Auferlegung von Zwangsgeldern führen. Es ist unverantwortlich, sehenden Auges in einen solchen Konflikt zwischen völkerrechtlicher Verpflichtung und verfassungsrechtlicher Bindung hineinzulaufen. Vermeiden lässt sich dieser Konflikt nur dadurch, dass völkerrechtlich sichergestellt wird, dass der Vertrag von Lissabon für Deutschland nur in derjenigen Auslegung verbindlich wird, die sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ergibt. Das beste Mittel hierfür wäre ein Zusatzprotokoll zum Vertrag, das allerdings der Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten bedarf. Das Ziel kann aber auch dadurch erreicht werden, dass Deutschland die Ratifikation unter einem entsprechenden Vorbehalt erklärt. Eines dieser Mittel anzuwenden, ist meines Erachtens verfassungsrechtlich geboten.

Freie Welt.Net: Wäre ein deutscher Vorbehalt ein Schaden für die Zukunft der europäischen Integration?

Dietrich Murswiek:
Im Gegenteil: Er dient der Vermeidung künftiger Konflikte, die der Integration nur schaden können. Das Lissabon-Urteil verbietet auch ohne Vorbehalt, Rechtsakte der Europäischen Union, die außerhalb der vertraglichen Kompetenzen – in ihrer Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht – erlassen wurden, in Deutschland anzuwenden. Der Vorbehalt stellt lediglich sicher, dass das, was das Grundgesetz – in seiner Auslegung durch das Lissabon-Urteil – ohnehin gebietet, nicht in Widerspruch zum Europarecht geraten kann.

Freie Welt.Net: Könnte eine „Entschließung“ des Bundestages, wie sie etwa von Seiten der CSU ins Spiel gebracht wird, ein Zusatzprotokoll oder einen förmlichen Vorbehalt ersetzen? Wann und in welcher Form müßte eine solche Entschließung dann den europäischen Vertragspartnern vorgelegt werden?

Dietrich Murswiek:
Eine Entschließung des Bundestages bringt auf keinen Fall so viel wie ein Vorbehalt. Aber sie ist besser als gar nichts, wenn sie in geeigneter Weise der Europäischen Union und den Vertragspartnern notifiziert wird. Am besten sollte sie mit der Ratifikationsurkunde hinterlegt und zugleich den Botschaftern der Mitgliedstaaten übergeben werden. Dann hätte sie als einseitige Interpretationserklärung immerhin eine gewisse – wenn auch im Vergleich zu einem Vorbehalt verminderte – völkerrechtliche Relevanz.

Internetseite Prof. Murswiek

Das Interview führte Johannes Bronisch

Foto: A. Murswiek

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