Fragen an Prof. Dr. Christian Hillgruber

Vertrauen, Verträge, Vernunft - auf welcher Basis gründet Europa?

Prof. Dr. Christian Hillgruber lehrt am Institut für öffentliches Recht der Universität Bonn. Im Interview mit Freiewelt.net fordert er eine Rückkehr zum Recht in der EU.

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FreieWelt.net: Die EU-Justizkommissarin Viviane Reding meinte, dass der Art. 125 AEUV nur eine automatische Haftung für die Schulden anderer Staaten ausschloss; freiwillige Hilfen für überschuldete Staaten als Akt der Solidarität seien sehr wohl erlaubt. Warum kritisieren Sie die Hilfen für krisengebeutelte Länder wie Griechenland als Vertragsbruch?

Prof. Hillgruber: Nach der Rechtsprechung des EuGH (EuGH, Urteil vom 27. November 2012, Rs. C-370/12, Pringle, Slg. 2012, S. I-0000, Rn. 135 ) und des BVerfG (E 129, 124, 181 f.; BVerfG, 2 BvR 2728/13 vom 14.01.2014 – OMT-Beschluss, Absatz-Nr. 41) ist für die Ausgestaltung der Währungsunion gerade die Eigenständigkeit der nationalen Haushalte konstitutiv, die einer direkten oder indirekten gemeinsamen Haftung der Mitgliedstaaten für Staatsschulden entgegensteht. Wenn man diese ratio, die Unabwälzbarkeit finanzpolitischer Eigenverantwortung, bedenkt, kann man m.E. auch über die Reichweite des Ausschlusses der Haftung eines Mitgliedstaates für die Verbindlichkeiten eines anderen und des Eintritts für derartige Verbindlichkeiten nach Art. 125 Abs. 1 S. 2 AEUV nicht mehr ernstlich streiten. Die Vorschrift will die Staaten, die in die Mithaftung genommen werden könnten, letztlich vor Erpressbarkeit und vor sich selbst schützen. Deshalb ist kaum anzunehmen, dass freiwillige Haftungsübernahmen oder Garantien nicht erfasst sein sollten. Denn mit der „Freiwilligkeit“ ist es unter den obwaltenden Umständen nicht weit her. Was ein Mitgliedstaat tun darf, das muss er – auch ohne rechtliche Verpflichtung – tun, wenn  die Not eines anderen Mitglieds es erfordert. Dazu wird er, wenn er sich nicht auf ein kategorisches rechtliches Verbot berufen kann, moralisch durch Einforderung von „Solidarität“ genötigt. Die Vorschrift wollte einer wie auch immer begründeten Schuldenunion einen Riegel vorschieben, um eine Abwälzung der Folgen einer unverantwortlichen Schuldenpolitik auf andere Mitgliedstaaten unmöglich zu machen, dadurch mittelbar alle Mitgliedstaaten zu einer stabilitätsorientierten Ausgabenpolitik anhalten und die stärkeren unter ihnen vor der Übernahme letztlich nicht zu schulternder Lasten bewahren.

FreieWelt.net: Ist ihre Rechtsauffassung nicht zu rigoros, zu formalistisch, vielleicht sogar zu „deutsch“? Anders gefragt: Muss das Recht nicht flexibel gehandhabt, an Kriterien der Nützlichkeit orientiert fortentwickelt werden? In diesem Fall: Ist nicht der Bestand der Währungsunion der Zweck des europäischen Vertragsrechts?

Prof. Hillgruber: Mit der Flexibilität des Rechts ist es so eine Sache. Wenn Recht seine das politische Handeln effektiv begrenzende Wirkung entfalten soll, muss die Grenze, die es markiert, prinzipiell fest sein, und darf keine Verteidigungslinie sein, die immer dann weiter zurückgenommen wird, wenn sich die Politik ihr nähert und sie in ihrem ursprünglichen Verlauf überschreitet. Dann würde das Recht nicht mehr kontrafaktisch wirken können.

Es ist eine Grundidee des Rechts, dass der Zweck, auch ein vertraglich anerkannter, eben nicht jedes Mittel rechtfertigt, sondern nur solche Handlungsinstrumente, die ihrerseits vertrags- und damit rechtmäßig sind. Alles andere ist Notstandslogik, die um eines bestimmten Zieles willen zu allem ermächtigt, was nach Lage der Dinge zu seiner Erreichung notwendig ist.

Die rechtsnormativen Vorgaben der europäischen Verträge auch in der Krise zu beachten und nicht zu überspielen, wäre im Übrigen nach meiner festen Überzeugung nicht nur vertragstreu, sondern auch finanzpolitisch vernünftig gewesen.

FreieWelt.net: Die Eurorettungspolitik folgt dem Prinzip „Solidarität/Hilfe gegen Auflagen“. Ziel ist es, die „Stabilität des Euro-Währungsgebietes insgesamt zu wahren“. So bestimmt es der neue Art. 136 III AEUV.  Sie kritisieren diese Philosophie als in sich widersprüchlich, finanz- und rechtspolitisch verfehlt. Warum?

Prof. Hillgruber: Der Verweis auf geschuldete Solidarität ist irreführend. Solidarität meint ein Verhältnis der Gegenseitigkeit. Wer als Glied einer Gemeinschaft deren Solidarität für sich beansprucht, der muss auch selbst bereit sein, Opfer für die Gemeinschaft zu erbringen. Doch darum geht es entgegen dem ersten Anschein bei den getroffenen Rettungsmaßnahmen gar nicht. Wir helfen nicht Griechenland, nicht Spanien und Portugal um dieser Staaten willen, sondern wir helfen uns selbst. Die Abwendung eines griechischen Staatsbankrotts ist nicht das Ziel, sondern bloß das vermeintlich einzige Mittel zur Stabilisierung der gesamten Euro-Zone, auf die es uns allein ankommt und die ansonsten, so wird uns gesagt, vollständig zu zerbrechen drohte. Weil aber der Euro insgesamt auf dem Spiel steht, kann es auf einen Erfolg der Sparmaßnahmen, die den Nehmerländern abverlangt werden, letztlich gar nicht ankommen. Die Praxis bestätigt dies. Auf der strikten Einhaltung gemachter Zusagen besteht man nicht. Es geht bestenfalls um Bemühenszusagen, um ein Zeichen des Goodwill; dann wird die nächste Tranche ausgezahlt.

FreieWelt.net: Aber hat sich die Lage nicht weitgehend beruhigt und stabilisiert? Haben nicht doch diejenigen Recht behalten, die die Euro-Rettungspolitik befürworten?

Prof. Hillgruber: Richtig ist, dass eine gewisse Beruhigung der Märkte, nicht zuletzt durch mehr als kühne, vertraglich kaum gedeckte Erklärungen der EZB eingetreten ist – was zum Teil ebenso irrational ist wie die vorangegangene Hysterie –  und bei einigen der überschuldeten Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Lage sich tatsächlich, teilweise sogar erheblich, verbessert hat. Dass damit die europäische Finanz- und Schuldenkrise bereits insgesamt überwunden wäre, wird man aber kaum behaupten können. Die Rechnung für die Rettungsmaßnahmen wird noch aufzumachen sein.

FreieWelt.net: Ist es nicht konsequent und berechtigt, das deutsche Verfassungsrecht hin zu einer europäischen Verfassung mit autonomen europäischen Kompetenzen fortzuentwickeln?

Prof. Hillgruber: Das deutsche Verfassungsrecht ist zwar in weitem Umfang integrationsoffen, aber nicht unbegrenzt. Das BVerfG hat im Lissabon-Urteil dazu Folgendes festgestellt: „Das Grundgesetz ermächtigt den Gesetzgeber zwar zu einer weitreichenden Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union. Die Ermächtigung steht aber unter der Bedingung, dass dabei die souveräne Verfassungsstaatlichkeit auf der Grundlage eines Integrationsprogramms nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und unter Achtung der verfassungsrechtlichen Identität als Mitgliedstaaten gewahrt bleibt und zugleich die Mitgliedstaaten ihre Fähigkeit zu selbstverantwortlicher politischer und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse nicht verlieren (BVerfGE 123, 267, 347).“ Die auf das Ziel einer allumfassenden politischen Union fixierte Integrationspolitik erscheint indes entschlossen, auch die äußersten Grenzen, die das Grundgesetz mit der sog. Ewigkeitsgarantie (Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG) der Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an der europäischen Integration setzt, durch Verfassungsneuschöpfung zu überwinden. Es muss ungeachtet der Lissabon-Entscheidung des BVerfG bezweifelt werden, ob Art. 146 GG tatsächlich den Weg zu einer solchen neuen, zu einem Identitätswechsel der Bundesrepublik Deutschland führenden Verfassung „in einer Legalitätskontinuität zur Herrschaftsordnung des Grundgesetzes“ (BVerfGE 123, 267, 343) eröffnet. Jedenfalls scheint das deutsche Volk gegenwärtig keinerlei Bedürfnis danach zu verspüren, die Bundesrepublik Deutschland zum bloßen Gliedstaat eines europäischen Bundesstaates herabzustufen.

FreieWelt.net: Lässt das geltende EU-Recht einen Austritt aus der Währungsunion oder gar die Auflösung der Währungsunion zu?

Prof. Hillgruber: Der Vertrag über die Europäische Union sieht nur den Austritt aus der gesamten Europäischen Union vor (Art. 50 EUV); ein Austritt aus der Währungsunion müsste aber m.E. jedenfalls bei Wegfall der Geschäftsgrundlage möglich sein. Das wäre der Fall, wenn es zu einer erheblichen Umverteilung zwischen den Haushalten und damit den Steuerzahlern der Mitgliedstaaten käme und die Währungsunion damit Züge eines europaweiten Finanzausgleichs annähme, den die europäischen Verträge nicht vorgesehen haben und der deshalb auch nicht zu erwarten war. Eine Auflösung durch die „Herren der Verträge“ ist allemal möglich.

FreieWelt.net: Als Ausweg aus der Krise fordern Sie eine „Rückkehr zum Recht“. Hat die Politik nicht schon neue, tragfähige Rechtsgrundlagen geschaffen, wie z. B. den „Europäischen Fiskalpakt“? Sind die Regierungen nicht dabei, eine europäische Wirtschaftsregierung zu schaffen, die neue Stabilität bieten kann?

Prof. Hillgruber: Allein die Rückkehr zum Recht kann die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft erhalten. Die Rückkehr zum Recht wird nicht einfach, weil das Vertrauen in die Verlässlichkeit des Rechts verloren gegangen ist. Wer soll etwa glauben, dass der Europäische Fiskalpakt (der „Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion – SKS-Vertrag“) vom 9.12.2011 strikt eingehalten wird, wenn schon die  weniger stringenten Maastricht-Kriterien beharrlich missachtet und eingeleitete Defizitverfahren im Sande verlaufen sind?

Die Verstetigung des  Rettungsschirms und seine vertragliche Absicherung bedeuten in Wahrheit keine Rückkehr zur Normalität des Rechts, sondern nur die Positivierung und Perpetuierung des das Recht der Normallage suspendierenden Ausnahmezustands.

Eine Rückkehr zum Recht kann nur eine Rückkehr zum ursprünglichen Verständnis der Währungsunion als einer auf Dauer der Stabilität verpflichteten und insbesondere Geldwertstabilität gewährleistenden Gemeinschaft sein und das heißt: eine Rückkehr zu uneingeschränkter haushälterischer Selbstverantwortung. Diese Selbstverantwortung aber, darin liegt meines Erachtens der stärkste Einwand gegen die Idee einer europäischen Wirtschaftsregierung, lässt sich nicht erzwingen, weder durch gegen Defizitsünder verhängte Geldbußen (Art. 126 Abs. 11 AEUV) – einem nackten Mann kann man bekanntlich nicht in die Tasche greifen – noch durch Beschneidung oder Entzug des Budgetrechts – dies kommt einer demokratischen Entmündigung gleich, die sich kein Volk gefallen lassen kann und wird. Daher vermag nur der Austritt oder Ausschluss von Staaten, die die Stabilitätskriterien längerfristig nicht zu erfüllen vermögen, – bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung einer Wiedereinstiegsoption – die Währungsunion im Übrigen als Stabilitätsgemeinschaft zu erhalten.

FreieWelt.net: Welche Alternativen zur „Rettungspolitik“ kann es geben? Würde nicht jede Abkehr von dieser Politik zu einer „Renationalisierung“ führen und die europäische Integration in Frage stellen?

Prof. Hillgruber: Man sollte hier kein Untergangsszenario zeichnen. Wenn ein Integrationsschritt sich als Fehler erwiesen haben sollte, darf eine „Renationalisierung“ eines Politikbereiches jedenfalls kein Tabu sein. Die Politik schließt dies zwar kategorisch aus; die sakral überhöhte Deutung des Integrationsprozesses als einer unumkehrbaren Fortschritts- und Heilsgeschichte steht dem entgegen; die Vernunft der Verträge aber ist größer. Sie lassen auch einen Rückverlagerung von Zuständigkeiten auf die Mitgliedstaaten zu (Art. 48 Abs. 2 S. 2 EUV). Die Verkleinerung oder gar Beendigung der Währungsunion, an der ja ohnehin nicht alle EU-Mitglieder partizipieren, wäre keineswegs das Ende der Europäischen Union. Vielmehr könnte gerade umgekehrt ein starrsinniges Festhalten an der Währungsunion (zumindest in ihrer jetzigen Zusammensetzung) um jeden Preis das europäische Projekt insgesamt nachhaltig diskreditieren und gefährden. Wer eine unhaltbar gewordene Position partout nicht räumen will, riskiert mehr als eine Niederlage, ein vollständiges Desaster.

FreieWelt.net: Warum insistieren Sie so auf den Souveränitätsrechten der nationalen Parlamente, ihrer Haushaltsautonomie? Spricht daraus nicht ein Verständnis souveräner Nationalstaatlichkeit, das angesichts der Erfolgsgeschichte der europäischen Integration längst überholt ist?

Prof. Hillgruber: Die europäische Identität kann nach meiner festen Überzeugung nur auf den nach wie vor starken nationalen Identitäten aufbauen, diese ergänzen und überwölben, aber nicht ersetzen. Wir müssen daher auch nach einem Bauplan für das vereinte Europa Ausschau halten, das sich mit den europäischen Nationalstaaten, den in  ihnen liegenden demokratischen Primärraumen und einer hier angesiedelten politischen Letztverantwortung verträgt und diese nicht ab- oder aufzulösen versucht. Der Ruf nach immer „mehr Europa“ geht in dieser schlichten Allgemeinheit in die Irre, bedarf vielmehr einer differenzierteren Betrachtung und Spezifizierung. Auch bei der europäischen Integration gilt: (Quantitativ) Weniger kann (qualitativ) mehr sein.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Hildegard Korn

Ich stimme den sehr differenzierten Aussagen von Prof. Hillgruber voll zu. Sie basieren auf zwei fundamentalen Prinzipien des Rechts, nämlich:
1. Pacta sunt servanda.
2. Der Zweck heiligt die Mittel nicht.
Ohne deren Beachtung geht die Grundlage zwischenmenschlicher Interaktion, das gegenseitige Vertrauen, verloren.
Griechenland hat von Anfang an den Pakt missachtet, indem es zum Zweck der Aufnahme seine finanziellen Unterlagen gefälscht hat. Der Beitritt Griechenlands zur EURO-Wirtschaftsgemeinschaft sollte deshalb für ungültig erklärt werden.

Gravatar: H.R. Vogt

Hillgruber :
“ein Austritt aus der Währungsunion müsste aber m.E. jedenfalls bei Wegfall der Geschäftsgrundlage möglich sein. Das wäre der Fall, wenn es zu einer erheblichen Umverteilung zwischen den Haushalten und damit den Steuerzahlern der Mitgliedstaaten käme und die Währungsunion damit Züge eines europaweiten Finanzausgleichs annähme, den die europäischen Verträge nicht vorgesehen haben und der deshalb auch nicht zu erwarten war.“
Aktuell erleben wir sogar wie de facto, mangels anderer Geldquellen, der €uro- Rettungsschirm auf die Ukraine ausgedehnt wird.
Die dafür verantwortlichen Politiker der GROKO werden sich ganz sicher nicht von einem Bonner Jura- Professor Hillguber stoppen lassen.

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