Interview mit Thomas Weber Teil 1

Londons „Schuld“ am Ersten Weltkrieg

In einem Aufsehen erregenden Essay behauptet der Historiker Thomas Weber: „Die Deutschen wissen es nicht – aber in ihrem Blick auf den Ersten Weltkrieg sind sie Goebbels späte Opfer. So ziehen wir aus dem Krieg die falschen politischen Schlüsse für Gegenwart und Zukunft.“ FreieWelt.net sprach mit dem streitbaren Historiker über die Lehren und Erfahrungen, die für das heutige Europa aus den beiden Weltkriegen zu ziehen sind; wie die Opfer zu ehren wären und sein Buch „Hitler – Mythos und Wahrheit“.

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 FreieWelt.net: In  Ihrem Beitrag heißt es:Wir sitzen immer noch Goebbels' Propaganda auf.“ Der ehemalige Chefkommentator und heutige Korrespondent für Politik und Gesellschaft der „Welt am Sonntag“, Alan Posener, hält Ihnen entgegen: „Die heutigen Deutschen alsOpferder Goebbelsschen Propaganda zu bezeichnendas ist nicht nur dégoutant, das ist Blödsinn. () Das kann nur jemand behaupten, der ohne Augen und Ohren durch die Welt geht und die erste Aufgabe des Historikers verrät: Sagen, wie es gewesen ist. Und zwar deshalb, weil er den Nationalismus rehabilitieren will.“ Für einen Historiker Ihres Ranges harter Tobak?

Thomas Weber: Na ja, bei Alan Posener kommt immer mal wieder der ehemalige Kader der Kommunistischen Partei Deutschland-Aufbauorganisation durch. Wenn die Schwaden seiner mit absurden Unterstellungen gefüllten Rauchbomben verzogen sind, kann man aber sehr gut mit ihm streiten, denn letztlich ist Posener dann doch eher in der britischen liberalen Debattenkultur als bei der KPD-AO zu Hause. Das haben wir letztens auch gemacht und haben festgestellt, dass wir in manchen Bereichen gar nicht so unterschiedliche Ansichten haben. Und natürlich sage ich, wie es gewesen ist: Es geht darum zu zeigen, ob die Essenz von Nationalstaaten wirklich zwangsweise ein überhöhter Nationalismus ist, dessen Entwicklungsdynamik mehr oder weniger unweigerlich zu Kriegen führt. Oder, ob Staaten, die auf nationaler Identität beruhen, nur in bestimmten Konstellationen ein Problem für internationale Sicherheit bedeutet. Anders ausgedrückt, es geht darum zu erklären, wieso z.B. seit 201 Jahren Frieden an der US-amerikanischen/kanadischen Grenze herrscht, während die Transformation von einem Europa von multiethnischen dynastischen Reichen zu modernen Nationalstaaten mit so viel Blutvergießen verbunden war.

FreieWelt.net: Sie fordern, dass „wir auch unsere eigenen Toten betrauern und ehren sollten, ohne sie deshalb als Helden zu glorifizieren.“ Geschieht das Ihrer Meinung nach nicht ausreichend? Und wo sehen Sie die Gefahren, diese „Trauerarbeit“ nicht zu leisten?

Thomas Weber: Nein, die Toten des Ersten Weltkriegs spielen in Deutschland so gut wie keine Rolle. Am 11. November, wenn das Leben Großbritanniens für kurze Zeit zum Erliegen kommt, um der Toten zu gedenken, bricht in Deutschland der Karneval aus. In Deutschland gibt es auch keine ‚Red Poppies’, die wie in Kanada oder Großbritannien im November an der Jacke getragen werden. Es ist bezeichnend und peinlich mit welcher Verachtung Joschka Fischer neulich dem Historiker Fritz Stern gegenüber über das Totengedenken unserer westlichen Nachbarn gesprochen hat. Und auch jetzt zum 100. Jahrestag des Krieges spielen die Toten des Krieges keine wesentliche Rolle. Alles dreht sich in Deutschland um eine Phantomkriegsschulddebatte, als ob jemand ernsthaft infrage stellen würde, dass Deutschland einen wesentlichen Anteil am Kriegsausbruch 1914 gehabt habe. Wenn wir auch ‚unsere eigenen’ Toten betrauern und ehren, setzen wir uns intensiv mit ihnen auseinander. Dadurch merken wir, dass sie uns selbst gar nicht so unähnlich sind. Auch werden wir merken, dass das Bild, welches wir uns bisher vom Ersten Weltkrieg gemacht haben, ungewollt viel zu sehr dem Bild auf den Leim geht, welches die NS-Propaganda vom Ersten Weltkrieg entworfen hat. Dadurch ziehen wir meiner Meinung nach die falschen Schlüsse aus dem Krieg und stoßen auch unseren europäischen Nachbarn vor den Kopf. Vor allem kennen wir uns selbst nicht, wenn wir uns nicht mit Emphathie auf unsere eigene Geschichte einlassen. Außerdem können die zwei Millionen Männer der Generation unserer Urgroßeltern, die nicht aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekommen sind, nichts für die schrecklichen deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkrieg.

FreieWelt.net: In Bezug auf die anstehende Europawahl erkennen Sie einen allgemeinen Konsens, nach dem „die Erfahrung beider Weltkriege lehre, dass nationale Identität zugunsten von Region und Europa aufzulösen sei.“ Sehen Sie dieses Aufgehen der Nationalitäten in ein EUROPA  und wäre das wirklich eine Gefahr?

Thomas Weber: Nein, ich sehe kein Aufgehen der Nationalitäten in ein Europa, denn dagegen gibt es europaweit und politische Lager übergreifend Widerstand. Die Gefahr sehe ich darin, dass zu viele Eliten in Deutschland und einige Eliten in Brüssel und anderswo meinen, dass die Erfahrung der beiden Weltkriege lehre, dass nationale Identität zugunsten von Region und Europa aufzulösen sei. Dies ist ein Problem aus zwei untrennbaren Gründen: zum einen erreichen deutsche und einige europäische Eliten mit diesem Argument nicht die Mehrheit der Europäer und zum anderen ziehen sie so die falsche Konsequenzen für weitere europäische Integration. Es geht meiner Meinung nach nicht darum, ob wir europäische Integration brauchen, sondern wieso wir sie brauchen, was für eine europäische Integration wir brauchen, wie wir sie bewerkstelligen und wie wir mehr Akzeptanz in der Bevölkerung für europäische Integration schaffen. Bei einer europaweiten EU-Zustimmung von weniger als 50 % kann ein ‚Augen zu und durch’ und ein ‚Weiter so’ nicht der richtige Weg sein.

FreieWelt.net: Die Überwindung der Nationalstaatlichkeiten durch eine weitere EUROPA-Entwicklung hieße Ihrer Meinung, die falschen politischen und gesellschaftlichen Lehren aus dem Weltkrieg zu ziehen. Welche wären dann die richtigen?

Thomas Weber: Es geht meiner Meinung nach darum, nationale Identitäten mit vollem Herzen in die europäische Integration einzubinden und nicht in absurder Angst davor zu leben, dass nationale Identität mehr oder weniger zwangsläufig zu einem Ende von Europa oder sogar zu neuen Kriegen führt. Wir haben dann die Wahl entweder in einem Europa der Vaterländer zu leben oder in einem Europa, welches Supranationalität und nationale Identitäten verbindet. Keine der beiden Alternativen wird zu Schrecken führen. Dennoch kämpfe ich eher für die zweite Variante, da wir Europäer im 21. Jahrhundert nur selbstbestimmt in unserem eigenen Haus wohnen können, wenn wir unser europäisches Haus weiterbauen. Gerade deshalb geht es mir aber darum, dass wir es auf einem soliden Fundament und nicht auf Sand bauen.

FreieWelt.net: In Ihrem Beitrag „Der Beginn vieler Schrecken“ heißt es: „Deutschland tut sich schwer mit dem öffentlichen Gedenken an den Beginn des Ersten Weltkriegs“. Das habe mit der in „Redaktionsstuben verbreiteten Weltsicht zu tun, Deutschland habe nicht nur den zweiten, sondern auch den ersten der beiden Weltkriege angezettelt. Bei manchen unserer europäischen Nachbarn verdichtet sich das heute zu dem Diktum, mit seiner Euro-Politik drohe Deutschland den Kontinent ein drittes Mal zu ruinieren.“ Sie halten diese Sicht nicht nur „für historisch falsch“ sondern auch für „politisch gefährlich“. Warum?

Thomas Weber: Politisch gefährlich wird es nur, wenn sich Deutschland auf diese Kritik einlässt. Wenn ich ein Minister aus einem reformresistenten Land wäre, würde ich doch das gleiche sagen, da es mir Deutschland gegenüber potentiell die Hand stärkt und dies leichter ist als schmerzhafte Reformen durchzuführen. Ich könnte auch davon ablenken, dass laut einer Pew-Umfrage zwei Drittel der Europäer bei der Euro-Politik hinter Deutschland steht oder mit welchen Opfern reformwillige Länder wie Spanien dabei sind, fit für die Zukunft zu werden. Oder wie großartig Polen und die baltischen Staaten sich nach schmerzhaften Reformen entwickelt haben.

Wenn wir uns aber auf diese Kritik einlassen, riskieren wir, dass wir ein Europa bauen, in dem wir uns alle ganz lieb haben, aber in dem wir, ohne noch zur Eigenverantwortlichkeit fähig zu sein, zum Spielball der Rest der Welt werden.

FreieWelt.net: Ihr Zitat: „Das Deutsche Reich war nicht schuld am Ersten Weltkrieg.(…) Erst der britische Kriegseintritt aber machte aus dem Ursprungskonflikt ein globales Desaster. “ – in dieser Eindeutigkeit bisher eher selten zu lesen. Der bereits eingangs zitierte Alan Posener wirft Ihnen allgemein vor, die „Geschichte (zu) verdrehen statt Geschichte (zu) verstehen.“ Darüber hinaus würden Sie „wie jeder Propagandist, dem die Botschaft wichtiger ist als die Wahrheit – vor der Quellenmanipulation nicht zurück schrecken“. Ist Ihre These nun ein wissenschaftliches Fazit oder eine eher eine polemische Spitze?

Thomas Weber: Hier sehen wir wieder unterhaltsame Knallerbsen des KPD-AO Kaders Posener. Natürlich ist unsere These eine Verknappung, die dem Genre eines Meinungsartikels, in dem man nicht unendlich viel Platz hat, geschuldet ist. Aber es ist eine Verknappung eines wissenschaftlichen Fazits. Genaugenommen haben Sie in Ihrer Frage zwei Aussagen von uns verknüpft. Die erste Aussage ist die, dass die Kategorie der ‚Schuld’ nicht in den internationalen Beziehungen der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg eine Rolle spielte. In unserem Originalzitat ist ‚schuld’ ja auch in Anführungsstriche gesetzt. Wir stellen ja nicht infrage, dass Deutschland einen wesentlichen Anteil der Verantwortung am Ausbruch des Ersten Weltkriegs trägt. Der zweite Teil unserer Aussage sagt doch nur, dass durch Entscheidungen in London aus einem europäischen ein globaler Konflikt wurde. Und dies ist doch eine These, die in der Wissenschaft mindestens seit Ende der 90er Jahre immer wieder diskutiert wird. Ich persönlich würde aber weniger auf die Rolle Großbritanniens in der Julikrise abheben, sondern auf die Rolle Großbritanniens darin, dass das internationale System in dem Jahrzehnt vor 1914 fragiler und volatiler geworden ist, also darin, dass es überhaupt zu einer Krise wie der Julikrise kommen konnte.

FreieWelt.net: Sie schreiben, dass "EU oder Krieg" die falsche Alternative wäre, die sich auch nicht aus der Geschichte der Weltkriege ableiten ließe. Wie würde die richtige Alternative lauten?

Thomas Weber: Die Alternative lautet: Wollen wir ein Europa schaffen, welches immer weniger öffentliche Zustimmung findet, ein Europa, welches Asiaten als ein Museum, aber nicht als ein Platz für Innovation besuchen, ein Europa, das stets das Gute will, aber an sich selbst zerbricht? Oder wollen wir ein Europa, welches in nationaler Vielfalt Einheit findet und selbstbestimmt im 21. Jahrhundert seine Souveränität behält. Die Alternative lautet auch: Wollen wir ein Europa, das quasi autistisch meint, dass die ganze Welt wie das Idealbild einer erweiterten EU funktioniert? Oder ein Europa, das sich den realpolitischen, multipolaren Realitäten unserer Zeit, ob wir sie nun mögen oder nicht, stellt? Hier geht es darum, was für eine Sicherheitsstrategie wir haben, welche Rolle ‚hard power’ spielt und wie wir eine werte- und stabilitätsgesteuerte Außenpolitik in Einklang bringen können.

FreieWelt.net: Ihre Meinung:Die Analyse der Julikrise lehrt uns, dass es heute wie damals keine zwingende Notwendigkeit für eine globale Katastrophe gibt.“ Trotzdem warnen Sie in Ihrem Beitrag in derEUROPEAN.EU:Auch daher ist die realpolitische Welt des Vorabends des Ersten Weltkriegs aktueller denn je.“ Stichwort: Krim. Wäre das wieder ein Anlass? 

Thomas Weber: Die Frage ist ‚ein Anlass wozu’? Ein Anlass zu einer katalytischen Katastrophe: wohl kaum. Was ist in der bisherigen Diskussion in der Öffentlichkeit zu 1914 und zu Analogien zu 1914 zu kurz gekommen ist, ist zu fragen, nicht wieso Krisen eskalieren und außer Kontrolle geraten können, sondern wieso die Julikrise eine katalytische gewesen ist, die das ganze System zum Einsturz gebracht hat. Es ging mir in meinem ‚European’-Beitrag darum, auf die multipolaren Strukturähnlichkeiten des internationalen Systems vor 1914 und der Gegenwart hinzuweisen und zu argumentieren, dass wir daher viel aus der Zeit vor 1914 für die Gegenwart lernen können.

Das heißt natürlich auch, dass Krisen aus der Kontrolle geraten können, was ja eine ganz banale Feststellung ist, aber nicht, dass ein Supergau des internationalen Systems wahrscheinlich ist. Viel mehr Sorge als ein Supergau bereitet mir eine schleichende Degeneration des internationalen Systems, auf die nicht reagiert wird, aber für die erst beispielsweise die Syrer, aber dann die ganze Welt bezahlen wird.

 

Thomas Weber, geboren 1974 in Hagen, studierte Geschichte, Anglistik und Jura an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Modern History in Oxford. Nach Stationen als Dozent u.a. in Harvard, Princeton und Chicago lehrt er heute Europäische und Internationale Geschichte. Zuletzt erschien: „Hitlers erster Krieg: Der Gefreite Hitler im Weltkrieg – Mythos und Wahrheit“ (List-Verlag).  In  „Die Welt“ folgten weitere Beiträge zur Schuld-Debatte zum 100jährigen Gedenken an den Beginn des Ersten Weltkriegs von Dominik Geppert, Sönke Neitzel und Cora Stephan. Thomas Weber lebt und unterrichtet in Aberdeen.

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