Interview mit Dr. Rita Knobel-Ulrich

Hartz IV: »Eigennützigkeit in der gesamten Armutsindustrie«

Die Journalistin Dr. Rita Knobel-Ulrich hat recherchiert, wie eine ganze »Armutsindustrie« vom Hartz IV-System in Deutschland profitiert. Im Interview mit FreieWelt.net spricht sie über die »unheilige Allianz zwischen Leistungsbezieher und Unternehmer« und plädiert für ein Umdenken: »Wir verteilen ständig Fische, statt Angeln. Man muss den Leuten zeigen, wie eine Angel funktioniert und sie nicht ständig mit Unmengen von Fischen in Geschenkpapier überschütten«.

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FreieWelt.net: Entgegen sonstigen Gepflogenheiten, möchte ich gerne zuerst auf die Reaktionen zu Ihrem Buch und dann erst auf die Arbeit selber eingehen. Reaktionen wie: „Die soll aufpassen dass sie nicht irgend wann mal wegen Volksverhetzung angezeigt wird. Im Dritten Reich wäre die garantiert gut und gerne KZ-Aufseherin gewesen“. Haben Sie mit derart, mitunter auch wirklich persönlichen Reaktionen gerechnet?

Dr.Knobel-Ulrich: Nein. Zunächst überhaupt nicht. Aber schnell wurde dann an den Zuschriften klar, warum das so ist. Für viele Menschen ist die Arbeitslosigkeit die Katastrophe schlechthin. Diese Menschen fühlen sich ohnehin gedemütigt. Und wenn ich dann komme und sage: es gibt auch Leute, die sich in ihrer Situation eingerichtet haben, kann die Wut schon schnell überhand nehmen. Mitunter kommen meine Differenzierungen bei den Menschen nicht an. Die Wut ist dann manchmal schon groß. Es sind aber oft einfach nur Ideologen, die es schlichtweg für eine Frechheit halten, dass ich sage, man muss erst einmal sehen, sich selbst zu ernähren, bevor man nach dem Staat ruft.

FreieWelt.net: Sie schildern in Ihrem Buch Eindrücke von Begegnungen in Jobcentern und Bildungsträgern, haben Tafeln und Suppenküchen besucht. Nach welchem Prinzip haben Sie diese Orte ausgewählt?

Dr.Knobel-Ulrich: Es gibt ja Tausende dieser Einrichtungen. Ich habe journalistisch sorgfältig recherchiert. Und wenn ich Näh- oder Puzzlekurse in Hamburg besuche, dann steht das pars pro toto. Das gibt es dann auch in München oder Stuttgart. Die Bildungsträger arbeiten in ihren Filialen nach dem gleichen Muster.

FreieWelt.net: Nach Ihrer Erkenntnis existieren wahre „Fürsorgekonzerne“. Schließlich zitieren Sie Herrn Sell, Professor für Volkswirtschaftslehre, mit den Worten: „Was wir machen, ist zum großen Teil Schrott“. Steht ein politischer Wille hinter diesem System?

Dr.Knobel-Ulrich: Meiner Erfahrung nach gibt es tatsächlich die Bestrebungen, möglichst viele Arbeitslose in Maßnahmen zu halten, weil diese dann nicht in den Arbeitslosenstatistiken auftauchen. So kann ein signifikanter Rückgang der Arbeitslosigkeit behauptet werden. Abgesehen davon treffen wir hier auch auf einen gewissen Lobbyismus. Wenn jemand aus den Sozialunternehmen in den Bundestag bzw. in ein Ministerium wechselt oder umgekehrt, kommt es zu Verschränkungen, die wieder den Boden für unsere Fürsorglichkeitsindustrie bereiten. Wir finden hier teilweise identische Personen, die die Beschlüsse fassen und in deren Firmen diese gut bezahlten Hilfsmaßnahmen dann umgesetzt werden.

FreieWelt.net: Nach Ihren Recherchen sind 35 Prozent aller Bundestagsabgeordneten auch als Manager eines Sozialunternehmens tätig. Damit, so Ihre Einschätzung, würde der „Wohlfahrtsstaat eine riesige Hilfsindustrie alimentieren“.

Dr.Knobel-Ulrich: Eine gewisse Eigennützigkeit ist in der gesamten Armutsindustrie anzutreffen. Wenn z.B. die Manager des Paritätischen Wohlfahrtverbandes den Begriff der Armutsbedrohung propagieren, dann sicherlich auch mit einem gewissen Hintersinn. Im nächsten Schritt wird dann ein Heer von Kümmerern, Sozialarbeitern und profitablen Kursen angeboten.

FreieWelt.net: Mit fast 120.000 Beschäftigten ist die Arbeitsagentur einer der größten Arbeitgeber des Bundes. Hinzu kommen etwa 40 000 Bildungsträger und gewerkschaftliche sowie auch arbeitgebereigene Fortbildungs- und Umschulungseinrichtungen. Sie sprechen von „einer Art Sozialkartell“.

Dr.Knobel-Ulrich: Es ist doch kein Geheimnis, dass von einem Heer an Arbeitslosen auch ein Heer von Kümmerern lebt. Das trifft nicht nur auf die Arbeitsagentur zu, sondern auch auf Wohlfahrtsverbände, Diakonie und die Bildungskurse – ein riesiges Heer, das sich um scheinbar Arme und Bedürftige kümmert, ohne genau zu wissen, wer wirklich Hilfe benötigt. Und ob diese Hilfe dann auch eine Hilfe zur Selbsthilfe ist. Wir verteilen ständig Fische, statt Angeln. Man muss den Leuten zeigen, wie eine Angel funktioniert und sie nicht ständig mit Unmengen von Fischen in Geschenkpapier überschütten.

FreieWelt.net: Ihrer Erfahrung nach hat sich eine nicht unbedeutende Anzahl von Arbeitslosen – natürlich nicht alle – mit Hartz IV gut eingerichtet. Worin sehen die Ursachen für diese Entwicklung?

Dr.Knobel-Ulrich: Der Regelsatz ist zwar nur eine Grundsicherung, aber es gibt doch viele Möglichkeiten, das System zu umgehen. So können monatlich 100 Euro hinzu verdient werden. Das unschlagbare Modell sieht so aus, dass man sich für die Summe anstellen lässt und so vor jeder Schwarzarbeit-Überprüfung sicher ist. Kein Mensch kontrolliert, ob das auch tatsächlich stimmt oder hier diese unheilige Allianz zwischen Leistungsbezieher und Unternehmer eingegangen wurde, bei der einer Schwarzgeld kassiert und der andere keine Sozialabgaben abführt. Aus diesem System erwächst unserer Gesellschaft allerdings auch noch ein weiteres, großen Problem. Da keine Sozialabgaben gezahlt werden, stehen diese Menschen jetzt schon mit einem Bein in der Altersarmut. Sie wissen es bloß noch nicht.

FreieWelt.net: Häufig ist zu lesen, es gebe verstärkt Kinderarmut in Großstädten und bei Familien von Hartz IV-Empfängern. Können Ihre Recherchen das bestätigen? Und würde es helfen, wenn diese Familien eine höhere Unterstützung erhalten würden?

Dr.Knobel-Ulrich: Eindeutig – nein. Nach meiner Beurteilung nicht. Ich bin in vielen Familien gewesen, wo Papa, Mama, Oma und Kinder von Hartz IV lebten. Väter haben mir erzählt, dass sie vom Kindergeld mitleben. Ich habe häufig den Eindruck gewonnen, dass die Geldzahlungen nicht bei den Kindern ankommen. Meiner Meinung nach müsste man viel mehr Intensität, Kraft, Zeit und Geld darauf verwenden, die Kinder aus solchen Familien rauszuholen, indem man z.B. flächendeckend viel mehr Freizeitangebote für Kinder macht.

FreieWelt.net: Ihre Forderung: „Wenn auffällt, dass Menschen, einem Lebensstandard frönen, der mit Hartz IV nicht zu vereinbaren ist, dann sollte der Sache nachgegangen werden“. Halten Sie eine solche Forderung für wirklich umsetzbar?

Dr.Knobel-Ulrich: Ich denke nicht, dass dies wirklich umsetzbar ist. Allein durch unseren sehr starken Datenschutz. Wenn schon eine Abfrage von der Zollkontrolle Schwarzarbeit beim Jobcenter nicht möglich ist. Schon gar nicht möglich ist der Abgleich, der in Berlin Neukölln versucht wurde, als auffällig wurde, das viele Hartz IV-Empfänger zwar das Schulgeld oder Klassenreisen nicht bezahlen und Anträge für die Kostenreduzierung von Unterrichtsmitteln stellen, aber mit riesen Autos durch die Stadt fahren.

FreieWelt.net: Sollte die Grundsicherung immer an eine Gegenleistung geknüpft werden?

Dr.Knobel-Ulrich: Ja, unbedingt. Die Erfahrungen zeigen bei den Langzeitarbeitslosen, dass man Menschen in Bewegung bringen muss. Es ist durchaus verständlich, dass man aus verschiedensten Gründen wie fehlenden Qualifikationen oder weil es andere persönliche Probleme gibt, nicht alle sofort in den ersten Arbeitsmarkt bringen kann. Aber etwas, das der Gesellschaft zugute kommt, kann jeder. Ehrenamtliche Tätigkeiten in einem Verein, oder Einkäufe für Senioren erledigen. Aber das jemand das Gefühl hat, er könnte zu Hause rumsitzen und muss lediglich alle sechs Wochen zu einem ritualisierten Gespräch aufs Amt und könne davon leben, das kann so nicht in Ordnung sein.

FreieWelt.net: In Ihrem Buch stellen Sie die Frage:„Warum könnten die Kunden nicht vor die Alternative gestellt werden, entweder mitzuziehen oder auf den monatlichen Scheck des Jobcenters zu verzichten?“. Haben Sie bisher eine Antwort erhalten?

Dr.Knobel-Ulrich: Nein. Natürlich nicht. Hier heißt es nur: „Wir sind an die geltenden Gesetze gebunden und darauf kann sich jeder berufen“. Diese Vorraussetzungen halte ich für völlig falsch.

FreieWelt.net: Als eine europäische Alternative wird das „Modell Holland“ mit großer Sympathie dargestellt. Ließe sich das in Deutschland auch umsetzen.

Dr.Knobel-Ulrich: Bei uns ist festzustellen, dass es die starke Lobby derjenigen gibt, die sofort aufheulen, wenn z.B. gemeinnützige Arbeit verlangt wird. Auch soll es würdelos sein, Menschen unter ihrer eigentlichen Qualifikation einzusetzen. Bei unseren Nachbarn in Holland gibt es da einen ganz anderen gesellschaftlichen Konsens. Die niederländischen Jobcenter setzen konsequent den »Work-First«-Ansatz um. Die Antragsteller melden sich also bei den Vermittlern und werden von ihnen direkt zu einer Stellenvermittlung geschickt. Jobs, die sofort angetreten werden können, werden dort vorgestellt. Wer so einen nicht ausüben kann – sei es aufgrund von Krankheit oder der familiären Situation –, muss eine Fortbildung oder ein Praktikum absolvieren. Sogenannte Werkacademien sind wiederum Anlaufstellen, wo Arbeitslose motiviert und »trainiert« werden, um ihre Integrationschancen zu verbessern. Bei allen gilt: erst Arbeiten, dann das Geld. In vielen Orten ist es Pflicht, sich spätestens zwei Tage nach der Antragstellung bei den Stellenvermittlern zu melden und eine Tätigkeit aufzunehmen, in der eine bestimmte Anzahl von Wochenstunden gearbeitet werden muss. Wer sich weigert, bekommt ganz einfach die Hilfe gekürzt. Das ist eine Strategie, die ich mir auch für Deutschland wünschen würde.

FreieWelt.net: Danke für das Gespräch.

Das Interview führte Jo von Bahls

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: Penthesilea

Wer sich weigert, eine Stelle anzunehmen, der bekommt auch in Deutschland die Unterstützung gekürzt. (Wenn es sich nicht gerade um eine Stelle mit sittenwidrig niedrigem Lohn von 1,50 Euro handelt.) Das Problem scheint zu sein, genügend Stellen zu finden.

Das widerum könnte daran liegen, dass Deutschlands Politiker - oder Deutschlands Maschmeyers mit zuviel Einfluss auf Politiker - das Ziel haben, möglichst viele Bereiche des Lebens zu privatisieren. Wenn der Staat Arbeitslose für gemeinnützige Zwecke einsetzt, stört das solche Bestrebungen nur.

Gravatar: Szabó István

Wie wäre es wenn die liebe autorin mal selber ein jahr lang auf "hartzfear"ginge und dann schriebe?(vorausgesetzt sie hat noch kraft ,geld fürs papier undsoweiter undsoweiter)

Gravatar: FreeSpeech

Danke für den Link
Jetzt ist mir auch schlecht...

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