Interview Axel Schmidt-Gödelitz

Erfolgreich im Abbau von Vorurteilen

In diesem Jahr ist die deutsche Wiedervereinigung genau 25 Jahre her. Doch Differenzen zwischen Ost und West sind immer noch da. Auf Gut Gödelitz treffen sich regelmäßig Menschen aus beiden Teilen Deutschlands, um sich näher zu kommen. FreieWelt.net sprach mit dem Gründer des Ost-West-Forums Axel Schmidt-Gödelitz.

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FreieWelt.net: Wie kamen Sie auf die Idee, das Ost-West-Forum zu gründen?

Axel Schmidt-Gödelitz: Das hat mit der Wiedervereinigung zu tun. Am Anfang gab es eine große Euphorie in Ost- und Westdeutschland. Dann aber folgte die Enttäuschung. Im Osten hat vor allem die Massenarbeitslosigkeit zu diesem Umschwung beigetragen. Hinter diesem Stimmungsumschwung stand aber noch etwas anderes: Wir sind in verschiedenen Gesellschaftssystemen aufgewachsen, die uns prägten – ob wir das jeweilige System mochten oder eben ablehnten. Wir entdeckten, dass wir uns fremd waren.

Die Idee war nun dieses mangelnde Wissen über das Leben der anderen durch sogenannte Biografie- Gespräche zu überbrücken. Das war die Grundidee, aus welcher das Ost-West-Forum gegründet wurde.

Etwas anderes kam hinzu: Meine Familie hatte 1991 das nahe Dresden liegende Gut Gödelitz von der Treuhand zurückgekauft. Mein Großvater hatte es 1906 gekauft und zu einem Mustergut ausgebaut. Später übernahm es mein Vater. 1945 wurde es enteignet, weil es über 100 Hektar groß war. 1990 konnten wir es mit einigem Glück zurückkaufen. In der Treuhandanstalt saßen Leute, die das fruchtbare Land bereits in eigene Hände bringen wollten.

Ich wusste natürlich, dass Menschen wie wir, die aus dem Westen kamen, wenn wir zurückkehren, als eine Art Junker angesehen wurden. Junker waren aus der DDR-Sicht etwas ganz Schlimmes. Das wurde den Kindern schon im Kindergarten beigebracht. Wir mussten also bei unserer Rückkehr darauf achten, diesem Zerrbild auf keinen Fall zu entsprechen, uns ganz vorsichtig „einzufädeln“, wie unsere Mutter zu sagen pflegte. Sie war bei ihrer Rückkehr auf das Gut 77 Jahre alt, schlief auf einem Feldbett, ringsherum große Schrotthaufen. Sie war eine wunderbare Frau, die sehr schnell von allen Menschen, mit denen sie zu tun hatte, geliebt und verehrt wurde. Das hatte Gründe: Sie wollte, dass wir alle über die Gründe nachdenken, die zur Enteignung des Gutes, die zum Nationalsozialismus und zum Krieg führten. Zudem war sie eine strikte Gegnerin von Rache in jeder Form. „Kommunisten fallen doch nicht vom Himmel“, sagte sie immer, „sie sind das Produkt einer ungerechten Gesellschaft“. Und diese Ungerechtigkeiten seien in der heutigen Gesellschaft schon wieder erkennbar. Heute, 23 Jahre später, ist dieses Abrutschen noch sehr viel deutlicher geworden. Das war der zweite Grund, warum wir das Ost-West-Forum 1998, nachdem wir das Gut wieder mit großer Mühe aufgebaut hatten, gründeten.

Ich habe mit kleinen Veranstaltungen angefangen, die jeden Monat liefen. Diese wurden immer mehr und mehr. Ich wusste dabei, dass ich es erstens nicht parteipolitisch machen würde. Das ist ein einsam gelegenes Gut. Da müssen die Leute lange fahren, bevor sie dort sind. Zweitens wusste ich, ich muss Themen nehmen, die auch wirklich diese Gesellschaft berühren. Drittens, ich würde nur Leute nehmen, die exzellent sind. Viertens, wir haben kein Geld, die werden alle nicht bezahlt. Das habe ich bis zum heutigen Tage durchgehalten. Wenn Sie sich mal die Liste durchlesen, wer da alles geredet hat, das ist wirklich das „Who is Who“ von Deutschland. Ab einem bestimmten Punkt einer solchen Liste ist es so, dass man auch auf dieser Liste stehen möchte.

Es ist im Grunde der Versuch, dass es uns nicht wieder passiert. Jeder, der einmal seinen Kopf in ein Geschichtsbuch gesteckt hat und einigermaßen intelligent ist, wird merken, dass alle gesellschaftlichen Katastrophen eine lange Inkubationszeit hatten. Dabei baute sich in einer Gesellschaft etwas auf und dies geschah nicht ohne Warnsignale, die systematisch übersehen wurden. Wer die Warnsignale erkannte, wurde als Schwarzseher abgetan. Ich tue es nicht ab. Ich sehe, dass diese Gesellschaft in vielen Bereichen schlecht funktioniert und wir ein tägliches, für viele unmerkliches Rutschen nach unten haben. Das ist der Grund, warum ich diese acht Projekte, die ich mache, ins Leben gerufen habe. Bei der Friedrich-Ebert-Stiftung hatte ich viele Leute. Dies hier mache ich hingegen mit ganz wenigen. Gott sei Dank gibt es das Internet, welches mir ganz viele ersetzt. Alle sind mit Begeisterung dabei. Alle sind ohne Geld dabei – mit ganz wenigen Ausnahmen. Sekretärinnen müssen beispielsweise bezahlt werden. Die Leute machen dennoch mit viel Überzeugung und Begeisterung mit.

FreieWelt.net: Wo sehen Sie dieses Abrutschen der Gesellschaft heutzutage am deutlichsten?

Axel Schmidt-Gödelitz: Das sehe ich darin, dass die neoliberale Wirtschaftstheorie sich wie ein Gift in unserer Gesellschaft und der Weltgesellschaft verbreitet. Es handelt sich hierbei um ein zerstörerisches Gift, was den inneren Frieden dieser Gesellschaft trifft.

Warum? Erstens, weil der Markt an absolut erster Stelle steht. Das heißt, derjenige, der sich auf dem Markt bewährt, ist der Starke und dem Starken gehört immer mehr. Wettbewerb ist alles, Solidarität mit dem Schwachen wird immer geringer. Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit erleben wir eine Spaltung der Gesellschaft in arm und reich. Allein in dem immer noch sozialen Deutschland besitzen zehn Prozent der Bevölkerung über 60 Prozent des gesamten Vermögens. Und diese Spreizung setzt sich fort. Die Löhne bleiben zurück, die Steuern für die Vermögenden sind so gering, dass sie das Verhältnis nicht verändern. Hinzu kommt eine massive Steuerhinterziehung. Das auf rund fünf Billionen Euro geschätzte Netto-Geldvermögen der reichsten Deutschen fließt fast gar nicht in den Binnenmarkt. Hinzu kommt außerdem, dass es der Realwirtschaft kaum zugutekommt, sondern spekulativ eingesetzt wird – was zu weiteren Krisen führen wird.

Der Staat wird finanziell ausgehungert, er ist bereits mit 2,1 Billionen Euro verschuldet. Er zieht sich immer weiter zurück, ist gezwungen sein Tafelsilber zu verkaufen: Sozialwohnungen, Energie, Wasser, Post, Verkehrsmittel und so weiter – Privatisierung ist das große Schlagwort. Die jahrelange Deregulierung der Finanzmärkte kommt außerdem hinzu. Sie wieder zu bändigen, gelingt der Politik offensichtlich nicht.

Als ich in Ihrem Alter war, konnte man nicht mit einem Sack Geld über die Grenze ins Ausland gehen. Da wurde man kontrolliert. Der Nationalstaat hatte echte Kontrollmöglichkeiten. Heute machen Sie einen Mausklick und Sie haben zwei Milliarden irgendwohin überwiesen. Das geht ganz schnell. Die Kanzlerin sagt, wir brauchen eine marktgerechte Demokratie und wir müssen aufpassen, dass wir die Reichen nicht verscheuchen. Sollten dennoch Steuern erhöht werden – macht es „Klick“ und weg ist das Geld – und damit, das wird unterstellt, auch eine große Anzahl von Arbeitsplätzen. Das Ergebnis: Der Nationalstaat allein ist weitgehend zahnlos gegenüber den Finanzmärkten. Was hat das Ganze für Konsequenzen?

Zum einen: Der alte Spruch, „Gewinne werden privatisiert, Verluste vergesellschaftet“, hat sich auch dieses Mal wieder als richtig herausgestellt. Darüber hinaus kann sich der Staat vieles nicht mehr leisten oder setzt einfach falsche Prioritäten: Die zehn Prozent der Vermögenden werden sich mit dem geringeren Angebot des Staates nicht mehr zufrieden geben. Sie schaffen sich ihre eigenen Bereiche. Eine weitere Spaltung schält sich heraus: Private Kindergärten, private Schulen, private Universitäten. Die staatlichen Einrichtungen sind dann für den Rest der Bevölkerung. Die Schulen sehen teilweise furchtbar aus und die Lehrer sind zu alt. 4,7 Prozent unseres Bruttoinlandproduktes werden für Bildung ausgegeben. Wer das zulässt, dem fehlt Verstand, denn ohne eine exzellente Bildung haben wir keine Zukunft. Das Gleiche haben wir im Gesundheitssystem. Das spaltet sich genauso. Der eine bekommt alles, was gut und teuer ist, wird von den meisten Arztpraxen schneller behandelt und liegt in Einzelzimmern. Ähnliches ist im Bereich der öffentlichen Sicherheit zu beobachten. Weniger Polizei bedeutet, dass sich die gefährdeten Villenbesitzer im Zweifelsfall private Sicherheitsfirmen bestellen, die ihr Gebiet bestreifen. Dann sollen die Einbrecher woanders klauen. Das nenne ich eine Spaltung der Gesellschaft in vielen Bereichen.

Dann gibt es auch noch einen letzten Punkt, der mir große Sorge bereitet: Wenn also zehn Prozent der Bevölkerung 60 Prozent des Vermögens besitzen – und es wird immer mehr – während sich 90 Prozent mit dem Rest begnügen muss, dann ist das natürlich ein bisschen gefährlich. Schließlich leben wir in einer Demokratie, wo die Mehrheit entscheidet. Also muss man zusehen, dass man diese Mehrheit so weit manipuliert, dass da keine falschen Wahlergebnisse herauskommen – auch nicht im Parlament. Daran arbeitet ein Heer von Lobbyisten. Allein in Berlin sollen es um die 5.000 sein. In Brüssel spricht man von 20.000. Das sind gut ausgebildete Leute, die mit reichlich Mitteln ausgestattet sind und sehr wirksame Netzwerke aufbauen. Aber auch Medien – Zeitungen, Radio- und TV-Stationen – nehmen im Zweifelsfall entsprechenden Einfluss auf politisch wichtige Entscheidungen. Im Internet ist man auch vertreten. Man kauft sich Werbefirmen, die Briefe schreiben, als wären sie vom Nachbarn Meyer. Wir alle wissen, wie das funktioniert.

Als nächstes – und da arbeiten wir alle aufgrund unserer Steuern mit – gründen sie Stiftungen. Die Bertelsmann-Stiftung ist beispielsweise ein Staat im Staat. Diese Stiftung hat eine neoliberale Grundeinstellung und auf das gesamte Gebiet von Bildung und Forschung hat sie großen Einfluss. Und wir reden noch nicht von den Parteispenden, der Möglichkeit von Abgeordnetenbestechung und der sogenannten Drehtür, durch die hohe Politiker aus dem Amt direkt in die Wirtschaft spazieren – auf bestens honorierte Posten. Der ehemalige Kanzler Schröder ist ein besonders widerwärtiges Beispiel. Auch das nenne ich Niedergang einer Gesellschaft, in der Moral oder „Das macht man nicht!“ kaum noch existieren. Wir vom Ost-West-Forum haben daraus die Konsequenzen gezogen und 2011 die „Werte-Akademie für junge Führungseliten“ ins Leben gerufen. Wir werden der gegenwärtig vorherrschenden Funktionselite eine Werte-Elite entgegensetzen, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist. Elite heißt: Vorbild sein, Werte vorleben – und das können der Vorstandsvorsitzende, die Lehrerin oder der Handwerksmeister sein.

FreieWelt.net: Welches sind die Hauptprojekte des Ost-West-Forums?

Axel Schmidt-Gödelitz: Es sind im Grunde zwei Projekte. Die Werte-Akademie ist eine große Säule. Die zweite sind die Biografie-Veranstaltungen. Dazu gehören die deutsch-deutschen Biografien. Es gibt zwischen Ost und West einfach noch immense Vorurteile. Es gibt kein Projekt, das bestätigen mir auch Gehirnforscher, wo sie innerhalb eines Wochenendes so viele Vorurteile, die teilweise tief verwurzelt sind, wirklich herausreißen können. Warum? Weil hier Kognitives und Emotionales zusammenfließt. Die Lebensgeschichten sind teilweise sehr emotional, aber gleichzeitig ist es auch eine Art Geschichtsunterricht. Wir lernen den großen Strom der Geschichte in der Schule. Die Menschen in der DDR haben Geschichte eher „von unten“ gelernt, wir im Westen eher von oben. Aber diese geschichtlichen Ströme werden natürlich gespeist von den vielen kleinen, individuellen Bächlein, von den vielen individuellen Leben. Was da berichtet wird, ist oft sehr berührend. Am Ende verlassen Sie diese Biografie-Gespräche und sind in vielen Bereichen ein veränderter Mensch.

Die deutsch-deutschen Biografie-Gespräche waren und sind ein großer Erfolg. Man lernt nicht nur sehr viel über das Leben des Anderen, es ist auch ein Lehrstück für Toleranz. Toleranz bedeutet ja nicht Beliebigkeit, sondern Ertragen, also andere Meinungen zu ertragen. Dazu gehört auch eine andere als die übliche Gesprächs-Unkultur. Das bedeutet: Genau zuzuhören, testen, ob da nicht auch ein Stück Wahrheit verborgen ist, sich mal in die Schuhe des Anderen zu stellen, auch wenn sein Leben einem fremd oder gar befremdlich ist und es mit einer gewissen Empathie begleiten. Das ist es, was am Ende enorm nachwirken wird.

Dieses Gödelitzer Modell der Biografie-Gespräche ist etwas, was wir überall hin exportieren. Ende des Monats machen wir das in Polen. Die Gespräche finden auch zwischen Deutschen und Russen und zwischen Deutschen und Türkeistämmigen statt. Diese bieten wir mittlerweile in 17 Städten der Bundesrepublik an. Auch in Korea und demnächst in der Schweiz. Wir sind dabei, sie zu einem europäischen Projekt auszuweiten, weil diese einfach so erfolgreich im Abbau von Vorurteilen sind.

Das ist das, was wir im Wesentlichen machen und damit sind wir auch gut ausgebucht. Diese Projekte wollen wir alle europaweit machen. Wir sind momentan dabei Anträge zu stellen. Das ist aber alles ein wenig kompliziert, aber wir kriegen das hin, wie wir alles bis jetzt hinbekommen haben.

FreieWelt.net: Wo denken Sie ist der Dialog zwischen Ost und West mehr zu fördern – in Deutschland oder in Europa?

Axel Schmidt-Gödelitz: Nötig ist der Dialog überall. In Deutschland ist die innere Einheit längst nicht erreicht. Die Kluft ist noch da, aber sie ist stummer geworden. Menschen die behaupten, die Deutschen seien nun vereinigt und da gäbe es nichts mehr zu tun, haben einfach keine Ahnung. Ich habe fünf Jahre in Ost-Berlin in unserer Ständigen Vertretung gearbeitet und das Innenleben dieses Staates genau kennen gelernt. Ich habe über 3.000 Menschen aus Ost und West ein ganzes Wochenende zugehört. Und ich bin mit einer Ostdeutschen verheiratet. Ich weiß wirklich, wovon ich rede. Und Europa? Es wäre überall nötig, überall nisten Vorurteile zwischen Einheimischen und Migranten, zwischen verschiedenen Ethnien oder Glaubensrichtungen. Gewiss, in Europa wird man eher noch den Eindruck haben, dass etwas getan werden muss. In Deutschland hingegen meinen viele – je weiter sie im Süden wohnen, desto mehr – dass die Sache gelaufen ist.

Jedes Jahr kommt eine Regierungsdelegation aus Südkorea auf das Gut zu einem Seminar unter der Überschrift: Was kann Korea aus der Wiedervereinigung Deutschlands lernen? Gelernt haben sie vor allem, dass dies nicht nur ein technisch-ökonomisches, verwaltungsmäßiges Problem ist, sondern dass es vor allem um Menschen geht. Dass Millionen von Menschen auf sie zukommen, die in einem System aufgewachsen sind, wo ihnen kurz nach ihrer Geburt schon beigebracht wurde, was richtig und was falsch ist. Dies zieht sich durch ihren gesamten Erziehungsprozess – seien es die Eltern, die Lehrer, die Vorgesetzten oder der Staat. Permanent, von morgens bis abends. Und plötzlich kippt das System und alles, was gestern richtig war, ist heute falsch oder gar kriminell. Und wenn das den „Siegern“ nicht bewusst ist und sie mit den Neubürgern nicht sehr vorsichtig umgehen, werden sie große Probleme bekommen. Deswegen habe ich den Südkoreanern empfohlen, sich schon heute mit Flüchtlingen aus Nordkorea zu Biografie-Gesprächen zusammenzusetzen, damit, wenn es einmal zu einer Wiedervereinigung kommt, sie bereits diesen wichtigen Erfahrungsschatz haben, der sofort auf den Norden übertragen werden kann.

FreieWelt.net: Wie haben Sie persönlich die Wiedervereinigung erlebt?

Axel Schmidt-Gödelitz (lacht): Die habe ich in Peking erlebt. Ich war in einem Hotel, in der Lobby und da war eine Traube von Menschen, die völlig gebannt auf einen Fernsehapparat starrten. Ich kauerte nieder und versuchte zwischen den Beinen der dicht gedrängt Stehenden einen Blick auf den Schirm zu erhaschen. Und ich sah Menschen auf der Berliner Mauer herumstehen. Ich dachte zuerst, das sei nur wieder so ein Spielfilm, eine Vision, wie die Wiedervereinigung aussehen könnte. Dann traf ich einen Engländer und dieser sagte, „Axel, was Du da siehst, ist Realität. Die Mauer ist gefallen.“

Das dauert natürlich eine Weile, bis man das realisiert hat. Und ich weiß noch, ich wohnte in einem Haus, wo sich unten das ZDF-Büro befand. Dort reinigte gerade ein Kameramann seine Kamera. Ich sagte zu ihm: „Die Mauer ist gefallen.“ Er putzte weiter, regte sich gar nicht. Ich sagte, „Sagst du nichts dazu? Die Mauer ist gefallen!“ Da drehte er sich um und sagte, „Ich finde nicht, dass du darüber Witze machen solltest.“ Ich sagte zu ihm, „Mach den Fernseher an! Mach ihn an!“ Dann saß er vor dem Fernseher und heulte Rotz und Wasser. Später erfuhr ich, dass er unter Lebensgefahr aus der DDR geflohen war. Aber geweint haben selbst Chinesen. Die halbe Welt hat geweint.

Ich wollte daraufhin so schnell wie möglich nach Berlin zurückkehren. Vor Monaten hatte ich als Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung erlebt, wie die Protestbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens gewaltsam unterdrückt wurde. Ich wollte mit den dafür Verantwortliche nichts mehr zu tun haben – bei dieser neuen Lage in Deutschland dabei zu sein, das war mir jetzt am allerwichtigsten.

FreieWelt.net: Ihre Eltern sind damals auch geflüchtet. Wie war das für Sie?

Axel Schmidt-Gödelitz: Das war direkt nach Kriegsende. Unser Vater war 1944 eingezogen worden, unsere Mutter hatte die Leitung des Gutes übernommen. Das Gut war damals mit seinen Hochzuchten sehr profitabel. Gödelitzer Zucht-Schafböcke, die bis nach Südafrika exportiert wurden, kosteten um die 16.000 Reichsmark, für einen neuen Volkswagen mussten 1.000 Reichsmark bezahlt werden. Ein Gödelitzer Schafbock hatte also den Wert von 16 VWs. Das Gut wurde dann – wie alle Güter über 100 Hektar – entschädigungslos enteignet. Der Besitz wurde aber nicht aufgeteilt, sondern als Staatsgut weitergeführt.

Gödelitz züchtete Schafe, Rinder und Schweine – aber auch verschiedene Pflanzensorten. Das alles war sehr kompliziert und daher haben die neuen Herrschaften unsere Mutter angewiesen, sie einzuarbeiten. Das dauerte bis Weihnachten 1945, wobei unsere Mutter hoffte, bleiben zu dürfen. Aber sie wurde dann doch mit uns vier Kindern in einen anderen Kreis ausgewiesen. Dort wurden ihr fünf Hektar Land zugewiesen, die sie zu bearbeiten hatte. Sie war eine kleine, energische Frau, die auch diese neue Aufgabe schaffte. Allerdings hatte sie sich an bestimmte Regeln nicht gehalten – sie hatte nachts heimlich unsere Großmutter in Gödelitz besucht. Sie wurde verraten, per Haftbefehl gesucht und wir schafften es mit der Hilfe guter Freunde, über die Grenze in den Westen zu fliehen.

FreieWelt.net: Wie wird man Mitglied in Ihrem Verein und was kann jeder Einzelne tun, um Ost und West wieder mehr zusammenzuführen?

Axel Schmidt-Gödelitz: Mitglied werden ist ganz einfach. Man kann sich im Internet unter www.ost-west-forum.de den Antrag herunterladen oder man kann uns schreiben, „Schicken Sie uns einen Antrag.“ Als Mitglied betragen die Kosten fünf Euro im Monat. Diese fünf Euro kann sich fast jeder erlauben. Das macht mal eine Mittagsmahlzeit weniger.

Mitarbeiten kann man in der Werteakademie oder bei unseren anderen Projekten. Wir bilden beispielsweise Moderatorinnen und Moderatoren für unsere Biografie-Arbeit aus. Wir suchen junge Menschen, die in der Werte-Akademie mitwirken wollen. Wir sind dabei, Unterschriftenkampagnen zu organisieren – ich würde beispielsweise gerne ein soziales Pflichtjahr einführen. Für jene, die das freiwillig machen, wäre es kein Problem. Es geht mir um die anderen, die nur ihr Ego, nur ihre Karriere im Sinn haben und für die gesellschaftlichen Pflichten einfach nicht existieren. Es wäre eine wichtige Erfahrung für diese jungen Menschen, vielleicht würde ihnen ein Stück soziale Kompetenz für ihr späteres Leben guttun. Ich denke, eine Menge Menschen würden uns in dieser Zielsetzung unterstützen.

All dies beruht auf ehrenamtlicher Arbeit. Das ist ein Privileg.

FreieWelt.net: Vielen Dank für das Gespräch.

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Kommentare zum Artikel

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Gravatar: H.von Bugenhagen

Na ist denn das...
Aus Erfahrung kann ich nur sagen,alle aus dem Osten möchten im Westen arbeiten und wohnen,aber einer aus dem Westen wird im Osten nur gemobbt.Selbst im Westen in Firmen mit Ostarbeitern werden die aus dem Westen von oben herab behandelt...Deshalb immer noch die Mauer in den Köpfen.Da ist der Osten selber schuld!!!

Gravatar: Thomas Rießler

Dass es nach wie vor große Differenzen zwischen Ossis und Wessis gibt und dass dies mit dem Aufwachsen in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen zusammenhängt, ist auch mein Eindruck. Damit endet aber auch meine Zustimmung zu den Ansichten von Herrn Schmidt-Gödelitz.
Vorab bemerkt: Es ist absurd, dass ein von den Kommunisten Zwangsenteigneter seinen ehemaligen Besitz zurückkauft und dann auch noch mit schlechtem Gewissen auf seinen Grundbesitz fährt, um einen Kotau vor den Ossis zu machen, um nur ja nicht deren Vorurteile bezüglich des bourgeoisen Klassenfeindes zu bedienen, mit denen diese in 40 Jahren SED-Diktatur indoktriniert wurden.
Und generell: Was ist denn das für ein Verständnis des Eigentumsrechts und der Demokratie: „Dann gibt es auch noch einen letzten Punkt, der mir große Sorge bereitet: Wenn also zehn Prozent der Bevölkerung 60 Prozent des Vermögens besitzen – und es wird immer mehr – während sich 90 Prozent mit dem Rest begnügen muss, dann ist das natürlich ein bisschen gefährlich. Schließlich leben wir in einer Demokratie, wo die Mehrheit entscheidet.“? In einer rechtsstaatlichen Demokratie ist es durchaus legitim, dass es Vermögensunterschiede gibt. Die Mehrheit hat kein Recht, per demokratischen Entscheid, vermögenden Menschen ihr Eigentum wegzunehmen und an die Bedürftigen zu verteilen. Bei uns gibt es gewisse Grundrechte, die außerhalb der demokratischen Kontrolle liegen und das Recht auf Eigentum gehört dazu. Ungleich verteiltes Eigentum wäre lediglich dann ein Problem, wenn Teile der Bevölkerung soweit verarmen würden, dass sie kein menschenwürdiges Dasein fristen könnten. Dass man auf Basis dieser sozialdemokratischen Ansichten einen Dialog mit den Ossis führen kann, ist selbstverständlich. Damit bedient man ja schließlich all die Denkmuster, die ihnen in der SED-Diktatur eingebläut wurden.
Damit aber noch nicht genug. Der Wandel des Herrn Schmidt-Gödelitz vom „Kommunistenhasser“ zum Ossi-Versteher wird auch in einem wohlwollenden Artikel in Neues Deutschland erwähnt : „DDR-Biografien wurden abgewertet, die ostdeutsche Elite abgewickelt, Menschen auf die Straße gesetzt. In Sachsen werfen ostdeutsche Landespolitiker sogar DDR und NS-Zeit in einen Topf. Schmidt-Gödelitz hebt die Hände. Er will nichts beschönigen. Aber »wer Rot gleich Braun setzt, der verwechselt Aktenberge mit Leichenbergen«, sagt er.“ (http://www.neues-deutschland.de/artikel/144381.der-gut-s-mensch-und-die-graswurzeln.html). In der DDR gab es nicht nur Aktenberge, sondern auch jede Menge politischer Häftlinge, letztlich war das ganze Volk (außer den Linientreuen) in der Ostzone eingesperrt. Aber „beschönigen“ will Herr Schmidt-Gödelitz natürlich nichts.
Mit einer derartigen Verharmlosung der SED-Diktatur ist letztlich auch den Ossis nicht gedient. Damit wird den Linientreuen und SED-Unterstützern unter ihnen ja geradezu verunmöglicht, ein Schuldbewusstsein für den Freiheitsentzug, die Gehirnwäsche und die Gängelung eines ganzen Volkes zu entwickeln. An der Aufarbeitung dieser unbequemen Wahrheiten führt kein Weg vorbei, auch wenn es die Mehrzahl der Ossis nicht hören will und die Botschaft von der Schuld bei der Mehrzahl von ihnen eher zur Verstockung als zur Buße führt.

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