Prof. Herwig Birg Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik

Demographie: Politik und Medien verschließen die Augen

Interview mit Professor Herwig Birg

Professor Herwig Birg ist Volkswirt und Demograph. Er hatte von 1981 bis 2004 den Lehrstuhl für Bevölkerungs-wissenschaft an der Universität Bielefeld inne und war Geschäftsführender Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik (IBS) der Universität Bielefeld. Er ist Mitglied zahlreicher nationaler und internationaler wissenschaftlicher Organisationen und gilt als einer der bedeutendsten Demographen Deutschlands. Herwig Birg lebt und arbeitet in Berlin, wo er für die Wirtschaft, Verbände und öffentliche Auftraggeber beratend tätig ist und Forschungsarbeiten und Vorträge durchführt.

FreieWelt.net sprach mit Professor Herwig Birg über demographisches Problembewußtsein in Deutschland, zukünftige demographische Herausforderungen und daraus zu ziehende politische Konsequenzen.

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FreieWelt.net: Professor Birg, Sie haben oft geklagt über die jahrzehntelange Ignoranz gegenüber jeglicher demographischen Expertise durch die verantwortlichen Politiker. Wodurch war Ihrer Meinung nach die „demographische Blindheit“ in Politik und öffentlichem Bewußtsein bedingt?

Prof. Herwig Birg:
In hochentwickelten Ländern wie Deutschland lassen sich die demographischen Veränderungen so zusammenfassen: 1. Die Bevölkerung schrumpft, 2. sie altert, 3. die Integration hält mit dem steigenden Anteil der Zugewanderten nicht Schritt.- Mit solchen Fakten und ihren Folgen lassen sich in einer unaufgeklärten Gesellschaft weder Wähler gewinnen noch können die Medien ihre Quoten erhöhen. Politik und Medien sind keineswegs blind auf dem demographischen Auge, sie verschließen die Augen.

FreieWelt.net: Noch heute wird oft und gern mit Schlagworten wie „Alarmismus“ auf demographische Expertisen reagiert. Demographen neigen eben zur Dramatisierung, heißt es dann. Auf der anderen Seite hört man manchmal auch den Vorwurf, die Demographen selbst würden sich in der Beratung stärker zurückhalten, als vielleicht notwendig wäre. Welche dieser beiden Sichtweisen entspricht Ihrer Meinung nach eher der Wahrheit?

Prof. Herwig Birg:
Nur wenn die Feuermelder ständig Fehlmeldungen von sich geben, kann man sie des Alarmismus bezichtigen. Die negativen Vorausberechnungen der Demographen treten jedoch mit großer Genauigkeit ein. Die demographischen Veränderungen sind alarmierend, weil als Folge davon die Verfassung permanent verletzt wird. Dazu schweigen die selbsternannten Verfassungspatrioten. Es ist für sie einfacher, den Demographen Alarmismus vorzuwerfen oder sie einer völkischen Gesinnung zu verdächtigen. Auch der Vorwurf bezüglich eines angeblichen Beratungsdefizits ist unsinnig. Die Demographen haben im Auftrag der Politik schon seit den 70iger Jahren auf Bundes,- Landes- und Kommunalebene zahllose Expertisen erstellt. Ihr Inhalt blieb in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Im Übrigen wurde die Bringschuld der Wissenschaft gegenüber der Öffentlichkeit von den Demographen in zahllosen Kongressen, Veröffentlichungen und Aufrufen erbracht.

FreieWelt.net: Seit einigen Jahren zeichnet sich eine Änderung in der Problemwahrnehmung von Politik und Öffentlichkeit ab. Der Begriff vom „demographischen Wandel“ ist in aller Munde, es gibt Demographiebeauftragte auf Landesebene und in den Kommunen und es entstanden neue Institutionen, in denen demographische Wissenschaft betrieben wird, etwa das Max-Planck-Institut für demographische Forschung in Rostock. Doch glaubt man einer Ihrer jüngsten Publikationen, ist es bereits „30 Jahre nach 12“. Kommt der Bewußtseinswandel also zu spät?

Prof. Herwig Birg:
So lange die Öffentlichkeit glaubt, daß sich das Problem der Alterung in Deutschland durch die  Einwanderung Jüngerer lösen ließe oder daß die Bevölkerungsschrumpfung in Deutschland die positive Eigenschaft habe, das weltweite Bevölkerungswachstum auszugleichen oder der Umwelt zugute zu kommen, kann man nicht von einem Bewußtseinswandel sprechen. Die Leute glauben auch dran, daß man die Bevölkerungsschrumpfung jederzeit wieder anhalten könne, wenn man es für gut hält. Es ist so, als glaubte man daran, daß die Erde eine Scheibe ist und die Sonne sich um die Erde dreht. Demographisches Wissen ist in der Öffentlichkeit nach wie vor unbekannt, das hindert nicht, daß Demographie jetzt ein Modethema ist.

FreieWelt.net: Auf welche demographisch bedingten Veränderungen der Gesellschaft müssen wir uns in naher Zukunft einstellen?

Prof. Herwig Birg:
Die Gesellschaft spaltet sich in Gruppen mit demographisch bedingt zunehmenden Interessengegensätzen. In aller Munde sind die Interessenkonflikte zwischen den Generationen. Hinzu kommt ein Interessengegensatz innerhalb jeder Generation, nämlich zwischen Menschen mit und ohne Kinder. Denn Menschen ohne Kinder werden vom umlagefinanzierten sozialen Sicherungssystem mitversorgt, also von den Kindern anderer Menschen unterstützt, und zwar ohne ausreichende Gegenleistung. Ferner gibt es in Deutschland Städte und Regionen mit Bevölkerungswachstum trotz eigener Geburtendefizite, und zwar zu Lasten der Gebiete mit Abwanderungen. Schließlich spaltet sich die Gesellschaft in zugewanderte und nicht zugewanderte Bevölkerungsgruppen mit drastisch unterschiedlichen Lebensbedingungen. Zu alledem kommen die schon spürbaren negativen Auswirkungen der Bevölkerungsschrumpfung auf das Wirtschaftswachstum und den Wohlstand.

FreieWelt.net: Der Geburtenrückgang in Deutschland und Europa hat vielfältige Ursachen. Welche sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten?

Prof. Herwig Birg:
Kinder zu haben bedeutet, sich im Lebenslauf langfristig festzulegen und viele andere Optionen zu verlieren. Das mag tugendhaft und erstrebenswert sein, aber die Tugend der absoluten Verläßlichkeit und persönlichen Bindung verträgt sich nicht mit der von der Gesellschaft und Wirtschaft geforderten Tugend der Mobilität, Flexibilität und ständigen Anpassungsbereitschaft an den Arbeitsmarkt. In einer ständigen Veränderungen unterworfenen Welt sind lebenslange Festlegungen im Lebenslauf in Form von Kindern und Partnerbindungen riskant, sie werden von der Wirtschaft bestraft. Die Geburtenrate in Deutschland sinkt ja nicht erst seit vier Jahrzehnten, sondern schon seit dem 19. Jahrhundert. Jetzt muß endlich gegengesteuert werden, indem ein neues Prinzip eingeführt wird:  Bei der Besetzung von Arbeitsplätzen sollten unter gleich qualifizierten Bewerbern diejenigen Vorrang haben, die Kinder erziehen oder durch Pflegeleistungen Familienlasten tragen.  Dies würde auch dem Gleichheitsprinzip unserer Verfassung besser entsprechen.

FreieWelt.net: Sollte es der Politik ausschließlich darum gehen, die Geburtenrate mit allen Mitteln nach oben zu treiben oder wie kann Deutschland Ihrer Meinung nach die kommenden demographischen Herausforderungen am besten bewältigen?

Prof. Herwig Birg:
Auf die Dauer kann kein Land den eigenen Nachwuchs durch Einwanderungen aus anderen Ländern kompensieren. Deshalb muß die Politik langfristig zu einer höheren Geburtenrate zurückkehren, aber natürlich nicht „um jeden Preis“. Vom Staat erkaufte oder finanziell erpreßte Geburten wären natürlich unakzeptabel. Der Mensch wird nach einem berühmten Wort des Erasmus von Rotterdam nicht geboren, sondern erzogen. 

FreieWelt.net: Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Familienpolitik der Großen Koalition in der zur Neige gehenden aktuellen Legislaturperiode, die sich explizit die Erhöhung der Geburtenrate zum Ziel gesetzt hatte?

Prof. Herwig Birg:
Die Familienministerin hat sich mit ihrer Behauptung einer Trendwende in der Geburtenentwicklung einen Bärendienst erwiesen. Mit ihrer Propaganda widerspricht sie der amtlichen Statistik. Die amtliche Statistik zeigt, daß die Wirkungen der neuen familienpolitischen Maßnahmen auf die Geburtenrate praktisch gleich Null sind. Die Kinderzahl pro Frau stieg von 2006 auf 2007 nur von 1,34 auf 1,37. Solche Schwankungen zwei Stellen hinter dem Komma sind normal, sie werden schon seit vierzig Jahren ständig beobachtet.

FreieWelt.net: Demographie bleibt ein Dauerbrenner, auch international. Bereits Johann Peter Süßmilch, einer der Stammväter der Demographie, hatte die Tragfähigkeit der Erde bei 7 Milliarden Menschen gesehen. Diese Zahl wird wohl in den nächsten beiden Jahrzehnten erreicht oder sogar überschritten werden. Welchen Beitrag kann die Demographie als Wissenschaft zur Bewältigung der globalen demographischen Herausforderungen leisten?

Prof. Herwig Birg:
Unser Begriff der Tragfähigkeit der Erde stammt aus dem 1741 in Berlin erschienen bahnbrechenden Werk von Süßmilch. Damals lebten auf der Erde weiniger als eine Milliarde Menschen, heute sind es 6,8 Milliarden. Süßmilch hat seine ersten Berechnungen später revidiert. Sein endgültiges Ergebnis war eine Tragfähigkeit der Erde von 14 Milliarden Menschen. Diese Zahl wird mit großer Wahrscheinlichkeit nicht erreicht, denn die Geburtenrate der Weltbevölkerung hat sich in den letzten 50 Jahren halbiert, sie beträgt heute nur noch 2,6 Kinder pro Frau und sinkt weiter. Ab 2040 wird sie die bestandserhaltende Zahl von 2,1 Lebendgeborenen pro Frau wahrscheinlich permanent unterschreiten. Trotzdem wächst die Weltbevölkerung dann noch bis etwa 2070 auf rd. 9,5 Milliarden weiter, danach beginnt die neue Phase der Weltbevölkerungsschrumpfung. In Deutschland hat die Schrumpfung bereits 1972 begonnen, und trotzdem gibt es immer noch Umweltprobleme. Dies beruht darauf, daß Demographie, Ökonomie und Ökologie untrennbar miteinander verbunden sind, und zwar in jedem der 180 Länder der Welt auf eigene Weise. Als interdisziplinäre Wissenschaft versucht die Demographie die einzelnen Wissensgebiete zu bündeln. Wer Umwelt- und Entwicklungsprobleme lösen will, muß demographisches Wissen einbeziehen.

Zur Internetpräsenz von Prof. Herwig Birg: herwig-birg.de

Das Interview führte Christoph Kramer.

Foto: Prof. Herwig Birg

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