Heinz Buschkowsky Bezirksbügermeister Berlin-Neukölln

"Ausgeprägtes Handlungsdefizit" - Heinz Buschkowsky im Interview

Heinz Buschkowsky (SPD) ist seit 2001 Bezirksbürgermeister des Berliner Bezirks Neukölln.  Er war einer der ersten Politiker, der Probleme in der Integrationspolitik öffentlich thematisiert hat und erlangte so bundesweite Bekanntheit.  FreieWelt.net sprach mit Heinz Buschkowsky über seine Arbeit und die Entwicklung von Neukölln.

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FreieWelt.net: Der Berliner Bezirk Neukölln ist mittlerweile bundesweit als Problemviertel bekannt.  Zu
Recht?


Heinz Buschkowsky: Nun halten wir mal den Ball etwas flacher. Neukölln ist ein bunter und schillernder Bezirk mit ganz viel Tradition und Geschichte. Kommen Sie einmal mit ins Böhmische Dorf, in den Körnerpark, den Britzer Garten, in das Schloss Britz oder das Gutshofensemble. Wir können in Neukölln auch gern die beste Las-Vegas-Show außerhalb der USA genießen. Noch viel mehr gäbe es über das ganz normale Neukölln zu berichten. Richtig ist aber auch, dass es starke soziale Gegensätze gibt und Nord-Neukölln mit seinen 160.000 Einwohnern zu Recht als sozialer Brennpunkt bezeichnet wird. Der Anteil der Migranten an der Bevölkerung liegt dort heute bereits bei 55 Prozent und der überwiegende Teil davon entstammt den bildungsfernen Schichten der Herkunftsländer.

FreieWelt.net: In Neukölln leben über 300.000 Menschen aus 162 Nationen auf engem Raum zusammen. Was vor allem müssen diese Menschen tun und was muss die Politik tun, damit man von einer gelungenen Integration sprechen kann?

Heinz Buschkowsky: In 10 Jahren werden Menschen mit Migrationshintergrund in Neukölln Nord einen Bevölkerungsanteil von 75 bis 80 % stellen. Aber es ist nun einmal nicht so, dass alle Migranten sich liebhaben und nur die Deutschen stören. Im Gegenteil, es gibt scharfe Abgrenzungen und teilweise richtig heftige Auseinandersetzungen zwischen den Ethnien und Kulturkreisen. Es ist daher die Aufgabe der Politik von heute, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Neukölln eben auch in 10 Jahren noch eine Großstadt ist, in der die Menschen nach den mitteleuropäischen Zivilisationsregeln miteinander umgehen. Das heißt konkret, wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen die Regeln verstehen, akzeptieren und für sich adaptieren. Denn wenn jeder nur die tradierten Rollen und Riten der Heimat konserviert, dann wird das friedliche Miteinander hier nicht funktionieren.

FreieWelt.net: Sie haben vor fünf Jahren Multikulti für gescheitert erklärt.  Sehen Sie das heute noch genauso und wenn ja, woran ist es gescheitert?

Heinz Buschkowsky: Der Multikulti-Traum, es kommen viele Kulturen an einem Ort zusammen und aus dieser ethnischen Vielfalt werde sich eine neue multikulturelle Gesellschaft mit guten und mündigen Bürgern und einem neuen gemeinsamen kulturellen Leitbild entwickeln, ist Sozialromantik: lieb, aber lebensfremd. Das Schlimme ist nur, dass diese fast glaubensartige Wunschvorstellung der Gutmenschen als Alibi dafür herhalten musste, dass eine engagierte und an den Realitäten des Lebens orientierte Integrationspolitik weder formuliert noch praktisch entwickelt wurde. Hinzu kam, dass konservative gesellschaftliche Kräfte sich schlichtweg weigerten, Deutschland als Einwanderungsland zur Kenntnis zu nehmen.

Die gehen sowieso wieder nach Hause, wozu also Integrationspolitik? Das war die schlichte, dafür in ihrer Wirkung so fatale Lebenslüge und die Ursache für den Scherbenhaufen, vor dem wir heute stehen. Alle Probleme, die wir jetzt als neue Erkenntnisse beklagen, hat der frühere Ministerpräsident von NRW Heinz Kühn als erster Ausländerbeauftragter der Bundesregierung bereits 1979 benannt. Geschehen ist dennoch nichts. Gesellschaft und Politik waren träge, gleichgültig bis hin zur Gedankenlosigkeit oder einfach nur ideologisch verblendet.

FreieWelt.net: Was würden Sie sich von der Bundes- und von der Landespolitik wünschen, damit Sie als Bezirksbürgermeister erfolgreiche Arbeit leisten können?

Heinz Buschkowsky: Auch wenn es nicht wirklich zum Mainstream der Politik gehört, die Dinge klar beim Namen zu nennen, so bestreitet heute keiner mehr ernsthaft, dass wir ein Integrationsproblem und einen Aufwuchs der Subkulturen in den Stadtlagen haben. Wir haben also keinen Erkenntnismangel, dafür aber ein ausgeprägtes Handlungsdefizit. Letzteres überspielen wir durch Gipfelleien, Seminarübungen, semantische Muskelspiele und Schönreden. Abducken und Wegschauen hat aber noch nie ein Problem gelöst. Daher meine konkrete Forderung, dass einer Bildungspolitik der Weg geebnet werden muss, die sich an den Defiziten der Eltern orientiert. Dort, wo Eltern zur Gefahr ihrer Kinder werden, hat die Gesellschaft zu intervenieren. Sie muss sich, wenn nötig, bei der Wertevermittlung auch an die Stelle der Eltern setzen.

Im Klartext: Krippenausbau, Kindergartenpflicht mindestens für das letzte Jahr vor der Einschulung, Ganztagsschulen als Regelangebot und Erweiterung der Professionen in den Schulen, die über die reine Lehrstoffvermittlung hinaus auch die Funktion einer wichtigen Sozialisationsinstanz haben. Finanziert werden kann dies durch einen Paradigmenwechsel bei der Familienförderung. Bei uns gilt der Grundsatz der finanziellen Unterstützung der Eltern in der Annahme, dass das Geld tatsächlich den Kindern zugute kommt. Wir wissen jedoch, dass das in nicht wenigen Fällen schlichtweg ein Irrglaube ist. Das Geld versickert im Konsumverhalten erziehungsüberforderter Eltern oder in Statussymbolen. Andere Länder hingegen investieren direkt in die Infrastruktur der Kinder, also in Vorschulerziehung, Schulen, Klassengrößen und in die Schüler-Lehrerrelation bis hin zur Essensversorgung. Obwohl Deutschland absolut das meiste Geld für die Familienpolitik ausgibt, liegt es in punkto Effizienz und Nachhaltigkeit an drittletzter Stelle aller OSCD-Staaten.

Aber nicht nur in den Angeboten ist ein Umdenken erforderlich. Eine selbstbewusste Gesellschaft muss ihre Werte auch offensiv vertreten und durchsetzen. Das bedeutet, Repression in den Fällen, wo Integrationsverweigerung Platz ergreift, die Spielregeln des gesellschaftlichen Miteinanders nicht akzeptiert werden und sich die Integrationsbereitschaft nur auf die Adaption des Sozialsystems und die Ausschöpfung der Rechte beschränkt. Geschlechtergerechtigkeit, Gewaltfreiheit auch in der Familie und gleiche Bildungschancen für Jungen und Mädchen dürfen im Kontext der Grundrechte nicht verhandelbar sein. Die Schulpflicht ist keine unverbindliche Empfehlung. Unter der Überschrift „Kommt das Kind nicht in die Schule, kommt das Kindergeld nicht auf das Konto“, muss deutlich gemacht und verstanden werden, das gesellschaftliche Leistungen mit der Erwartung einer Gegenleistung verbunden sind. Gesetze und Vorschriften, die keine Sanktionsklausel enthalten, beeindrucken manche Menschen nicht sehr. Und für einfache Menschen ist der Konjunktiv der Deutschen Sprache  nicht immer begreifbar. Und je bunter die Mischung ist, desto klarer müssen daher auch die Regeln sein.

FreieWelt.net:  Sie setzen sich unter anderem für die „Kindergartenpflicht für alle“ ein.  Sehen Sie darin nicht einen massiven Eingriff in die Rechte der Eltern und handelt es sich dabei nicht um eine Kollektivmaßnahme, die alle für das Versagen Einzelner bestraft?  Zudem kann die Schulpflicht Probleme wie mangelnde Sprachkenntnisse, Kriminalität und Verwahrlosung offenbar nicht lösen, wieso sollte die Kindergartenpflicht dies können?

Heinz Buschkowsky: Natürlich ist die Kindergartenpflicht ein Eingriff in die Rechte der Eltern. Auch die Schulpflicht ist quasi eine staatlich normierte Freiheitsberaubung. Wir leben aber nun einmal nicht als Individuum im freien Raum. Selbst wenn es nur zwei Menschen auf der Erde gäbe, wäre sie schon zu klein, denn jeder hätte ja nur die Hälfte. Freiheit ist nicht grenzenlos, sondern die kommunizierende Röhre zur Sicherheit. Die Gesellschaft entwickelt Regeln, die das Zusammenleben der Menschen gestalten, und hierfür auch die Normen über Mindeststandards einer demokratischen und solidarischen Gesellschaft. Hierzu gehören das Sozialsystem sowie das Gesundheits- und Bildungswesen. Insofern halte ich es für die Pflicht der Gesellschaft, darauf zu achten, dass insbesondere den Schwachen Chancengleichheit widerfährt. Hierzu zählen insbesondere die Kinder. Die Rechte nach Artikel 6 enden da, wo das Kindeswohl gefährdet und die Zukunft der Kinder durch die Eltern aufs Spiel gesetzt wird. Der Gleichheitsgrundsatz gebietet, dass Regeln nicht willkürlich sein dürfen.

Wenn Kinder mit rudimentären oder gar keinen Sprachkenntnissen eingeschult werden, ist die Bildungs- und Schullaufbahn fast schon entscheidend negativ geprägt. Die individualitätsprägende Sozialisation erfolgt bereits im frühkindlichen Stadion. Deshalb ist eine Kindergartenpflicht so wichtig. Im Übrigen schadet der Kindergarten keinem Kind, auch nicht wenn im Elternhaus sonntags Hausmusik gemacht wird.

FreieWelt.net: Was war bisher Ihr größter Erfolg als Bürgermeister?

Heinz Buschkowsky: Mein größter Erfolg ist die Stimulanz einer an den konkreten Lebensbedingungen der Menschen in Neukölln orientierten Integrationspolitik in unserer Stadt. Wir als Bezirk haben Grenzen in unserem Aufgabenbereich und bei den wirklich wichtigen Punkten keine Regelungsbefugnis. Aber das, was in unserer Macht steht, geschieht.

FreieWelt.net: Sie sind Neuköllner von Geburt an.  Was lieben Sie an Ihrem Bezirk am meisten?
 
Heinz Buschkowsky: Neukölln ist bunt, jung, unübersichtlich, abwechslungsreich, folkloristisch, spannend, nervend, schillernd, ätzend, schön und hässlich, kurzum: einfach lebendig und liebenswert. Bürgermeister von Schlafstädten haben es schlechter als ich.

Das Interview führte Fabian Heinzel

(Foto: Heinz Buschkowsky)

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