Prof. Hans Herbert von Arnim Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

60 Jahre Demokratiemängel - Interview mit Hans Herbert von Arnim

Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim lehrt als pensionierte Universitätsprofessor an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer und ist Mitglied des dortigen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung.
Freie Welt.Net sprach mit Prof. von Arnim über die Defizite des Grundgesetzes und die Mängel der Demokratie in Deutschland.

Lesen Sie heute den ersten Teil des großen Interviews.

Veröffentlicht:
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FreieWelt.Net: Professor von Arnim, in ihrem neuesten Aufsatz sprechen Sie von den Demokratiemängeln in Deutschland in der Zeit von 1949 bist heute.

Prof. von Arnim:
Politiker und Medien kommen zum 60. Geburtstag des Grundgesetzes nur allzu gern in Festtagslaune und streichen die Sternstunden der zweiten deutschen Republik heraus. Ich möchte dagegen auf die Schattenseiten unserer Demokratie eingehen, die neben den vollmundigen Erfolgsmeldungen in aller Regel ausgeblendet werden. Diese andere Seite unserer Geschichte zu betonen scheint mir legitim. Manchen wird meine Kritik vielleicht zu hart erscheinen. Aber schon das Sprichwort sagt: Ist die Rute verbogen, kann man sie nur richten, indem man sie nach der anderen Seite biegt. Um die Demokratie, also die „Herrschaft des Volkes, durch das Volk und für das Volk“ (Abraham Lincoln); ist es in Deutschland schlecht bestellt.

FreieWelt.Net: Welche Ursachen sehen Sie dafür?

Prof. von Arnim: Das hängt mit der Entstehungsgeschichte unseres Grundgesetzes zusammen, aber auch mit der Entwicklung danach. Dies möchte ich - statt der bei uns üblichen Sicht der Herrschenden und ihrer Wortführer - aus der Perspektive der Bürger darstellen, die in einer Demokratie eigentlich maßgeblich sein sollte. Drei Faktoren haben die Haltung des Parlamentarischen Rates wesentlich mitbestimmt, als er 1948/49 das Grundgesetz konzipierte: die politische Lage, die relevanten Akteure und das herrschende Vorverständnis. Die politische Lage war durch das niedergedrückte Selbstbewusstsein der Menschen nach dem militärischen und politischen Zusammenbruch, durch die Teilung Deutschlands und den Ausbruch des kalten Krieges gekennzeichnet, dessen Frontlinie Deutschland zerschnitt und es in die sowjetische und drei westliche Besatzungszonen aufspaltete.
Ein Hauptakteur war natürlich der Parlamentarische Rat selbst. Auch die Ministerpräsidenten der Bundesländer, die schon bald nach dem Zusammenbruch inthronisiert worden waren, übten erheblichen Einfluss auf den Inhalt des Grundgesetzes aus. Wichtige nichtdeutsche Akteure waren die drei westlichen Besatzungsmächte. Sie dekretierten den Erlass des Grundgesetzes, nahmen Einfluss auf seinen Inhalt und stellten sein Inkrafttreten unter den Vorbehalt ihrer Genehmigung.
Das Vorverständnis des Rats war von einem gewaltigen Misstrauen gegenüber dem Volk beherrscht, das Hitler zugejubelt hatte und das man erst zur Demokratie erziehen müsse. Der spätere Bundespräsident Theodor Heuss verglich das Volk in den Beratungen gar mit einem bissigen Hund, vor dem man sich hüten müsse (Heuss: „cave canem“). Waren es aber nicht die Parteien, die am 23. 3. 1933 im Reichstag mit großer Mehrheit das Ermächtigungsgesetz beschlossen und so Adolf Hitler die unumschränkte Herrschaft übertragen hatten? Und hatte Heuss nicht selbst für das Ermächtigungsgesetz gestimmt? Drängt sich dann nicht die Frage auf, ob die verächtliche Äußerung über das Volk nicht vielleicht auch aus der psychischen Verdrängung der eigenen früheren Verantwortung resultiert?
Die Kehrseite der Verteufelung des Volkes war eine gezielte Hervorhebung der Parteien. Sie entsprang ebenfalls der Reaktion auf Weimar, nämlich der damaligen Parteienverachtung, die ihren Gipfel in der vernichtenden Parteien- und Parlamentarismuskritik eines Carl Schmitt gefunden hatte. Die 61 Väter und vier Mütter des Grundgesetzes verankerten die Parteien deshalb - erstmals in der deutschen Geschichte - in einer Verfassung.
Und noch ein drittes Element prägte die Befindlichkeit des Parlamentarischen Rates: Seine Mitglieder waren in der Aufbruchstimmung nach Überwindung der Nazidiktatur von Idealen und Gemeinsinn erfüllt und glaubten, diese auch bei späteren Politikergenerationen voraussetzen zu können. Das ganze Grundgesetz atmet die Pflicht von Amtsträgern, ihre Macht nur im Sinne des Gemeinwohls zu gebrauchen, eine Pflicht, die auch im Amtseid von Bundespräsidenten, Kanzlern und Ministern zum Ausdruck kommt. Sie alle schwören bei Amtsantritt feierlich, ihre ganze Kraft „dem Wohle des deutschen Volkes“ zu widmen, „seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden“.
Viele Inhalte und auch Defizite des Grundgesetzes kann man ziemlich genau auf die genannten drei Faktoren zurückführen.

FreieWelt.Net: Wurde deshalb auf die „Verfassungsgebung durch das Volk“ verzichtet?

Prof. von Arnim: Die deutsche Teilung und der Oktroi der Besatzungsmächte veranlassten den Parlamentarischen Rat, die Bezeichnung „Verfassung“ zu vermeiden und nur von „Grundgesetz“ zu sprechen, das er als bloßes Provisorium verstand. Später - nach der erhofften Wiedervereinigung - sollte ihm die erforderliche demokratische Legitimation gegeben werden. Das kam auch in der Präambel und in Art. 146 GG zum Ausdruck.
Auf das Misstrauen gegenüber den Bürgern geht es zurück, dass die Mitglieder des Parlamentarischen Rates nicht vom Volk für diese Aufgabe gewählt wurden, sondern von den Parlamenten der westlichen Bundesländer, bei deren Wahl der Erlass des Grundgesetzes aber noch gar nicht zur Debatte gestanden hatte. Auch der vom Rat ausgearbeitete Grundgesetzentwurf wurde dem Volk nicht zur Abstimmung vorgelegt. Eine solche Volksabstimmung hatten die Besatzungsmächte zwar zunächst verlangt. In westlichen Demokratien gelten seit jeher nur solche Verfassungen als anerkennenswerte Grundlage des Gemeinwesens, die sich das Volk selbst gegeben hat. Die Verfassungsgebung durch das Volk ist nun einmal elementarer Ausdruck seiner Souveränität. Bei den damals schon erlassenen Landesverfassungen war diese Bedingung denn auch erfüllt. Hinsichtlich des Grundgesetzes aber bestanden die Besatzungsmächte schließlich doch nicht auf ihrer Forderung.
Der „horror populi“ schlug sich auch in der Wahl des Bundespräsidenten nieder. Dieses merkwürdige Verfahren, das die Wahl formal in die Hand einer nur zu diesem Zweck geschaffenen so genannten Bundesversammlung legt, entsprang der zentralen Intention des Parlamentarischen Rates, auf keinen Fall eine Direktwahl des Bundespräsidenten zuzulassen. Tatsächlich vollzieht die Bundesversammlung heutzutage lediglich die längst getroffenen Entscheidungen von Parteiführungen - am 7. 6. 2009 von Angela Merkel und Guido Westerwelle.
Dem tief sitzenden Misstrauen und der Sorge um die Verführbarkeit des Volkes durch radikale Rattenfänger in der labilen Situation der ersten Nachkriegsjahre verdanken wir auch, dass der Parlamentarische Rat dem „großen Lümmel“ Volk direkte Demokratie auf Bundesebene, also die ergänzende Gesetzgebung mittels Volksbegehren und Volksentscheid, vorenthielt, obwohl solche Volksrechte in den Nachkriegsverfassungen der Länder ganz selbstverständlich waren.

Freie Welt.Net: Ist dies auch der Grund für die starke Rolle der Parteien in Deutschland?

Prof. von Arnim: Das Grundgesetz gesteht den Parteien in Art. 21 ausdrücklich nur eine begrenzte Rolle zu. Sie sollen an der politischen Willensbildung des Volkes, also nicht auch das Staates, lediglich mitwirken und sie nicht beherrschen. Natürlich streben die Parteien - wie jegliche Macht - darüber hinaus, und diesem Expansionsdrang hatte Gerhard Leibholz, ein überaus einflussreicher Staatsrechtslehrer, schon zu Beginn der Republik die verfassungsrechtliche Legitimierung geliefert. Seine Doktrin vom umfassenden Parteienstaat lief quasi auf eine Vergötterung der Parteien hinaus. Das Volk wurde weginterpretiert und durch die Parteien ersetzt; das bereitete die theoretische Grundlage, das Volk vollends zu entmachten. Gleichzeitig setzte Leibholz die Parteien mit dem Staat in eins, was der Aneignung des Staates durch die Parteien den Schein der Rechtfertigung gab.
Kein Wunder, dass die Parteien Leibholz von Anfang an ins BVerfG wählten, die Wahl immer wieder erneuerten und auch seinen Schüler Julius Rinck nach Karlsruhe entsandten. Jahrzehntelang drückte ihre Parteienstaatsdoktrin der Rechtsprechung den Stempel auf. Inzwischen ist das Gericht davon zwar wieder abgerückt. Die früheren Urteile wirken aber immer noch fort. Dieser Teil der Geschichte des Gerichts wird von den Parteien meist unterdrückt. Sonst wären die Konsequenzen unabweisbar, und der öffentliche Druck, die früheren Urteile bei der ersten Gelegenheit zu revidieren, würde übermächtig.

FreiWelt.Net: Welche Konsequenzen hat diese Aneignung des Staates durch die Parteien?

Prof. von Arnim: Eine Folge der Gleichsetzung der Parteien mit dem Staat ist die allmähliche Erosion des Ethos politischer Amtsträger, also der Verpflichtung aufs Gemeinwohl. Diese Bindung wurde ohnehin allmählich gelockert: durch den so genannten Wertewandel von den Pflicht- hin zu den Selbstentfaltungswerten und durch die Entwicklung zum Berufspolitiker, dem das eigene Hemd oft näher ist als der Gemeinwohlrock. Die Lockerung wurde durch Theorien wie die von Leibholz auch noch normativ abgesegnet. Eine andere Folge ist die Permissivität gegenüber der grassierenden parteipolitischen Ämterpatronage, die weite Bereiche des öffentlichen Dienstes, Teile der Richterschaft und der öffentlich-rechtlichen Medien erfasst. Dabei hatte der Parlamentarische Rat in seiner Verdammung solcher „Parteibuchwirtschaft“ keinerlei Klarheit vermissen lassen. Nach Art. 33 II GG darf bei Besetzung öffentlicher Ämter niemand auf Grund seines Parteibuchs bevorzugt oder benachteiligt werden. Doch die Verfassungsgerichte, die dieser Vorschrift eigentlich Geltung verschaffen müssten, sitzen selbst im Glashaus.
Bei der Gestaltung von Verfassungen stellt sich ein zentrales Problem: Über das Fundament des Gemeinwesens, also die Verfassung im formellen und materiellen Sinn, sollten idealerweise Personen entscheiden, bei denen keine eigenen Interessen ihre Objektivität trüben. Der Staatsphilosoph John Rawls hat dafür das Bild gebraucht, Verfassungsgeber sollten - ähnlich der Augenbinde der Justitia - hinter einem Schleier des Nichtwissens entscheiden, also die Konsequenzen ihrer Entscheidungen für ihre eigene Position nicht kennen. Doch unser Dilemma ist, dass diejenigen, die von der Verfassung eigentlich gezügelt werden sollten, selbst mitten im Staat an den Hebeln der Macht sitzen und ihre Belange direkt in die Verfassungen einbringen können. Und die Erosion des Gemeinsinns schwächt die Hemmung gegen den Missbrauch dieser Schlüsselposition zum eigenen Vorteil. Auch die Opposition wird oft „gleichgeschaltet“. Geht es um die Interessen der Politiker und die Macht ihrer Organisationen, neigen diese zu fraktionsübergreifenden politischen Kartellen und entziehen sich so der Kontrolle durch die Wähler. Welche Partei soll der Bürger noch wählen, wenn alle in die Absprachen eingebunden sind? So werden Politiker mit ihren gemeinsamen Berufsinteressen zur „politischen Klasse“, die selbst über ihren Status und den ihrer Organisationen entscheidet.

FreieWelt.Net: Wie funktioniert dieses Kartell der politischen Klasse konkret?

Prof. von Arnim:
Dass die politische Klasse in eigener Sache entscheidet, ist hinsichtlich der Abgeordnetendiäten, bei denen der Parlamentarische Rat noch an eine bloße Aufwandsentschädigung gedacht hatte, und hinsichtlich der staatlichen Parteienfinanzierung, die sich der Rat noch gar nicht hatte vorstellen können, inzwischen anerkannt - auch vom BVerfG selbst. Ein Beispiel für Auswüchse, die solche „Selbstbedienung“ hervorbringen kann, ist die steuerfreie Kostenpauschale von Bundestagsabgeordneten von jährlich 46416 Euro (= 3868 Euro monatlich). Ein anderes Beispiel ist die Aufblähung der Parlamentsfraktionen und Stiftungen der Parteien, deren öffentliche Gelder in den letzten vier Jahrzehnten vervierzigfacht wurden. Vor kurzem wurde nach deutschem Vorbild sogar eine europäische Parteien- und Stiftungsfinanzierung eingeführt. Die Mittel sind seit 2007 um 75% gestiegen. Auch das Wahlrecht ist ein Geschöpf der politischen Klasse. Die Parteien haben alle Schlüsselentscheidungen inne und die Bürger ausgeschlossen:
Vor der Wahl entscheiden sie, wer Abgeordneter wird. Wen immer sie in ihren Hochburg-Wahlkreisen aufstellen, der ist schon „gewählt“. Denn Vorwahlen gibt es nicht. In meinem kürzlich veröffentlichten Buch „Volksparteien ohne Volk“ habe ich Ross und Reiter genannt und etwa die Kandidaten in 100 Bundestagswahlkreisen aufgelistet, die bereits weit vor der Bundestagswahl schon ihr mandat sicher hatten.
Wen die Parteien auf vordere Listenplätze setzen, dem kann der Wähler erst recht nichts mehr anhaben. Bei Europawahlen stehen lange vor der Wahl regelmäßig drei Viertel der 99 deutschen EU-Abgeordneten namentlich fest. Dazu gehörten bei der Wahl am 7. 6. 2009 zum Beispiel die ersten 22 auf der Wahlliste der SPD; sie konnten selbst bei einem schwachen Ergebnis ihrer Partei von vornherein sicher sein, ins Europäische Parlament einzuziehen. Die Europawahl als „Direktwahl“ zu bezeichnen, ist eine semantische Verschleierung der wahren Verhältnisse. Nicht die Bürger bestimmen, wer Abgeordneter wird, sondern die Parteien. Diese demonstrieren auch ganz ungeniert, wer die Pfründe verteilt, indem sie sich von ihren Abgeordneten dafür regelrecht bezahlen lassen. Die auf diese Weise erhobenen „Parteisteuern“ machen über 50 Millionen Euro im Jahr aus.
Nach der Wahl entscheiden oft Parteiführungen hinter dem Rücken der Wähler in Koalitionsabsprachen, wer die Regierung bildet. Der Wähler kann zwar die Größe der Fraktionen bestimmen. Das aber wird dadurch zum großen Teil entwertet, dass keineswegs feststeht, dass die Partei mit den meisten Stimmen auch an der Regierung beteiligt wird. Seitdem die Linke auch im Westen Erfolg hat, ist die Ungewissheit des Bürgers, wem seine Wahlstimme zur Regierung verhilft, noch größer geworden. Das Fünfparteiensystem potenziert die Koalitionsmöglichkeiten und minimiert den Einfluss der Bürger. Kann der Wähler aber schlechte Regierungen und Abgeordnete nicht mehr mit dem Stimmzettel nach Hause schicken, verflüchtigt sich die Verantwortung. Das mag für die politische Klasse zwar komfortabel sein, demokratisch aber ist es nicht.

Lesen Sie auch den zweiten Teil des Interviews über das Wahlsystem und direkte Demokratie.


Prof. Hans Herbert von Arnim veröffentlicht einen Ausatz zu dem Thema in der "Neuen Juristischen Wochschau"

zur Vita von Prof. von Arnim auf HfV Speyer

Das Interview führten Beatrix von Oldenburg und Norman Gutschow

Foto: Hans Herbert von Arnim

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