Röhrenblick und Einbahndenken haben anscheinend zu einer Verkümmerung der diesbezüglichen Verstandesleistung geführt. Alternativen scheint es in diesem beschränkten Blickwinkel überhaupt nicht zu geben. Versagt die gewählte therapeutische Behandlung, dann wird nicht die Therapie selbst auf den Prüfstand gestellt, sondern man setzt auf die Steigerung von Quantität und Intensität der bisherigen Behandlungsmethoden. Alles sei Gift, sagte Theophrastus Paracelsus vor fast 500 Jahren, es käme allein auf die Dosierung an. Recht hatte dieser berühmte Arzt und Philosoph! Im Falle der schulischen Sexualaufklärung muß ergänzt werden: Alles zu seiner Zeit und alles in den richtigen Händen! Und weil jeder Mensch anders ist, gibt es so viele unterschiedliche Zeitpunkte und unterschiedliche „Hände“ wie es Kinder gibt. Ob die Schule der richtige Ort ist, das Intimste des Menschseins mit grellem Scheinwerferlicht auszuleuchten, ist eine Frage, deren Beantwortung nicht schwerfallen sollte.
Mißbrauch des kindlichen Vertrauens
Sexuelle Frühaufklärung à la Procrustes, und noch dazu im Netzwerk eines Zwangskollektivs statt in häuslicher Geborgenheit, das ist nicht nur unpassend, das ist eine Verletzung des kindlichen Rechts auf die Unversehrtheit seiner Intimsphäre – also das Eigentumsrecht an sich selbst, an seinen Gefühlen, an seiner Körperlichkeit. Was bei kollektiver Sexualaufklärung ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt wird, wirkt nicht nur auf Kinder verstörend! Wie wäre es wohl um Gefühle von Erwachsenen bestellt, wenn im Kegelclub oder Sportverein öffentlich über private Sexualpraktiken oder Ausscheidungsfunktionen gesprochen würde, wobei gewisse Übungen absolviert, Modelle gezeigt und Bilder herumgereicht würden? Kindern wird zugemutet, wozu man Erwachsene niemals zwingen würde. Kinder verfügen weder über Erfahrung noch über den entsprechenden Wortschatz, um ihre Empfindungen auszudrücken. (Auch das Leid Erwachsener entbehrt allzuoft der passenden Worte.) Die Wehrlosigkeit des Kindes gründet auch im Vertrauen in die Erwachsenen. Dieses Vertrauen ist für die Entwicklung des Kindes überlebensnotwendig. Daher wiegt der Mißbrauch umso schwerer. Das Irritierende der unglücklich durchgeführten Sexualaufklärung verortet nicht im Versagen der Gesellschaft. Es sucht den Fehler bei sich selbst; das Kind empfindet schmerzvoll: Ich bin es, der versagt. Ich bin es, der irgendwie verkehrt ist …
Solches ist nicht mit den Instrumenten der Empirie erfaßbar. Das Ausmaß seelischer Verletzungen kann nicht auf einer Skala dargestellt werden, wie etwa die Fieberkurve eines Kranken. Und deshalb wird Sachkritik die sich auf nichts anderes als auf das Gefühl und den Hausverstand beruft, einfach als unmaßgeblich abgewiegelt. Das wissenschaftliche Geschwafel aber ist ein pädagogisches Wolkenkuckucksheim, aus dem es Unheil regnet.
Aufklärung allein genügt nicht
All das ist mehr als bekannt. Frau Regine Schwarzhoff vom Elternverein NRW macht sich mit ihrer unermüdlichen Öffentlichkeitsarbeit hochverdient. An dieser Stelle möchte ich ihr meinen persönlichen Dank aussprechen! Dennoch ist die Befürchtung nicht von der Hand zu weisen, daß alle wohlmeinende und leidenschaftliche Aufklärung kaum politisch spürbare Wirkung entfalten wird. Man könnte verzweifeln: Niemand will de facto Böses, und dennoch lassen es die meisten zu. Die angerichteten Verheerungen sind nicht zu übersehen. Alle klagen, aber nichts ändert sich. Haben wir es da etwa mit dem Phänomen der „Niemandsherrschaft“ zu tun, wie Hannah Arendt dieses Paradox der Reformunfähigkeit so treffend genannt hat? Eine mitleidlose, alles niederrollende Eigendynamik des postbürokratisch verkrusteten Gesellschaftsmodells, wo alles mit allem heillos verstrickt ist und niemand mehr etwas bewegen kann? Wo jedermann sehenden Auges dem Zug der Lemminge in Richtung Felskante folgt, weil ein Ausweichen als unmöglich erscheint?
Doch, halt: daß nichts gegen gesellschaftliche Mißstände, hier gegen schädigende Sexualaufklärungspraktiken in öffentlichen Schulen, unternommen werden könnte, ist einfach nicht wahr. Jeder kann etwas tun: und zwar im unmittelbaren Umfeld des Arbeitsalltags. Alle Änderungen fangen im Kleinen an, bei sich selbst. Wer gleich die ganze Welt ändern will, zeigt, daß er gar nichts ändern will. Die Welt ändern zu wollen, ist ein törichtes Unterfangen, das überlassen wir den flotten Mundhandwerkern. Erziehung ist praktisches Handwerk, täglich vor Ort ausgeübt, mühsam, ruhmlos und wenig spektakulär. Echte Erziehung basiert auf persönlicher Begegnung. Sie erfolgt ohne mediales Orchester, ohne Hilfe von Experten, ohne Anleitung oder Anweisung von oben. Was den Lehrern und Eltern von heute not tut, ist eine kräftige Prise Eigenwilligkeit und Widerborstigkeit gegenüber dem ideologisch gefärbten Zeitgeist. Muß denn in vorauseilendem Gehorsam alles getan werden, was durch anonyme Anordnungen zu tun aufgegeben scheint? Bleibt nicht oft genug ein Hintertürchen offen, durch das wir uns unbemerkt und zum Nutzen unserer Schützlinge davonstehlen können? Die Fesseln der Menschheit sind aus Kanzleipapier, hat Franz Kafka sinniert. Auch die Fesseln der Pädagogen sind aus Kanzleipapier. Einerseits sollen sie diesen papierenen Anweisungen Gehorsam leisten, andererseits sollen sie selbst Papiere produzieren, indem sie das Verhalten und die Lernfortschritte ihrer Zöglinge auf Beobachtungsbögen und Strichlisten festhalten und beurteilen sollen. Das ist eine Form der schleichenden Degenerierung des Lehrerberufs. Papier läßt sich zerreißen. Ohne großen Kraftaufwand.
Wenn es darum geht, eigene Vorteile wahrzunehmen, kann sich der Mensch unglaublich dumm stellen. Diese „Tugend“ hat schon so mancher verantwortungsvoll empfindende Vorgesetzte zum Schutze seiner Untergebenen geübt. Wenn deutlich wird, daß gewisse kanzleipapierene Anordnungen den Gesetzen der Schöpfung sittlich und entwicklungspsychologisch widersprechen, wenn die Erfahrung zeigt, wie deren Anwendung kindliches Leid zur Folge hat, dann kann es nur eine Entscheidung geben! Wer beruflich mit Kindern zu tun hat, trägt große persönliche Verantwortung. Aus dieser Verantwortung kann sich niemand davonstehlen mit der Bemerkung, er habe bloß auf Anweisung gehandelt. Im Dasein läßt sich keine einzige Situation denken, in welcher sich der Mensch nicht für das Bessere entscheiden könnte. Jederzeit und überall.
Kommentare zum Artikel
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Was sagt eigentlich die kirchlich inspirierte Sexualerziehung beispielsweise zum Sex von pubertierenden Jungen? Masturbation nie oder nur nach dem Nachtgebet? Und, falls es jemand nicht mehr wissen sollte - normalerweise haben Jungs in diesem Alter große Lust auf mehrmalige Masturbation am Tag. Was sagen Religiöse zu dieser "darwinischen Tatsache"?