Wurzelbehandlung für Europa

Im Angesicht eines starken Chinas und eines argentinischen Papstes scheint Europa an Bedeutung zu verlieren. Wenn sich der Kontinent aber seiner Wurzeln besinnt, steht eine Renaissance bevor.

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Da bleiben offenbar nur noch die Brosamen vom Tableau des Weltgeschehens. Denn mit der Proklamation von Chinas neuem Staats- und Parteichef Xi Jinping zum Machthaber über 1,35 Milliarden Menschen im ökonomisch aufblühenden Reich der Mitte und der Wahl des Argentiniers Jorge Mario Bergoglio zum geistlichen Oberhaupt von weltweit 1,2 Milliarden Katholiken scheint Europas Gewicht und Bedeutung weiter zu schrumpfen. Residierte Papst Franziskus nicht im Vatikan, dem kleinsten und doch mit am meisten beachteten Staat der Erde, dann wäre auch das einst glorreiche Rom wohl nur noch ein Freilichtmuseum und Synonym für Vergänglichkeit, Verfall und Niedergang. Lissabon und Athen sind bereits genauso wie Nikosia und auch Paris zu Symbolen der Instabilität degeneriert und das immer noch stolze London bangt um die ihm einzig verbliebene Finanzindustrie, die mangels nahezu jeglicher Realwirtschaft aber auf tönernen Füssen steht. Auch die Partymetropole Berlin reüssiert mit der Unfähigkeit, einen Flughafen zu bauen, derzeit zum Gespött in aller Welt. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit hat seiner Stadt bereits vor neun Jahren mit unfreiwilliger self-fulfilling prophecy das desaströse Testat „arm, aber sexy“ verpasst. Die Europäische Union und ihre Brüsseler Bürokratenkapitale stehen derweil trotz der Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis eher für schwierig errungene und schale Kompromisse, denn für ein entschlossenes und gewichtiges Auftreten auf der Weltbühne.

Europa hat die Chance einer Renaissance

Doch Europa hat – nicht zuletzt auch dank des neuen argentinischen Bischofs von Rom – die Chance einer Renaissance seiner Werte und seines Denkens. Um das Mare Nostrum herum sind über Jahrhunderte entscheidende Erkenntnisse gesammelt, Ideen entwickelt und auch Ideologien ent- und wieder verworfen worden, die rund um den Globus nahezu alle relevanten kulturellen Entwicklungen beeinflusst und geistige oder sogar gewaltsame Auseinandersetzungen erzeugt oder zumindest verstärkt haben. Monotheismus und Personalismus, Kapitalismus und Marktwirtschaft, aber auch Sozialismus und Kommunismus sowie Faschismus und Rassismus haben im europäischen und Mittelmeerkulturkreis ihren Ursprung. Die sich neben dem Konfuzianismus auch immer noch auf den maoistisch geprägten Marxismus-Leninismus berufende chinesische Doktrin einer Mixtur aus brutalem Kapitalismus und staatsoligarchischem Realsozialismus ist dafür ebenso ein Beleg wie die auch von europäischen Jesuiten in Lateinamerika erfolgreich durchgeführte christliche Mission. Beinahe wäre es den Jesuiten zu Beginn des 18. Jahrhunderts sogar gelungen, ihre mit konfuzianischen Elementen angereicherte christliche Missionierung Chinas zu vollenden. Damals scheiterte dieses Unterfangen an der Ablehnung einer befürchteten Vermengung von Christentum und Konfuzianismus durch das Heilige Offizium. Nun hat der erste Jesuit auf dem Papststuhl als Pontifex Maximus die Chance, auch mit den asiatischen Kulturen den Dialog erneut zu vertiefen.

Dabei kann er sich auf das Wirken seines deutschen Vorgängers Benedikt XVI. stützen, dessen Anliegen es war, Religion und Glaube mit Vernunft und Wissenschaft in Einklang zu bringen und der in dem widerstrebenden Zeitgeist eine „Diktatur des Relativismus“ der Werte und Grundhaltungen sowie im Denken erkannte. Eine profunde Analyse des Wirkens von Benedikt XVI., der auch den Dialog der katholischen Kirche mit den orthodoxen Kirchen und dem Islam, aber auch dem Judentum und dem Protestantismus vorantrieb, legt aktuell Alexander Kissler mit „Papst im Widerspruch“ vor. Es zeugt von viel Weisheit und für Katholiken auch von der Provenienz des Heiligen Geistes, dass mit Papst Franziskus gleich zwei revolutionäre Strömungen in der Kirchengeschichte, die immer wieder auch durch radikale Positionierungen aufgefallen sind, nun gleichsam mit der Verantwortung für die gesamte Weltkirche betraut und zugleich in die Pflicht genommen worden sind: die Anhänger des Heiligen Franz von Assisi und des Ignatius von Loyola.

Mit dem Bettelmönch Franz von Assisi, dem Herold der Entsagung an Reichtum, Prunk und Maßlosigkeit, als Bezugspunkt baut der Jesuit Bergoglio programmatisch auf der Freiburger Rede von Benedikt XVI. im September 2011 auf. Zum Abschluss seiner letzten Deutschlandreise hatte Benedikt eine tiefgreifende Entweltlichung der Kirche gefordert und damit der von Papst Franziskus angesteuerten „armen Kirche für die Armen“ den Boden bereitet.

Für Europa erwächst daraus die Chance, neben einer geistig-geistlichen Erneuerung auch die großen Ideen und Prinzipien der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, wie sie in der katholischen Soziallehre und christlichen Sozialethik für den Rechts- und Sozialstaat, das demokratisch verfasste Gemeinwesen und die sozialmarktwirtschaftliche Ordnung entwickelt worden sind, als europäische Agenda neu zu formulieren. Die Ideen der Aufklärung und des Humanismus könnten ebenso wie Wertvorstellungen des Idealismus und Liberalismus und auch zutreffende Analysen des Marxismus einbezogen werden. Zwischen einem ausufernden und zum Egoismus pervertierenden Individualismus mit maßlosen Spitzeneinkünften Weniger oder einer Akkumulation von Reichtum und Wohlstand bei einer nur kleinen Schicht auf der einen und der Verführung zu einer neuen Diktatur eines egalitären Kollektivismus, der mit seinem grassierenden Schuldenalkoholismus durch staatliche und überstaatliche Institutionen die Bürger zunehmend enteignet und der Mitsprache beraubt, auf der anderen Seite, gilt es Wege zu finden, bei denen die Erfordernisse von Solidarität und Subsidiarität, Wachstum und Ökologie, Wohlstand und Aufstiegschancen, Bildung und Mitverantwortung sowie der Arbeitswelt und einer nachhaltigen demografischen Entwicklung austariert sind. Zusammenhalt, Gemeinsinn und Partnerschaft gepaart mit Verantwortung und Haftung, Leistungsbereitschaft und Rücksichtnahme sind im Zeitalter der Globalisierung Erfolgsfaktoren – von der Tarifpolitik in Deutschland bis hin zur Wettbewerbsfähigkeit Europas auf den Weltmärkten.

Von Rom in die europäischen Staaten

Auch im Jesuitenorden hat es immer wieder massive Auseinandersetzungen gegeben, unter anderem zu der Gewichtung von Kapital und Arbeit, und auch die Versuchung, in eine vornehmlich marxistisch orientierte Form der Theologie der Befreiung abzudriften. Aus diesen Grenzerfahrungen haben die Jesuiten und hat die Weltkirche gelernt. Von Rom und auch von den politischen Zentren in Europa aus könnten nun neue Impulse nach innen in die Länder des alten Kontinents und in seinen Staatenbund sowie nach draußen in alle Welt gehen. Dies wäre eine Renaissance der europäischen Werte und des europäischen Denkens mit einer wirkmächtigen Agenda.

 

Beitrag zuerst erschienen auf TheEuropean.de.

 

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