Winnenden: Auch ein strukturelles Problem

Ein Jugendlicher macht an seiner Schule den Abschluss. Und ein Jahr später kehrt er als blut-rünstiger Killer zurück. Schock. Bestürzung. Der Amoklauf im schwäbischen Winnenden macht betroffen – und ratlos. Welche Lehren können wir als Gesellschaft aus einem solchen Schreckenserlebnis ziehen? Welche Fragen wirft diese Bluttat auf?

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Wenn die Gründe auch zu vielschichtig sind, als dass es eine schnelle Erklärung geben kann und darf, hat der Amoklauf von Winnenden mit Sicherheit auch einen gesamtgesellschaftlichen Hintergrund: Wir leben heute in einer Gesellschaft, die sich  Wohlstandsvermehrung und Technikfortschritt als Maximalziel auf ihre Fahnen geschrieben hat. Mit ihrer Effizienzlogik sieht die moderne Leistungsgesellschaft den Menschen vor allem als Leistungserbringer. Und mit den sich allgemein verschärfenden Lebensbedingungen sind die Anforderungen an das Individuum enorm gestiegen: mehr Leistung, mehr Effizienz, mehr Druck.

 

Dabei hat der Zwang zum ökonomischen Erfolg und zur Demonstration seiner Statussymbole durchaus auch Schattenseiten: Der zunehmende Leistungs- und Konkurrenzdruck hat dazu geführt, dass es heute viel stärker möglich ist, zum Loser zu werden, weil viele einfach nicht mehr mithalten können. Die damit verbundenen Einbrüche und Zäsuren in den Biografien führen unweigerlich zu Versagensängsten, Frustrationen und Kränkungserlebnissen. Wie die Betroffenen damit zurechtkommen, bleibt ihnen überlassen.

Bereits im vergangenen Jahr hat ein DAK-Gesundheitsreport darauf hingewiesen, dass Angst und Depression bei den jungen Menschen »dramatisch« zunehmen. Bei den Erwachsenen sieht die Lage kaum besser aus: Vier von zehn Arbeitnehmern klagen inzwischen über physische und psychische Belastungen am Arbeitsplatz. Fast jeder zweite Deutsche befürchtet eine Zunahme von Stress und Überforderung am Arbeitsplatz.

Nach Angaben der Techniker Krankenkasse (TK) waren die Erwerbstätigen im Jahre 2008 durchschnittlich einen viertel Tag länger krankgeschrieben als 2007, womit die Quote auf 3,1 Prozent stieg. Das Beängstigende daran: Laut TK resultiert dieser Anstieg vor allem aus einer erneuten Zunahme von psychischen Erkrankungen. Denn statistisch gesehen war damit jeder der 2,8 Millionen bei der TK versicherten Erwerbspersonen im letzten Jahr 1,5 Tage psychisch bedingt arbeitsunfähig. Bei den BKK-Versicherten hat sich allein in den letzten drei Jahren die Verschreibung von Psychopharmaka nahezu verdoppelt.

Mit anderen Worten: In Deutschland herrscht keine gute Stimmung. Existenzielle Nöte wie die Arbeitslosigkeit werden zu einem zunehmenden Problem. Sinnkrisen tun sich auf. Mit der »Entmenschlichung« unseres Arbeitsalltags häufen sich die Fälle privaten und beruflichen Scheiterns. Obgleich sich Überforderung, allgemeine Erschöpfung und depressive Verstimmungen in unserem Lande häufen, gehört das Scheitern nach wie vor zu den großen gesellschaftlichen Tabus. In kaum einem anderen Land ist die Angst davor so groß wie in Deutschland.

Es ist insbesondere der schnelle Gewinn, der das ökonomische Handeln motiviert und unsere Lebenswirklichkeit bestimmt. Die Angst vor dem Versagen ist Teil unserer Wirtschaftskultur, die dem Prinzip des Stärkeren huldigt. Kein Wunder also, dass der Umgang mit Niederlagen derart große Berührungsängste auslöst. Das bietet insofern Anlass zur Sorge, als dass wir so kaum einen entspannten Umgang mit Bruchstellen entwickeln können.

Angesichts der Tatsache, dass Scheitern zu einer Lebensrealität von immer mehr Menschen wird, brauchen wir endliche eine öffentliche Debatte darüber, wie unser wettbewerbsorientier-tes Wirtschaftssystem souverän damit umgehen kann, und welche Lehren wir daraus ziehen, wenn es ein solch erschreckendes Ausmaß wie in Winnenden und Erfurt annimmt.

Nicht zuletzt müssen wir eine Diskussion darüber führen, wie die »Insider« der Gesellschaft mit ihren »Outsidern«, will heißen ihren Schwächeren, umgehen. Denn eine Gesellschaft, die nicht alle mitnimmt, sondern das Recht des Starken, sprich des ökonomisch Überlegenen, immer mehr zum Maßstab macht, wird auf Dauer nur eins können: verlieren.

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© Ute Bienkowski. Alle Rechte vorbehalten.

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