Wie reale Demokratie funktioniert

Wer die Äußerungen unserer Politiker in den gängigen Print- und Funkmedien verfolgt, muß auf einiges gefaßt sein.

Veröffentlicht:
von

Da setzen sich Minister – der Wortbedeutung nach also „Diener“ des Gemeinwesens – ungeniert aufs hohe Roß und beschimpfen alle, die ihrer Unzufriedenheit mit dem Gang der Dinge Ausdruck verleihen, als „Pack“, „Mob“, „Mischpoke“, als „Nazis in Nadelstreifen“ oder auf ähnlich rüde Weise. Der Bundespräsident teilt das Land in „Hell- und Dunkeldeutschland“ auf, wobei er sich und Seinesgleichen ohne viel Umstände der „hellen“ Seite zurechnet. Ein früherer Bundeskanzler mit einschlägigen Erfahrungen auf diesem Gebiet erläutert auf eine jedermann zugängliche Weise, woran man bei den „Helldeutschen“ zu denken hat, nämlich an die „Anständigen“ im Lande. Diesen soll offenbar allein das Recht zukommen, öffentlich gehört zu werden, während sich die „Unanständigen“ in ihre Löcher verkriechen sollen.

 

Aber das ist nicht alles. In den letzten Wochen wird es fast von Tag zu Tag toller. Wenn man schon denkt, es sei keine Steigerung mehr möglich, wird immer noch etwas daraufgesetzt. Und zwar im Augenblick ausschließlich und allein zu Lasten der Alternative für Deutschland (AfD) und deren Vorstandssprecherin Frauke Petry. Die erstere dient schon seit ihrer Gründung als Spucknapf für jeden Politrüpel, auf die letztere hat man sich erst später eingeschossen. Seit kurzem bildet eine von perfiden Journalisten aus Frau Petry herausgekitzelte Bemerkung den lange gesuchten und endlich gefundenen Anlaß, um über die ganze Richtung samt Kind und Kegel ein absolutes und unwiderrufliches Verdammungsurteil zu fällen. Dabei ging es in der Sache lediglich um ein Statement zur Gesetzeslage bei der Sicherung der deutschen Staatsgrenzen nach außen. Aber landauf, landab überschlagen sich die Scharfmacher seitdem schier und können ihren Verfolgungseifer kaum zügeln.

 

So nannte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) die Anhänger und Wähler der AfD in der Passauer Neuen Presse vom 4. Februar schlicht „Rattenfänger“ und „Demagogen“. Zu Frau Petry persönlich ließ er sich so ein: „Ich kenne Frau Petry nicht, aber ich denke, daß sie noch Herrin ihrer Sinne ist. Was sie gesagt hat, ist grob falsch und gefährlich. Solche Demagogen zu wählen, denen die Unseriosität auf die Stirn geschrieben steht, hat Deutschland stets geschadet. Jeder kann etwas tun, wenn er seine Stimme den demokratischen Parteien gibt. Wer so offensichtlich an fremdenfeindliche Ressentiments appelliert und auf Flüchtlinge schießen will, bekämpft die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Die AfD ist eine Schande für Deutschland.“ In wenigen Sätzen wird hier Frau Petry mit „in Deutschland gewählten Demagogen“ verglichen – wer kann damit eigentlich nur gemeint sein? –; ihre Partei, die AfD, wird als „undemokratisch“ und „fremdenfeindlich“, mehr noch: als verfassungsfeindlich hingestellt und überdies moralisch abgekanzelt als „Schande für Deutschland“. Kürzer und intriganter geht es nicht mehr. Das ist zweifellos eine rhetorische Meisterleistung, allerdings eine von einer Art, die einen Bundesminister ebensowenig ziert wie der Verdacht, in eine massive Parteispendenaffäre verwickelt gewesen zu sein.

 

Der SPD-Vorsitzende und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel legte in einem Interview mit der in Ludwigshafen erscheinenden „Rheinpfalz“ (Ausgabe vom 17. Februar) noch eins nach und nannte die AfD „offen rassistisch“. Die Partei wolle „eine völkische Gesellschaft“, die auf Ausgrenzung beruhe. Das erinnere „fatal an das politische Vokabular der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts“. Da ist sie schon wieder, die kaum verhüllte Nazifizierung des politischen Gegners. Und dazu auch noch der direkte Vorwurf des Rassismus, der so ziemlich das schlimmste Etikett ist, das man derzeit jemand verpassen kann. Steigerungsfähig ist dies eigentlich nur noch durch einen Schlag unter die Gürtellinie.

 

Diesen lieferte der frühere baden-württembergische Ministerpräsident und jetzige EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU). In einer Talkrunde äußerte er am 15. Februar nämlich: „Wenn die komische Petry meine Frau wäre, würde ich mich heute Nacht noch erschießen.“ Für jeden Gentleman alter und neuer Schule wäre dies ein schlimmer Fauxpas gewesen. Für Herrn Oettinger offenbar nicht. Auf seinen Mißgriff aufmerksam gemacht, ruderte er nicht etwa zurück, sondern bezeichnete Petrys Hinweis auf die Gesetzeslage als „menschenverachtend und unmöglich“. „Menschenverachtende“ Maßnahmen beim Schutz der deutschen Staatsgrenzen – das kommt offenbar unter gar keinen Umständen in Betracht, nicht einmal dann, wenn es im Gesetz steht. Daß deutsche Polizisten immer wieder von der Schußwaffe Gebrauch machen, wenn sich jemand einer Festnahme zu entziehen versucht, ist dem ehemaligen deutschen Ministerpräsidenten offenbar unbekannt, zumindest tut er so.

 

Zufällig ist gerade soeben ein staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren in einer solchen Angelegenheit eingestellt worden. Die Passauer Neue Presse hat darüber just einen Tag nach Oettingers Verbalattacke berichtet. Ein Burghausener Drogendealer hatte sich der Festnahme durch Flucht entziehen wollen und war dabei erschossen worden. Der Polizeibeamte gab an, auf die Beine gezielt zu haben, hatte jedoch den Hinterkopf getroffen. Daß gezielt geschossen worden war, hielt die Staatsanwaltschaft von Gesetzes wegen für gerechtfertigt. Für eine fahrlässige Tötung sah sie keinen hinreichenden Tatverdacht. Im übrigen erklärte sie zu dem Fall folgendes: „Mit dem Schuß sollte die weitere Flucht des Mannes verhindert werden. Dieser von vornherein mit dem Risiko einer schwerwiegenden Körperverletzung verbundene Einsatz der Schußwaffe war in diesem Ausnahmefall durch die Vorschriften des Polizeiaufgabengesetzes gedeckt, auch wenn der Beamte nicht selbst angegriffen wurde.“ Im Falle eines Schußwaffengebrauchs werde von einem Polizeibeamten verlangt, „daß er zunächst versuchen muß, den Flüchtenden mit vollem körperlichem Einsatz zu erreichen, bis er erkennt, daß er ihn nicht mehr erreichen kann. Er muß dann stehen bleiben und eine hinreichend sichere Schußhaltung einnehmen, ohne die Entfernung zu groß werden zu lassen.“

 

In den online gestellten Leserkommentaren stößt die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft kaum auf Kritik. Der häufigste Tenor lautet vielmehr: Wer auf den Zuruf eines Polizisten nicht stehen bleibt, hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn geschossen wird; was soll ein Polizist, wenn der andere schneller ist, denn sonst machen? Auch in den überregionalen Medien hat der Fall, trotz des unglücklichen Ausgangs, bisher keine Aufregung verursacht. Man fragt sich daher, was bei einem illegalen Grenzübertritt – womöglich nach Vernichtung der Ausweispapiere und unter Einsatz von massiver Brachialgewalt – so völlig anders sein soll, warum daher eine gewaltsam erzwungene Botmäßigkeit hier als geradezu „menschenverachtend“ qualifiziert wird, während sie beim Vollzug eines Haftbefehls als Selbstverständlichkeit erscheint. Wer nur die Fälle selbst vergleicht, wird daraus nicht klug werden.

 

Was im Fall der Grenzverletzung anders ist, zeigt allein ein Blick in den Terminkalender: Am 13. März stehen in Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz Landtagswahlen an, bei denen es darum geht, in welcher Stärke die AfD in die betreffenden Landtage einzieht und damit einige Abgeordnete der hier bisher schon vertretenen Parteien um ihre Sitze und damit zugleich um ihre Pfründe bringt. Ungeachtet, wie diese Wahlen ausgehen, wird das Ergebnis als Votum über die Migrationspolitik der Bundesregierung gedeutet werden, und zwar als Zustimmung oder als Ablehnung, je nach dem. Das wird auf den weiteren Verlauf dieser Politik größere Auswirkungen haben als alle öffentlichen Verbalrituale des letzten Jahres zusammengenommen. Kein Wunder also, daß die Nerven des politischen Establishments blank liegen und mancher im Eifer zu erkennen gibt, welcher Charakter sich hinter seiner allzeit freundlichen Maske tatsächlich verbirgt.

 

Eigentlich sollte es sich in einer Demokratie von selbst verstehen, daß unterschiedliche politische Auffassungen in einem offenen Diskurs zu einem Konsens gebracht werden. Auf diesem Versprechen und auf nichts sonst beruht die Attraktivität des demokratischen Modells. Ein Blick auf die gegenwärtige Lage in Deutschland zeigt indessen ein anderes Bild: Die Bundesregierung verfügt derzeit im Bundestag über eine Mehrheit von 80 Prozent der Sitze. Sie kann daher – abgesichert durch das in der Geschäftsordnung des Bundestags verankerte Prinzip der offenen Abstimmung – weitgehend tun und lassen, was sie will. Die Opposition von 20 Prozent könnte sie nicht daran hindern. Ganz abgesehen davon, daß die Opposition in wesentlichen Fragen gar nicht daran denkt, der Regierung in den Arm zu fallen; sie unterstützt sie vielmehr nach Kräften, zum Teil mehr noch als deren eigene Leute. In dieser Situation wäre es an sich dringend wichtig, daß sich die Medien auf ihre herrschaftskritische Funktion besinnen und die Regierungspolitik unter die Lupe nehmen. Aber die meisten und noch dazu alle großen Medien sind davon weit entfernt. Sie machen mit der Regierung in denkbar weitem Umfang ebenfalls gemeinsame Sache. Aus all dem resultiert ein Zustand, wie ihn die Bundesrepublik bisher noch nicht erlebt hat. Kritische Beobachter können sich auf das, was derzeit vorgeht, keinen Reim mehr machen. Viele frühere DDR-Bürger fühlen sich an alte Zeiten erinnert, in denen sie erleben durften, wie sich eine Diktatur als Demokratie – noch dazu als „Volksdemokratie“ – getarnt hat, ganz nach Walter Ulbrichts Devise: „Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“ Im Grunde läuft dies auf das Ende der Demokratie hinaus, wie sie sein sollte.

 

Im Gegensatz zur DDR gibt es in der Bundesrepublik allerdings Möglichkeiten, eine Regierung durch Wahlen auszuwechseln und die Politik auf einen anderen Kurs zu bringen. Auf eine Selbsttäuschung liefe es in diesem Zusammenhang freilich hinaus, wollte man auf eine Reform der bestehenden Parteien von innen heraus hoffen. Dem steht schon das in allen Organisationen wirksame „eherne Gesetz der Oligarchie“ entgegen, das der Führung die Herrschaft über die Basis garantiert. Wirkliche Änderungen sind nur von einem Austausch der regierenden Parteien selbst zu erwarten. Dafür gibt es im Prinzip zwei Möglichkeiten: Abwahl der Regierungspartei(en) und Wahl der bisherigen Oppositionspartei(en) zur herrschenden Mehrheit im Parlament oder aber die Wahl einer ganz neuen Partei, die das überkommene System aufmischt. Von der ersten Möglichkeit ist gegenwärtig nicht viel zu erwarten, weil die „Oppositionsparteien“ mit der Regierung in wesentlichen Fragen konform gehen und daher an deren Stelle auch keine andere Politik machen würden. Ein politischer Diskurs, der diesen Namen verdient, kann daher nur durch das Aufkommen und Erstarken einer neuen Partei, also „von außen her“ ermöglicht werden. Als eine solche Partei kommt derzeit nur die AfD in Betracht. Sie allein hat eine reale Chance, das Parteienkartell und den politisch-medialen Filz, der sich über das Land gelegt hat, aufzubrechen und die Demokratie wieder zu dem zu machen, was sie von Haus aus sein soll: nämlich ein offener Diskurs über die wesentlichen politischen Fragen eines Landes. Wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr, hat der Bürger bei den kommenden Wahlen daher wieder etwas zu entscheiden.

 

Das erklärt das ganze Spektakel. Denn um etwas anderes als um Machterhalt mit allen Mitteln geht es bei den eingangs berichteten Verbalausfällen nicht. Die „Volksvertreter“, die mit ihrer Politik den demokratischen Rechtsstaat aus dem Lot gebracht haben, sehen die Gefahr, die nunmehr ihnen selbst und ihren Privilegien droht, und sie schließen sich fester als je zusammen, um den Angriff des verhaßten Demos abzuwehren. Dabei schrecken sie augenscheinlich vor keiner Niedrigkeit und Bosheit zurück. Als Spezialisten bei der Bekämpfung politischer Gegner kennen sie bei diesem Geschäft keine Skrupel. Sachdiskussionen werden zu Schlammschlachten umfunktioniert, an die Stelle von Argumenten tritt die Diffamierung und moralische Schmähung des Gegners, das Niveau des Umgangs mit Andersdenkenden wird nachgerade unterirdisch. Den Rest besorgen Fußtruppen, zu denen man sich zwar nicht öffentlich bekennt, deren Wirken man aber mit heimlichem Wohlwollen zur Kenntnis nimmt: Abreißen von Wahlplakaten, Umwerfen von Ständen, Verschandelung von Büros und Privathäusern, Abfackeln von Autos, Verhindern von Parteiveranstaltungen, Niederschreien von Rednern, Drangsalierung im Geschäftsleben und am Arbeitsplatz…

 

Es ist daher buchstäblich wahr, was man hinter vorgehaltener Hand hören kann: man muß sich Sorgen machen um die Zukunft der Demokratie in unserem Land. Dies aber nicht deshalb, weil eine neue Partei am Horizont aufgetaucht ist, sondern weil die bestehenden Parteien sich das ganze System zur Beute gemacht haben und jeden niederzukartätschen suchen, der ihren Auserwähltheitsanspruch auch nur leise in Frage stellt. Wenn die Demokratie mehr sein soll als ein Wort, darf man dazu nicht schweigen.

 

Der besorgte Bürger mag zuletzt fragen, wie es nur möglich ist, daß die politische Elite in Staat und Gesellschaft all dies nicht ebenfalls sieht und warum sie sich vor Einsichten verschließt, die fast mit Händen zu greifen sind. Der Physiker Hermann Oberth hatte dafür eine einfache Erklärung parat, die es wert ist, mitgeteilt zu werden: "Im Leben stehen einem anständigen Charakter so und so viele Wege offen, um vorwärts zu kommen. Einem Schuft stehen bei gleicher Intelligenz und Tatkraft auf dem gleichen Platz diese Wege auch alle offen. Daneben aber auch noch andere, die ein anständiger Kerl nicht geht. Er hat daher mehr Chancen, vorwärts zu kommen, und infolge dieser negativen charakterlichen Auslese findet eine Anreicherung der höheren Gesellschaftsschichten mit Schurken statt.“ Auch dies läuft auf eine Einteilung der Gesellschaft in Anständige und Unanständige hinaus, allerdings in einem anderen Sinn, als es manchen Politikern vorschwebt.

 

Auch eine neue Partei wird sich, wenn sie erst einmal Fuß gefaßt hat, diesem Oberth’schen Gesetz, wie man es nennen könnte, schwer entziehen können. Solange sie jedoch noch um einen Platz an der der Sonne kämpft, hat sie zunächst einmal darunter zu leiden, weil die vorhandenen Institutionen bereits voll unter der Herrschaft dieses Gesetzes stehen. Das ist die Realität der Demokratie, wie man sie in Deutschland täglich erleben kann. Man braucht nur die Zeitung aufzuschlagen oder das Fernsehgerät anzuschalten, dann hat man sie vor Augen.

Für die Inhalte der Blogs und Kolumnen sind die jeweiligen Blogger verantwortlich. Die Beiträge der Blogger und Gastautoren geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.

Ihnen hat der Artikel gefallen? Bitte
unterstützen Sie mit einer Spende unsere
unabhängige Berichterstattung.

Abonnieren Sie jetzt hier unseren Newsletter: Newsletter

Kommentare zum Artikel

Bitte beachten Sie beim Verfassen eines Kommentars die Regeln höflicher Kommunikation.

Gravatar: Tomas Poth

... niederzukartätschen...

Schöne Wortanlehnung an Kaiserzeiten als die Obrigkeit sich dem Wandel widersetzte, damals mit Waffengewalt.
Heute wird aus allen "Rohren" der etablierten Parteien und Medien auf Andersdenkende "geschossen" weil sie um ihre "Manipulationshoheit" kämpfen, um den Zusammenbruch ihres "rotgrünen Deutungsreiches" und um ihre Fleischtöpfe fürchten.

Also neue Parteien wählen und wieder mehr Demokratie wagen.

Gravatar: Jürgen Herzog

Selten so eine gute Einschätzung der Lage gelesen.
Die Diktatur der Demokraten wird richtige Demokratie nicht zulassen.

Schreiben Sie einen Kommentar


(erforderlich)

Zum Anfang