Wie gefährdet man die soziale Kohäsion?

In einer aktuellen Studie zur Einkommensverteilung privater Haushalte in Deutschland warnen Wissenschaftler des DIW vor einer sozialen Polarisierung. Doch die Gefahr für die soziale Kohäsion geht weniger von der tatsächlichen Einkommensentwicklung als von derartig suggestiver Wissenschaft aus.

Veröffentlicht:
von

In der Studie „Polarisierung der Einkommen: Die Mittelschicht verliert“ äußern Wirtschaftsforscher des DIW die Besorgnis, dass eine starke Einkommenspolarisierung den sozialen Zusammenhalt gefährde. Sie stellen fest, dass durch eine jeweilige Zunahme der Gruppe gering verdienender und höher verdienender Haushalte die Gruppe der Haushalte mit mittleren Einkommen schwinden würde und machen hier sozialen Sprengstoff aus:

„In der Wahrnehmung der Menschen wird dies als eine Vergrößerung der Ungleichheit wahrgenommen: Auf der einen Seite steigt die Zahl der Wohlhabenden, und auf der anderen Seite die Zahl derjenigen, die mit niedrigem Einkommen auskommen müssen oder sogar arm sind. Besondere Besorgnis löst ein solcher Wandel verständlicherweise bei der mittleren Einkommensgruppe aus, da die Befürchtung, in die untere Einkommensgruppe abzusteigen, als starke Bedrohung des einmal erreichten Status erlebt wird. Eine starke Polarisierung der Einkommen kann die soziale Kohäsion gefährden, da die stabilisierende Wirkung einer breiten Mittelschicht nachlässt, wenn die Lebens- und Konsumchancen und damit die Erfahrungswelten in der Bevölkerung sich stärker auseinanderentwickeln.“

Ein Blick in die Studie zeigt jedoch, dass die Verunsicherung eher eine Ursache der Darstellung der Entwicklung durch die Wissenschaftler, als eine Folge der tatsächlichen Sachlage sein dürfte. Stellen Sie sich vor die Autoren hätten ihre Erkenntnisse folgendermaßen dargestellt: Die äquivalenzgewichteten Monatseinkommen der Haushalte mit niedrigen Einkommen sind seit 1993 von 643 auf 677 Euro gestiegen. Im gleichen Zeitraum haben auch die Äquivalenzeinkommen der Haushalte mit mittleren Einkommen von 1222 auf 1311 Euro zugelegt. Schließlich sind die Äquivalenzeinkommen der als reich eingruppierten Haushalte von 2372 auf 2672 Euro gestiegen. Sowohl die Haushalt mit niedrigen, als auch mit hohen Einkommen verfügten zu Beginn des letzten Jahrzehnts schon einmal über eine etwas höhere Kaufkraft. Die Mittelklassehaushalte folgten zwar einer analogen Entwicklung, doch erreicht deren Durchschnittseinkommen im Jahr der Wirtschaftskrise den höchsten Wert seit 1993. Interessant ist, dass die Wirtschaftskrise in keiner der betrachteten Einkommensgruppen zu einem Rückgang der Haushaltseinkommen geführt hat. Absolut gerechnet geht es also allen Einkommensgruppen heute besser als 1993 und im Falle der Niedrigeinkommens- und Hocheinkommenshaushalte nur wenig schlechter als in den Jahren 1999-2001 bzw. 2003. Der Mittelklasse ging es im vergangenen Jahr besser als in jedem betrachteten Jahr zuvor. Doch auch der Einkommensrückgang der Bezieher niedriger Einkommen gegenüber dem Höhepunkt im Jahr 2001 macht gerade einmal die Kosten eines Bierkastens aus.  Um hier sozialen Sprengstoff hinein interpretieren zu können, muss man schon den Trick der Betrachtung der relativen Einkommensentwicklung bemühen, die den Bürgern schmerzlich bewusst werden lässt, dass sie zwar reicher geworden sind, es aber immer jemand anderes gibt der noch höhere Einkommenszuwächse erlangt hat, als man selbst. Erst diese Perspektive führt zu Unbehagen und gibt Grund zum Jammern auf hohem Niveau.

Doch auch diese Erkenntnis sollte man bei näherer Betrachtung mit einem großen Fragezeichen versehen. Schließlich erfährt man nicht viel über die Einkommenssituation der einzelnen Bürger, wenn die Autoren in Zeiten großer demographischer Veränderungen suggerieren, die Haushalte der frühen neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts wären die selben wie die des Jahres 2009. So hat sich innerhalb dieser eineinhalb Jahrzehnte der Anteil der Einpersonenhaushalte von 34,2 auf mindestens 39,4 (2008) Prozent erhöht, man kann also annehmen, viele Einkommens- und Transferbezieher in ihrem Haushalt inzwischen nur deshalb als ärmer gelten, weil sie nicht mehr zu zweit oder zu dritt leben. Ohne diese Informationen erfährt der Leser nicht, ob die Einkommen tatsächlich gesunken sind oder der Wandel durch die Verringerung der Haushaltsgröße zustande gekommen ist.  Interessanterweise ist der Anteil der Zweipersonenhaushalte, in denen Doppelverdiener ohne Kinder gern leben, im gleichen Zeitraum von 31,4 auf 34 Prozent gestiegen. Vielleicht sind aus einigen Einpersonenhaushalten mit mittleren Einkommen auch Zweipersonenhaushalte mit einem hohen Einkommen geworden, so dass auch ein Teil des Anstiegs der gut verdienenden Haushalte mit einer Veränderung der Haushaltsstruktur erklärbar ist. Zudem bleibt unklar inwiefern diese Ergebnisse durch eine Veränderung der Erwerbsbiografie der Bürger beeinflusst werden. So zählen wir in Deutschland seit Jahrzehnten eine Zunahme von Studierenden mit niedrigem Haushaltseinkommen, die ihre Einkommenssituation erst sehr viel später als frühere Generationen, dann aber sehr viel stärker verbessern. Unter diesen Bedingungen werden sehr schnell aus armen Studentenhaushalten einkommensstarke Haushalte der Oberklasse. Schließlich dürfte die Zuwanderung vor allem aus Ländern mit niedrigeren Einkommen nach Deutschland und die anhaltende Abwanderung von tendenziell höher qualifizierten Menschen ins Ausland zu einer Veränderung der messbaren Einkommensstruktur deutscher Haushalte führen, die nicht unbedingt die Veränderung der längerfristigen  Einkommenssituation in über den Längsschnitt betrachteten Haushalten widerspiegelt.  Alle genannten Einwände sind zwar eher Spekulation, doch die Information, ob derartige Veränderungen Einfluss auf die Einkommensverteilung der Haushalte haben, bleiben uns die Autoren schuldig.

Die These vom Verlust der sozialen Kohäsion durch eine wachsende Schere zwischen Armen und Reichen gewinnt allein dadurch an Brisanz, dass derlei Dateninterpretationen durch Wissenschaftler mit klaren Hintergedanken unter das Volk gestreut werden. Kein Mensch ist in der Lage eine „Polarisierung“ der Gesellschaft bezüglich der Haushaltseinkommen allein auf der Basis seiner persönlichen Erlebniswelt nachzuvollziehen, wenn ihm die für eine solche Bewertung notwendigen Zahlen nicht mundgerecht öffentlich finanzierte Denkfabriken präsentiert werden. Nur wenige kämen auf den Gedanken sich an Veränderungen der Haushaltseinkommen ihnen völlig unbekannter Menschen zu stören, würde man ihnen das Unbehagen nicht mit derartig an Aussage mangelnden Zahlenaggregaten einreden. Statt sich mit seinem Nachbarn über die Beförderung oder den Karrieresprung bei einem Glas Wein zu freuen,  ärgern sich die Menschen über soziale Ungleichheit. Die Freude über den Lottogewinn der Großeltern schlägt angesichts ihres Niederschlags in der Statistik als zunehmende Einkommensungleichheit schnell in ein soziales Ärgernis um. Im täglichen sozialen Umgang vernünftigerweise unterdrückten Neidreflexe der Menschen werden durch Wissenschaft und Medien erst angeheizt, indem man statistische Einkommensunterschiede entpersonalisiert und aus dem persönlichen Kontext heraus reißt. Ich selbst wohne im Berliner Stadtbezirk Kreuzberg in einem Haus, in dem Haushalte mit niedrigen, mittleren und hohen Einkommen friedlich und ohne Argwohn beisammen wohnen. Und wenn die türkische Nachbarin meiner schwangeren Freundin fast einmal pro Woche mit dem Verweis auf ihren höheren Ernährungsbedarf Essen an die Tür bringt, dann scheint es trotz der Einkommensunterschiede um die soziale Kohäsion im Kiez nicht allzu schlecht zu stehen. Niemand bricht hier eine Lanze für die Unwissenheit der Bürger, doch Informationen, die keine echten Informationen sind, weil sie manipulativ präsentiert und ihnen zudem der ausreichende Kontext sowie der Bezug zum privaten Umfeld der Bürger fehlt, verursachen gerade das, wovor sich die Wissenschaftler des DIW so fürchten.

Dieser Beitrag erschien auch auf "Denken für die Freiheit", dem Weblog des Liberalen Instituts der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

Für die Inhalte der Blogs und Kolumnen sind die jeweiligen Blogger verantwortlich. Die Beiträge der Blogger und Gastautoren geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder.

Ihnen hat der Artikel gefallen? Bitte
unterstützen Sie mit einer Spende unsere
unabhängige Berichterstattung.

Abonnieren Sie jetzt hier unseren Newsletter: Newsletter

Kommentare zum Artikel

Bitte beachten Sie beim Verfassen eines Kommentars die Regeln höflicher Kommunikation.

Keine Kommentare

Schreiben Sie einen Kommentar


(erforderlich)

Zum Anfang