Weshalb der Millionär weint

Wenn ein reicher Mann viel Geld verliert, wird ihm selten Mitgefühl der Öffentlichkeit zuteil. Ist ab einer gewissen Einkommensgrenze der Mensch kein Mensch mehr, der leidensfähig ist?

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Jede Gesellschaft vermittelt ein gewisses Lebensgefühl. Dieses ist verknüpft mit den jeweiligen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Eine überwiegend positive und hoffnungsfrohe Stimmung herrscht, wenn im praktischen Lebensvollzug ein hohes Maß an wirtschaftspolitischer Vorhersagbarkeit den Menschen Sicherheit garantiert. Einsatz und persönliche Leistung lohnen sich. Die individuelle Arbeit trägt Früchte. Das eigene Leben im Griff zu haben, beflügelt das Denken und Tun aller.

Hingegen breitet sich negative Stimmung aus, sobald trotz verstärkten persönlichen Einsatzes der allgemeine Wohlstand sinkt. Das Gefühl eigenen Versagens, die Vergeblichkeit des Handelns, das Eintreten von Unvorhergesehenem, scheinbar Schicksalhaftem – dies alles verdirbt die Stimmung. Ratlosigkeit wird schließlich zu Mutlosigkeit. Die Oberlehrer des Volkes stellen dann fest, daß „auf hohem Niveau“ gejammert werde. Die Äußerung von derlei Unsinn zeugt weder von Einfühlsamkeit noch von profunder Kenntnis der menschlichen Psyche.

Jeder kennt den Witz vom Betrunkenen, der den verlorenen Schlüssel unter der Laterne sucht, obwohl er weiß, daß er diesen dort nicht verloren hat. Menschen einfachen Gemüts pflegen nach Antworten auf Lebensfragen an scheinlogischen Orten zu suchen, weil die intellektuelle Anspruchslosigkeit den Zugang erleichtert. So entsteht eine Momentaufnahme: das statische Bild von Gesellschaft und Wirtschaft. Ursachen erscheinen monokausal, Lösungen liegen auf der Hand. Schon Frédéric Bastiat prangerte in seinem feurigen Essay „Was man sieht und was man nicht sieht“ aus dem Jahre 1850 das statische Oberflächendenken der Menschen an. Hier die Reichen, dort die Ausgebeuteten. Der Faktor Zeit, welcher Werdegang und Ursachen bloßlegen würde, bleibt ausgeklammert, da auf der Momentaufnahme unsichtbar. Der schlichte Verstand, durch den Schein der Laterne randscharf und kleinflächig ausgeleuchtet, schlußfolgert: dem Reichen etwas fortzunehmen, sei ein Schritt zu sozialer Gerechtigkeit und daher notwendig. So denken die Sozialisten. So denken deren blindgläubige Anhänger.

In der Presse wird wieder einmal die Geschichte eines Multimillionärs verbreitet, der einige Millionen Verlust zu beklagen hat. Man betrachtet mehrheitlich den Vorgang als gerechtfertigt, Kommentare dünsten klammheimliche Genugtuung aus. Zeigt der amputierte Millionär seinen Kummer über den Verlust, überbieten sich Journaille und Kommentatoren gegenseitig an Häme und Empörung: Wie kann ein Noch-Millionär über Verluste jammern? Ist ihm doch immer noch ein Vielfaches dessen zum Leben geblieben, was man selbst je zur Verfügung haben wird! Ist gar einer so unverfroren, sich aus schierer Verzweiflung das Leben zu nehmen, so reibt man sich verblüfft die Augen; dieser Schritt erscheint ganz und gar unverständlich! Die Restmillionen, die der Tote zurückläßt, die hätten ihm wohl doch allemal gereicht …

Und darum weint der Millionär

Das prozessuale Gesellschaftsverständnis hilft, die Verzweiflung des mit Verlusten ringenden Millionärs zu verstehen. So wie das individuelle Dasein vom Auf und Ab des Geschicks geprägt ist, so beobachten wir auch ein gesamtgesellschaftliches Auf und Ab. Jeder einzelne empfindet es. Werden wir aufwärts gehoben, dann fühlen wir uns gut. Geht es abwärts, erfaßt uns Schrecken. Diese Gefühle sind weder durch unser Wollen verursacht, noch sind sie auf willentlichem Wege rational beeinflußbar. Das Auf und Ab spürt jeder, ungeachtet seiner jeweiligen Position auf der nationalen Wohlstands- und Einkommensskala.

Dem gehobenen Gefühlszustand in Zeiten des Aufschwungs stehen Angst und Verzweiflung in Phasen des Abschwungs gegenüber. Und weil es anscheinend so schwer zu begreifen ist, sei es noch einmal gesagt: Dies gilt für alle Menschen gleichermaßen, ob arm oder reich, ob jung oder alt, ob gesund oder krank. Daher ist nicht nur der Arme bedrückt, auch der Reiche leidet, wenn das allgemeine Wohlstandsniveau fällt. Der Verlust einer Million Euro kann einen Menschen in die Verzweiflung treiben, auch wenn ihm eine weitere Million zum vergleichsweise angenehmen Leben verbleibt. Verlust ist und bleibt Verlust, auf jedem Niveau.

Verlust ist universell mit dem Gefühl des Versagens und der Unsicherheit verbunden. Verlust erzeugt das Empfinden der Bedrohung und der Vernichtung. Diese Gefühlsabläufe sind in der menschlichen Psyche verankert. Auch Millionäre zählen zu den Menschen. Keine Skala zeigt an, ab welcher Größenordnung der individuelle Verlust objektiv als schmerzhaft und vernichtend zu gelten hat.

Sündenbockdenken: ungerecht und fatal

Wird der Verlust nicht durch schicksalhafte Umstände verursacht, sondern durch politische Willkür, dann ist er besonders schwer zu verkraften. Es weint daher nicht nur der Arme, wenn ihm Besitz entrissen wird. Es weint auch der Millionär. Ihn plagen dieselben Ängste wie den Armen, er geht durch dieselbe Verzweiflung. Ihn kränkt dasselbe Empfinden für Unrecht. Hinzu kommt, daß sein Sturz ihn tiefer und härter trifft als den Armen, der gelernt hat, mit wenig auszukommen.

Einem Menschen bloß deshalb das öffentliche Mitgefühl zu versagen, weil er es wegen Reichtums nicht verdiene, ist eine grobe Unhöflichkeit und zugleich Zeugnis seelischer Roheit. Dem Sammelbegriff „Millionär“ als Abstraktion haftet eine negative Konnotation an, gespeist aus zwei schamsprudelnden Quellen; dem Neid und der Mißgunst. Die Bereitschaft der Leute, ihren unterschwellig vorhandenen Neid instrumentalisieren zu lassen, ist von den Berufsdemagogen aller Zeiten geschickt genutzt worden. Die kollektive Verurteilung eines Menschen, allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, Rasse oder Klasse, ist nicht nur ungerecht, sie ist obendrein fatal, haben wir das nicht begriffen? Wer auch immer das jeweilige Opfer sein mag: Angesichts der Tragik persönlicher Verluste sind Häme und Spott unangebracht. Und das nicht nur an Weihnachten.

 

 

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