Wer will schon sitzenbleiben?

Durch die Pläne der neuen niedersächsischen Landesregierung, das Sitzenbleiben abzuschaffen, ist die Debatte über den Sinn und Unsinn des Wiederholens wieder voll entbrannt. Aber wer vordergründig übers Sitzenbleiben oder die Abschaffung von Noten diskutiert, verdrängt wichtige Zusammenhänge und gesellschaftspolische Implikationen. 

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Ja, Sitzenbleiben steht nicht auf der Hitliste von Schülerinnen und Schülern. Es ist immer ein deutlicher Einschnitt. Oft wird diese als Schmach empfunden. Ob damit die Einsicht wächst, ab nun engagierter zu lernen, ist oft ungewiss. Ja, den Zug zu verpassen oder durch falsches Verhalten eine Bewerbung zu vermasseln, bringt in der Regel Ärger, wirft einen zurück. Nun aber z.B. den Zug anhalten zu wollen, weil Franz oder Franziska mal wieder zu lange herumtrödelten, oder Firmen vorzuschreiben alle Bewerber gleichermaßen annehmen zu sollen, kann nicht die Lösung sein. Das Leben lehrt uns immer neu, dass jegliches Verhalten Konsequenzen nach zieht, alles seinen Preis hat. Auf die amtliche Mitteilung: ‚Versetzung nicht möglich’ nun mit einer politischen Initiative: ‚Wir schaffen das Sitzen-Bleiben ab’ zu reagieren, blendet Ursache und Wirkung weitestgehend aus. Mit anderen Worten: Wer so agiert, zäumt das Pferd von hinten auf und betreibt Augenwischerei. 

Wenn die Politik sagen würde, unsere Schulen sollen so werden, dass Kinder eine optimale Förderung erhalten, dann braucht man keine Diskussion ums Sitzenbleiben. Wer jedoch beim Sitzenbleiben ansetzt, wird in der Regel Leistungen reduzieren und durch geschönte Noten dokumentieren. Der Schritt, das Benoten ganz zu lassen, ist dann naheliegend. Dann fällt das Sitzenbleiben von alleine aus. Von daher ist zu klären, warum es geht. Wenn die Politik eine gute Schule machen will, dann soll sie eine gute Schule machen. Und wenn diese wirklich gut funktioniert, gibt es ohne populistischen Aktionismus von selbst keine Sitzenbleiber.

Wenn wir bei den Schülerinnen und Schülern ansetzen, werden schnell drei Personengruppen erkennbar. Da sind zunächst einmal Schülerinnen und Schüler, die nach objektiven Kriterien überfordert sind. Sie sind auf der falschen Schule, weil diese für das vom Kind Einbringbare nicht passt. Der zweite Personenkreis sind die - meist 11- 16jährigen - ‚Rumhänger’, die nichts oder alles Mögliche außer Schule toll finden: Jungs, Mädels, neue Medien, Freizeitinteressen. Dann gibt es Kinder, die aufgrund von belastenden Familienverhältnissen überfordert sind, weil die Eltern sich getrennt haben, weil sie keine Liebe und keine Zuwendung bekommen oder weil andere wichtige Grundbedürfnisse unerfüllt bleiben. In allen drei Fällen müsste eigentlich zusätzlich zum Wiederholen etwas ganz Unterschiedliches passieren. 

Bei der ersten Gruppe muss es einen Hinweis an die Eltern geben, ihr Kind in eine passendere Schulform zu geben. Es macht keinen Sinn, alle aufs Gymnasium zu drängen. In der zweiten Gruppe brauchen die Betroffenen einen kräftigen Anstoß, müssten Eltern, Schule und Schüler regelmäßig Zielvereinbarungen - mit entsprechenden Konsequenzen bei Nichteinhalten -  zum Lernen und Verhalten treffen. Ergänzend sind konkrete Termine zu Überprüfungsgesprächen zu vereinbaren, in welchen die jeweiligen Zwischenschritte überprüft werden. Im dritten Fall wären - in Ergänzung zu einem ‚Klartext-Gespräch mit den Eltern - Schulsozialarbeiter, das Jugendamt oder eine Erziehungsberatungsstelle einzuschalten, um so Hilfemöglichkeiten ausloten, wie das Kind in einer solch schwierigen Lebenssituation stabilisiert werden kann. 

Aber die aktuelle Diskussion greift auch die unterschiedlichen strukturellen Gründe für mehr oder weniger offensichtliche Leistungsmängel nicht auf. Liegt es überhaupt an den Schülern, oder müsste nicht manchmal - salopp gesagt - die Lehrkraft sitzenbleiben? Oder gehört vielleicht das Schulsystem insgesamt, das Lernsystem dieser Schule auf den Prüfstand? Wie gut ist das Zusammenwirken Schule und Eltern? Wird hier wirklich gemeinsame Mitverantwortung gelebt? 

Ob das das Wiederholen für die Schüler ein Anreiz, sich zusammenzureißen und zu lernen, oder vielleicht auch den gegenteiligen Effekt hat, ist ungewiss. Sicher werden einige nun erst recht keine Lust mehr auf Schule haben. Hier sind dann Schule und Elterhaus gleichermaßen gefordert. Fakt scheint zu sein, dass viele Kinder heute kein - oder ein zu geringes - Durchhaltevermögen haben und Ehrgeiz eher ein Fremdwort ist. Aber unsere Gesellschaft baut darauf, dass Leistung erbracht wird, eine Voraussetzung für Ansehen und Besitz. Zu beobachten ist jedoch, dass zu viele - ob Groß oder Klein - nach dem Grundsatz handeln, sich möglichst viel leisten zu wollen, ohne selbst Leistung einzubringen. Ob solche Zusammenhänge gerne zur Kenntnis genommen werden, ändert nichts daran, dass wir selbst- oder mit-verursachte Dinge auch auslöffeln müssen. Das sollten - neben den anderen Beteiligten - auch Kinder von früh auf lernen. 

Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, äußert sich zu solchen Vorgängen sinngemäß wie folgt. Es ist kein Schaden, wenn ein Kind sich minderwertig fühlt, sondern ein Glück, weil es dem - gesunden - Kind ein Ansporn zur weiteren Entwicklung ist. Es wird schnell versuchen, durch Kompensation diesen Mangel anzugleichen, um so wieder einen anerkannten Platz in der Gesellschaft zu haben. Setzt dieser Vorgang nicht ein, was bei nicht wenigen der heutigen Kindern und Jugendlichen anzunehmen ist, dann wird es höchste Zeit, diese Selbstverantwortung erlernen zu müssen. Denn nach der Erfahrung, nicht mehr ‚Sitzenbleiben zu können’, wird diese - falls überhaupt noch im Blick ist, durch Arbeit Geld zu verdienen - aufs Berufsleben übertragen werden. Können bzw. Leistungsbereitschaft als Voraussetzung für ein eigenständiges Leben werden so ausgeklammert, ein Leben im Schlaraffenland angestrebt. Es waren Jugendliche, die ‚Harzen’ zur Berufs- und Lebens-Perspektive erklärten. 

Kinder und Jugendliche benötigen zum Heranwachsen stabile emotionale Rahmenbedingungen, um sie zu einem Leben in Eigenständigkeit und Selbstverantwortung zu führen. Um zu lernen, sich für Zielerreichungen auch anstrengen zu wollen, sind ergänzend auch bald einsetzende positive bzw. negative Konsequenzen unabdingbar. Das belegen alle Lernforscher gleichermaßen. So erfahren wir ständig neu, dass Menschen sich dann engagiert in Gang setzen, wenn sie Wichtiges erreichen oder Negatives bzw. Bedrohliches vermeiden wollen. Also sollte auch unser Nachwuchs in Schule und im Elternhaus diese Lern-Motivation lebensnah erfahren. Auf das Elternhaus bezogen gebe ich in meiner Beratungsarbeit folgenden Denkimpuls mit: Wenn ein Schüler wegen Herumhängen oder direkter Lernverweigerung das Versetzungszeugnis nicht bekommt, ist das ja so ähnlich, als wenn sein Geburtstag ausfallen würde. Und dann fallen auch alle damit verbundenen Privilegien wie Geschenke, späteres Nachhausekommen oder erhöhtes Taschengeld aus. Wenn das im Vorhinein klar ist, würde der Anreiz wesentlich größer sein, sich während des Jahres mehr anzustrengen. ‚Ohne Fleiß (und Schweiß) meist kein Preis’, sagt uns der Mund des Volkes immer neu. Wir sollten diesen Wissens- und Erfahrungs-Schatz auch Kindern und Jugendlichen nicht vorenthalten. 

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Gravatar: Meier

Es ist und bleibt die Lern-Motivation, wie Sie sie beschreiben Herr Dr. Wunsch, die Lust, etwas erfolgreich selbst zu schaffen.
Ob Schulabschlüsse, Berufsausbildungen oder Studienabschlüsse, es liegt in erster Linie an der persönlichen Motivation und dann an den jeweiligen Fähigkeiten der Einzelnen.
Diese Selbstverantwortung weg zu delegieren, in dem der Misserfolg zu einem gesellschaftspolitischen Entschuldigungs-Alibi umdeklariert wird, ist linke Agitationsrhetorik, mit der an ihrem fehlenden Fleiß, an ihrer nicht erbrachten Leistung gescheiterte Unzufriedene, sich ihren Neid auf „die Anderen“ als „die Privilegierten“ auf ihre Fahne pinseln. Die Selbstverantwortung für das eigene Schicksal nicht bei sich, bzw. bei den gesellschaftlichen Verhältnissen vorfinden zu wollen, ist so als ob die Schere mit der man sich verletzte entschärft werden müsse.
Schlimmer ist nur das solche „Kindsköpfe“ sich als Politiker aufspielen und dumme Streiche aufführen.

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