Wenn Verlierer sich als Gewinner feiern

Nach der Europawahl debattieren die Medien über die Krise der SPD. Und verkennen, wer der wirkliche Verlierer ist: Bundeskanzlerin Merkel und ihre Union.

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"17 Prozent vor der SPD". So die Jubel-SMS von CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla an alle Europaabgeordneten, Kandidaten und höheren Parteifunktionäre. Es wäre interessant zu wissen, was die sieben aus dem Parlament geflogenen Europaabgeordneten der Union dachten, als sie den Jubelbefehl aus Berlin erhielten.

Die Union feiert sich als Wahlsieger der Europawahl - trotz eines "Minus-Wachstums" von knapp 6 Prozent. Die SPD wird als Verlierer tituliert - und hat dabei im Vergleich zur letzten Europawahl weniger als einen Prozent ihrer Stimmen eingebüßt. Damit aber alle Parteifunktionäre auf die Siegesparade einschwenken, vergleicht die CDU-Bundesgeschäftsstelle in ihren Wahldokumentationen Birnen mit Äpfeln. Im Vergleich zur Bundestagswahl habe man zugelegt. Dieser Gewinn fällt jedoch sehr mager aus und bewegt sich im Null-Komma-Bereich. Außerdem verkennt eine solche Betrachtung die Tatsache, dass die Union traditionell bei den Europawahlen besser abschneidet als bei darauffolgenden Bundestagswahlen. Angesichts eines Ergebnisses von 37,9 Prozent sollte im Adenauerhaus eher Panik als Gelassenheit ausbrechen.

Doch man fühlt sich in seinem Kurs bestätigt. Da schon der Europawahlkampf auf die eigene Vorsitzende zugeschnitten wurde, wird man nun auch den Bundestagswahlkampf zum Plebiszit über die Kanzlerin machen. Die Werbelinie ist festgelegt: "Angela Merkel - Weltklasse für Deutschland." Dass echte Polit-Schwergewichte wie Helmut Kohl mit einer solch banalen Botschaft bereits 1994 knapp an der politischen Katastrophe vorbeigeschrammt sind,  hat man in der Parteizentrale beim Umzug von Bonn nach Berlin scheinbar vergessen. Am 7. Juni hat der Unionsdampfer den Eisberg geschrammt. Doch die Kapelle spielt weiter. Denn am Wahlabend sind alle Gewinner.

Wenn man die Augen schloss und nur noch den Verlautbarungen von CDU-Generalsekretär Pofalla lauschte, sah man die Union schon als Trägerin einer absoluten Mehrheit bei den Bundestagswahlen im September ins Ziel gehen. Doch die Realität wird bitter sein. Noch immer besuchen in Deutschland am Wochenende mehr Menschen den Gottesdienst als die Stadien der Bundesliga. Feldumfragen im wertkonservativen Bereich verraten, dass viele Christen bei der Europawahl noch einmal zähneknirschend das Kreuz bei der Union gemacht haben – aus Liebe zu Europa. Merkel lieben diese Wähler jedoch nicht. Und ihre Liebe zu Deutschland legt ihnen ein Kreuz bei der Merkel-Union auch nicht nahe. Im Gegenteil: Im Kanzleramt geht man von 200.000 verlorenen Stimmen allein wegen der Papst-Schelte der Kanzlerin aus. Dabei noch nicht berücksichtigt sind andere Reizthemen wie die Verschiebung des Stichtags in der Forschung mit humanen Stammzellen und die Familienpolitik. Die Union entfremdet sich von ihrem wertkonservativen Kern. Der wird von Parteistrategen im Adenauerhaus fatalerweise als „rechter Rand“ abgekanzelt. 

Gewinner der Wahl: Die „Sonstigen“

Wirkliche Gewinner im eigentlichen Sinne des Wortes dieses bundesweiten Urnengangs sind die FDP, die LINKE sowie die Grünen. Und - mehr als all diese zusammen – solche Parteien, die unter „Sonstiges“ verbucht werden. Das sollte zu denken geben. Krasser noch fällt dieses Phänomen im gesamteuropäischen Kontext aus: Während bis auf die Grünen sämtliche bisherigen Fraktionen in Straßburg federn lassen müssen, steigt der Anteil „anderer Parteien“ von 3,8 auf 12,6 Prozent, also um mehr als das Dreifache. Es sind vor allem Protestparteien, die aus ganz Europa Vertreter in diese immerhin 93 Mandate starke „Fraktion“ entsenden. 350.000 ehemalige Unionswähler haben nach parteiinternen Berechnungen am 7. Juni ihr Kreuz bei einer der "anderen Parteien" gemacht. Ein Blick auf die Zahlen des Bundeswahlleiters verrät, dass das Leck viel größer ist: 230.000 Wähler schenken der Piratenpartei mehr Vertrauen als Merkels Union. 250.000 Deutsche wählen die Partei FAMILIE und geben nicht der Union ihre Stimme - trotz der "großartigen" Leistungen von Frau von der Leyen. Oder vielleicht gerade wegen ihnen? Die Zahlen vom 7. Juni wären Anlass, die Mannschaft umzustellen und den Kurs zu ändern. Doch die Rufe aus dem Maschinenraum kommen auf Deck des CDU-Dampfers nicht mehr an.

 

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