Die Kamera zeigt, wie das Wasser weitflächig vordringt, die brachliegenden Äcker überschwemmt. Wie harmlos sich das aus der großen Entfernung ausnimmt – ein Sandkastenspiel!
Kindheitserinnerungen tauchen auf. Mit Hilfe eines Gartenschlauches flutete ich ein Gartenbeet. Noch heute fühle ich die Faszination, als ich beobachtete, wie sich das Wasser seinen Weg bahnte: zunächst durch Rillen und hinein in Einbuchtungen, dann allmählich die höher gelegenen Teile überspülend. Die schäumende Bugwelle schob Erdkrümel, Steinchen, Federn Samen und Blütenblätter vor sich her. Ein strampelnder Käfer wurde mitgespült. Damals ahnte ich nicht: durch mein Handeln wurde eine Naturkatastrophe im Kleinen ausgelöst. In der Mikrowelt gab es keine Rettung; aus meiner Makrowelt heraus hätte ich allein die Macht gehabt, das Unheil zu beenden. Die Urgewalt, die den Käfer mitriß, war für mich unbegreiflich, deshalb vermittelte sie mir kein Grauen. Ich war der Riese; das ungünstige Größenverhältnis zwischen mir und dem Käfer bedingte eine große räumliche Entfernung, die das Entstehen von Empathie erst gar nicht zuließ.
Dies ist kein Spiel
Auch an diesem Freitagabend bin ich der „Riese“. Ich sitze vor einem Bildschirm, nippe an der Teetasse und blickte „hinunter“ auf die Miniaturlandschaft. Mein nüchtern beobachtendes Auge sieht, wie die Erde Stück für Stück von der Flutwelle erfaßt und bedeckt wird. Ich beobachte, wie die Zunge der Wasserwoge schäumend am Land leckt, sanft und freundlich sieht das aus. Fahrzeuge, klein wie Käfer, bewegen sich, wie es scheint, ohne Eile auf den Straßen fort. Alles wirkt normal. Nichts deutet auf Panik hin. Allein mein Verstand sagt: hier spielt sich eine Katastrophe ab, und du bist Zeuge! Hier werden Fahrzeuge fortgerissen, und die Menschen, die sich in ihnen befinden, haben nicht die geringste Möglichkeit des Entkommens! Das ist kein Spiel, das ist Realität!
Mit wachsendem Grauen beobachte ich, wie die schäumende Vorhut des Verderbens all die Gegenstände mit sich führt, welche sich der Naturgewalt in den Weg gestellt haben: Bretter, Buschwerk, Hausrat, Fahrzeuge, Gebäudeteile, Dächer, ganze Häuser. Wo immer diese brisante Mischung aus Material und Wasserkraft aufprallt, ist Zerstörung die Folge.
Und ich wiederhole in Gedanken den immergleichen Satz: dies ist kein Spiel. Doch meine Vorstellungskraft versagt angesichts der rein visuellen Eindrücke. Ich bin nicht nur „Riese“, sondern auch allmächtig. Die Bilder auf dem Monitor gehorchen meinem Willen. Ich kann sie anhalten, erneut abspielen, ganz verschwinden lassen. Welche Gefahr dem innewohnt, wird allmählich deutlich. Aus dem Helikopter betrachtet, wirkt das Geschehen in gespenstischer Weise harmlos. Sofern der Betrachter den Schmerz, die Angst und das Leid nicht aus
eigener Erfahrung kennt und sich lebhaft an sie erinnert, wird er nicht fähig sein, die Not der Betroffenen auch nur annähernd zu erfassen. Je größer die räumliche Distanz zum Geschehen, desto mehr beschränkt sich das Interesse auf rein äußerliche Aspekte. Erregende Bilder stillen die Sensationslust, Mitgefühl wecken sie kaum. Dem Schicksal der betroffenen Menschen gegenüber ist der „Riese“ ebenso gleichgültig wie das Kind, das mit technisch motivierter Neugierde die Überflutung eines Gartenbeetes verfolgt. Mitgefühl setzt Nähe voraus, zumindest die Erinnerung an Nähe – und das ist durchaus räumlich gemeint.
Fürsorge setzt Nähe voraus
Das Video hat mich sehr nachdenklich gestimmt. Ich dachte an das Los jener Familien, deren Angehörige im Zuge der zunehmenden Arbeitsteilung und Fremdbestimmung des Daseins räumlich und zeitlich immer mehr auseianderdriften. Jedes Familienmitglied geht seiner Wege: das eine zur Arbeit, das andere in den Kindergarten oder in die Schule. Körperliche Nähe ist zur Befriedigung der primären Lebensbedürfnisse nur noch rudimentär vonnöten. Ein steriles Räderwerk von Arbeitsteilungen sorgt für Ernährung, Sauberkeit, Unterweisung und Unterhaltung. Räumlich voneinander getrennt verbringt ein jedes Familienmitglied den Großteil des Tages.
Das Auseinanderleben ist wörtlich zu verstehen: die Entfernung wächst. Wo die Entbehrung der Nähe den direkten Kontakt unterbindet, schwindet die
Fähigkeit zu emotionaler Teilhabe an Freude und Sorgen des anderen. Das Riechen, Schmecken, Hören, Fühlen – kurz, die sinnliche Wahrnehmung der Welt kann nicht durch die kognitive Dimension ersetzt werden, wie sie zum Beispiel das Kommunizieren mittels Mobiltelefon darstellt. Der Verstand ist kein Ersatz für sinnliches Erleben. Entfernung erzeugt zwangsläufig eine Art emotionaler Sterilität. Fürsorge setzt körperliche Nähe voraus.
Und so werden sie einander fremd: die Eltern und die Kinder. Sie betrachten sich wechselseitig wie durch ein Fernrohr, das verkehrt herum ans Auge gehalten wird, und kühle Distanz stellt sich ein. Das Gefühlsvakuum wird durch Aktionismus und künstliche Regeln gefüllt. Die lähmende Entfremdung läßt sich dadurch nicht aufheben. Der direkte Kontakt zwischen Eltern und Kindern ist geschrumpft auf technisch-organisatorische Fragen, die zwischen Tür und Angel flüchtig gelöst werden.
Gibt es einen Ausweg?
Ja, ich weiß. Die Uhr läßt sich nicht zurückdrehen, plötzliche gesellschaftliche Veränderungen sind nicht zu erwarten, selbst wenn alle sie wollten. Eine ehrliche und realistische Betrachtung der Umstände zwingt zur unbequemen Einsicht, daß die gesellschaftspolitisch geduldete, wenn nicht gar gewollte Entfremdung zwischen Eltern und Kindern ein folgenschwerer Irrtum ist, dessen negative Resultate allmählich Kontur annehmen. Hier nützen weder Leugnen noch Beschönigen. Jeder einzelne kann sich in seinem persönlichen Umfeld für mehr Nähe einsetzen. Wir müssen physisch am Leben unserer Nächsten teilnehmen, um auf diese Weise Verantwortung tragen zu können – nicht nur für uns selbst, sondern auch für den anderen. Aus der Entfernung kann das nicht gelingen. Nie werden wir die zerstörerische Kraft von entfesselten Naturgewalten begreifen, schon gar nicht, solange wir das Geschehen lediglich mittelbar erleben – aus der Vogelperspektive und mit großem räumlichen Abstand.
Kommentare zum Artikel
Bitte beachten Sie beim Verfassen eines Kommentars die Regeln höflicher Kommunikation.
Ein paar Gedanken zum Artikel.
Fürsorge setzt m.E. nicht nur Nähe sondern Mitempfinden voraus. Und das kann eng gefaßt auf den eigenen Mikrokosmos und darüber hinaus gehen. Alleine das Wissen von menschenverschuldeten Leid kann mir schonmal den Appetit verderben oder ein schlechtes Gewissen beim Verprassen von Energie. Nächstenliebe kann möglicherweise eng und weiter begriffen werden. Erzwungen werden kann sie aber m.E. nicht: Evtl löst das eher das Gegenteil aus.. mich störte oben die eher eng gefaßte Auffassung von Fürsorge, ich glaube es entwickelt sich eher ein global gefaßtes Gefühl und Verständnis dafür?
Freundliche Grüße